Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
11.12.2003. Freies Denken und freies Lieben um 1800 und 1968! Arno Widmann hat Bücher von Hazel Rosenstrauch, Charles Simmons, Dieter Zehentmair und Poplyriks vom Nachttisch geräumt.
Am Anfang schien alles noch offen

1785 wurde Karl August Varnhagen geboren. Er ist in die Literaturgeschichte eingegangen als der Mann, der Witwer und der Editor von Rahel Varnhagen. Ihr Erfinder könnte man mit einigem Recht auch sagen. Hazel Rosenstrauch, 1945 in London geborene Tochter jüdischer, kommunistischer Emigranten aus Wien, hat sich den Varnhagen vor Rahel angesehen, den jungen Mann also, der eintauchte in eine Gesellschaft, in der er eine Chance hatte, anders zu sein. "Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens. Eine Jugend um 1800" hat sie ihren biografischen Essay betitelt.

Rosenstrauch versteht es nicht nur, jenen kurzen Augenblick herauf zu beschwören, in dem es in Berlin fast ein Zusammenleben von Juden und Deutschen gegeben hätte, sie macht auch deutlich, wie er möglich wurde, und warum er keinen Bestand hatte. Es sind jene wenigen Jahre zwischen dem Ende der Jacobinerherrschaft und der Unterwerfung Preußens durch Napoleon. Das war ein Augenblick, in dem kaum mehr als zwei Dutzend Deutscher, französischer Emigranten und Juden wenigstens auf den paar Quadratmetern der drei, vier Berliner Salons eine Ahnung davon bekamen, was freies Denken und freies Lieben bedeuten könnte.

Hazel Rosenstrauch ist viel zu klug, um diesen Augenblick zu verklären. Sie weiß zu genau um die eng markierten Grenzen jenes Freiraums. Sie ist eine Meisterin des unschlagbaren Arguments. Zum Beispiel weist sie darauf hin, dass wer - wie zum Beispiel Madame de Stael - die jüdischen Salons nicht aufsuchte, zu völlig anderen Urteilen über den Charakter und die intellektuelle Kraft der Berliner Gesellschaft kam. Noch klarer ist Rosenstrauchs Hinweis darauf, dass einige Vertreter alter preußischer Adelsgeschlechter zwar gerne in die Salons der Hertz' und Varnhagens gingen, dass es ihnen aber kaum einmal einfiel, ihre Gastgeber zu sich nach Hause einzuladen.

Hazel Rosenstrauch macht auch deutlich, dass, was wir über jene Geselligkeiten wissen, vom alt gewordenen Varnhagen stammt. Es sind die Erinnerungen eines Mannes, der wenig hielt von jener Entdeckung des deutschen Wesens, das sich nach den "Befreiungskriegen" so vehement Gehör verschaffte. Varnhagen versenkte sich in seine Aufzeichnungen, um einer Gegenwart zu entgehen, die sich Jahr für Jahr weiter von jenen Vorstellungen von Gesellschaft entfernte, die er einst mit Freunden und Freundinnen nicht nur erdacht, sondern auch gelebt hatte.

Das Buch ist von einer heiteren Transparenz, wunderbar klar und einfach. Aber das Schönste an ihm ist, dass man an der einen oder anderen Stelle für einen kurzen Augenblick glaubt, der Autorin eine gewisse Melancholie anmerken zu können. Man spürt: Sie hört zwar nie auf, von Varnhagen zu sprechen, aber ist man erst einmal darauf gekommen, scheint in jedem Satz über ihn die Erinnerung an die eigene Jugend mitzuschwingen.

"Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens" ist eine neugierig machende Einführung in "eine Jugend um 1800". Darunter aber liegt für den, der das Palimpsest zu lesen versteht, eine Reflexion über eine Jugend um 1968, die auch glaubte, alles sei offen. "Die Deutschen", schreibt Hazel Rosenstrauch, "gibt es erst nach 1814, sie werden in den Kriegen gegen die 'korsische Geißel' (Börne) erst gemacht". "Die Deutschen" gab es auch nach 1945 nicht. Sie waren zerrieben worden, nachdem sie versucht hatten, alle anderen zu vernichten. Erst nach 1989 waren sie wieder da. Wir erleben gerade, wie sie sich neu situieren in einer neu sich orientierenden Welt. Hazel Rosenstrauchs Buch besieht sich unsere Gegenwart in einem fernen Spiegel. Die schaut nicht gut aus darin. Das liegt nicht am Spiegel.

Hazel Rosenstrauch: "Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens". Eine Jugend um 1800. Mit zahlreichen s/w Abbildungen, Verlag Das Arsenal, Berlin 2003, 223 Seiten, broschiert, 19,80 Euro.


Vorsicht Satire!

Charles Simmons' "Belles Lettres" ist eine Satire auf den Literaturbetrieb. Sie erschien 1987 in den USA, und man merkt ihr an, wie neu die Nähe zum Showbusiness dem Erzähler noch ist. Man könnte leicht sagen, es sei alles noch schlimmer geworden. Wir wissen inzwischen: Nichts schadet dem Erfolg einer literarischen Zeitschrift so sehr wie ihre literarische Qualität. Jedenfalls sehen das die Damen und Herren in den die Zeitschriften verlegenden Verlagen so. In vielen Fällen vertritt der Chefredakteur den gleichen Standpunkt. Er ist dazu da, die Interessen des Verlages in der und wenn nötig gegen die Redaktion zu vertreten. Er ist auch nur Chefredakteur, so lange er das tut.

Simmons' Satire ist - wie Satire fast immer - naiv. Sie hat etwas von einem Primanerscherz. Die aufgeweckten, schlauen Burschen stellen ihrem Chef eine Falle, und der muss gehen. Die Wahrheit aber ist: Kein Chefredakteur, der auf ein falsches Shakespeare-Sonett hereinfällt, muss gehen. Das sind die Phantasien von Menschen, die glauben, es ginge nach Können und Kenntnis. Ein Chefredakteur, der ein falsches von einem echten Shakespeare-Sonett unterscheiden könnte, hätte seinen Beruf verfehlt. Er sollte literarische Gutachten verfassen und die Führung einer Zeitschrift Leuten überlassen, die davon etwas verstehen. Mit anderen Worten Menschen, die es verstehen, den Verleger zu nehmen und Geld oder gar Anzeigen für die Zeitschrift zu besorgen.

Es ist rührend zu sehen, wie Simmons sich bemüht, die Inkompetenz von Chefredaktion und Verlag deutlich zu machen, wie viel Witz und Einbildungskraft er dafür mobilisiert. Dabei ist das jedem, der das Berufsleben kennt, nach zwei, drei Arbeitsplatzwechseln - also spätestens mit dreißig, fünfunddreißig - klar. Man merkt, wie behütet Charles Simmons literarisch aufwuchs, in welcher Idylle er sich über Jahrzehnte bewegt hat. Spätestens mit der deutschen Ausgabe seines Buches ist Simmons selbst in jener Ahnungslosigkeit angekommen, gegen die er sich mit dem Buch so verzweifelt wie beredt wendet.

Da werden zwei Sonette, eine verhältnismäßig leicht zu identifizierende Form, zu einem zusammengeschoben, und kein Lektor hat es gemerkt. Lässt man sich ein auf den Primaner-Ulk, ist das Buch großartig. Simmons ist schließlich ein wunderbarer Autor, und die Übersetzer haben ganze Arbeit geleistet.

Charles Simmons: "Belles Lettres". Roman. Aus dem Englischen von Klaus Modick, Übersetzung der Sonette: Ulrike Draesner. C.H. Beck Verlag, München 2003, 184 Seiten, 17,90 Euro. /


Worte ohne Lieder

Lothar Schirmer, Herr des Verlages Schirmer/Mosel, erfüllt die Träume der Kunst- und Fotografie-Liebhaber seit ein paar Jahrzehnten so perfekt, dass man davon ausging, es seien auch seine Träume. Jetzt hat er einen in der Aufmachung eher bescheidenen Band herausgegeben, mit dem er erklärtermaßen sich einen Traum erfüllt hat. Das Buch versammelt Songtexte. Einundfünfzig "pop lyrics" von Bill Haleys "Rock around the clock" (1955) bis zum "Hotel California" von den Eagels aus dem Jahre 1977. Der inzwischen auch - freilich hochelegant - in die Jahre gekommene Verleger, hat sich das Buch selbst machen müssen, nach dem er gesucht hatte. Er wollte wahrscheinlich - bevor er sie ganz vergisst - die Texte seiner Lieblingssongs schwarz auf weiß zusammentragen.

Die Beinahe-Generationsgenossin Elke Heidenreich hat ein Vorwort dazu geschrieben, das nach einem etwas angestrengten Einstieg bei Orpheus und Mozart schnell in jenen Ton intelligenter Schnoddrigkeit findet, der ihr Markenzeichen ist. "Tambourine Man" heißt der Band nach Bob Dylans "Mr. Tambourine Man". Aber natürlich sind auch die Doors drin und Frank Zappa. Selbst dem Ignoranten fällt auf, dass die Rolling Stones fehlen, während die Beatles mit "A Hard Day's Night", mit "Yesterday" und mit "Norwegian Wood" vertreten sind. Aber wäre es anders, hätte Lothar Schirmer sich keinen Traum erfüllt. Unter den englischen Originaltexten steht immer auch eine deutsche Übersetzung, und an dem einen oder dem anderen Foto fehlt es auch nicht. So ganz hat er nicht lassen können von dem, womit er uns Jahr für Jahr glücklich macht.

"Tambourine Man - Pop Lyrics". Songtexte der 60er und 70er Jahre. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. 60 Fotografien in Farbe. Schirmer/Mosel Verlag, München 2003, 160 Seiten, 24,80 Euro.


Alleingänger

Dieter Zehentmayr zeichnet jeden Tag auf der Meinungsseite der Berliner Zeitung einen politischen Cartoon. Es gibt in Deutschland nur an seltenen Tagen einen, der besser ist. Der österreichische Standard hat noch einen Zeichner, der es mit ihm aufnehmen kann. Aber das versteht sich fast von selbst, denn das ist auch Zehentmayr. Wer glaubt, ich sagte das, weil er mein Arbeitskollege ist, der täuscht sich. Ich sage es, weil ich es weiß. Ich weiß auch, dass er fast immer besser ist, als der unter ihm stehende Leitartikel. Man kann sich jetzt sehr schnell davon überzeugen und einen Blick in "Strich drunter" werfen, eine Auswahl von Zehentmayr-Cartoons aus den letzten sieben Jahren.

Es ist ein Vergnügen, darin zu blättern. Manche Figuren, die Zehentmayr mit besonderer Lust aufspießte, sind inzwischen verschwunden - Helmut Kohl und Oskar Lafontaine zum Beispiel. Aber man betrachtet die Cartoons immer noch gerne. Helmut Kohl, der vor den Wahlen 1998 seinen Hermelin übergezogen hat, die Hände über den Bauch faltet und sicherheitshalber die Königskrone mit einem um das Kinn geführten Lederriemen festhält, das ist sehr, sehr, sehr gut. Auch deswegen, weil die hochgezogene Unterlippe, die sich schützend über die Oberlippe legt, klarmacht: an mich kommt keiner.

Zehentmayr erzählt auch gerne Geschichten, dann besteht eine einzige Zeichnung aus bis zu sechs Bildern. "Wie Helmut Kohl im Alleingang die Wiedervereinigung schaffte" heißt der kleine Comic, der seine Komik allein daraus schöpft, dass er Kohls Selbststilisierung ernst nimmt und den unermüdlichen Kämpfer für die deutsche Einheit mit aller Liebe zum Detail in hübsche kleine vor lauter Biedermännischkeit ein wenig biedermeierlich wirkende Bildchen übersetzt.

Dieter Zehentmayr: "Strich drunter". Die besten Cartoons der letzten 7 Jahre. Verlag Carl Ueberreuter, Wien 2003, 24,95 Euro.