Vom Nachttisch geräumt

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
31.08.2004. Heute abend eröffnet in Berlin die Ausstellung "Schwarze Götter im Exil" mit Bildern des Fotografen und Ethnologen Pierre Verger. Er fotografierte die ersten Weltbürger der Moderne: die Sklaven aus Afrika. Dazu ist ein prächtiger Katalog erschienen. Außerdem vom Nachttisch geräumt: Ulrich Sinns "Das antike Olympia", Briefe der Malerin Angelica Kauffmann und Götz Alys Biografie der von den Nazis ermordeten Marion Samuel.
Weltbürger

Pierre Verger (1902-1996) war Fotograf und Ethnologe. Er beschäftigte sich vor allem mit den religiösen Kulten Brasiliens und Westafrikas. Seinem Lebenswerk ist eine Ausstellung im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem gewidmet. Der Titel lautet "Schwarze Götter im Exil". Zur Ausstellung ist ein prächtiger Katalog erschienen, der auch denen empfohlen sei, die die Gelegenheit nutzen, die Ausstellung zu sehen. Neben den 382 Schwarz-Weiß-Aufnahmen bringt der Band Texte von und über Verger und die von ihm fotografierten und beschriebenen Kulte.

In einem ausführlichen Interview aus dem Jahre 1991 schildert Verger sein Leben und denkt nach über seine Arbeit: "Man weiß nicht immer, was man aufnimmt, man spürt es, man macht das Foto, weil die Dinge sich so schnell abspielen, dass man nicht die Zeit hat, sie zu sehen. Das ist mir aufgegangen, als ich mich an der Herstellung eines Films beteiligte. Beim Schnitt wird manchmal das Bild auf dem Schneidetisch angehalten (im berühmten freeze frame), da fand ich das angehaltene Bild jedesmal viel interessanter als den Film, der gerade lief, denn der Film ließ mir nicht die Zeit zu sehen; doch wenn er stillstand, offenbarten sich lebens- und bedeutungsvolle Gesten, die von der Bewegung überdeckt worden waren, da sie mir keine Zeit ließ, sie zu sehen. In der Wirklichkeit ist es genauso, man hat nicht genügend Zeit, es läuft zu schnell ab. Was du siehst, wird drei Sekunden später durch einen anderen Eindruck ersetzt, der den ersten überdeckt. Die Fotografie hat den großen Vorteil, den Ablauf aufzuhalten... und einem etwas zu zeigen, was man sonst nur kurz erhascht und sofort wieder vergisst, weil ein neuer Eindruck den vorherigen auslöscht, und so geht es weiter, und er wird ganz vergessen..."

Nichts wäre also falscher als dieses Anhalten rückgängig zu machen, indem man den Band eilig durchblättert. Aber niemand wird das fertig bringen. Dazu sind Vergers Aufnahmen zu eindrücklich. Die Kleingangster in den Straßen von Salvador da Bahia lenken die Blicke des Betrachters so stolz auf sich, dass man selbst heute noch - fünfzig Jahre später - die Männer in ihren weißen Anzügen fasziniert betrachtet. Ein Stangengerüst an einer weißen Hauswand - man erinnert sich an die Experimente mit Fotogrammen. Dann wieder rückt Verger seinen Helden ganz nahe auf den Leib und sie werden schön, weil sie so real sind. Ein schwarzer Lastwagenfahrer, der sich aus dem Fenster seines Autos lehnt oder ein paar Jugendliche in den vierziger Jahren in Salvador da Bahia beim Breakdancen.

Am längsten verweilt man aber bei den Aufnahmen, von denen man sich zunächst angeekelt abgewendet hatte. Eine blutverschmierte Initiierte, die ein Huhn hält und an der Stelle, an der eine Minute zuvor noch der Kopf war trinkt und saugt. Dass das Tier noch nicht tot ist, sieht man daran, dass jemand ihm die Flügel an den Körper presst, um es am Davonflattern zu hindern. Das Foto ist Teil einer ganzen Serie, eines Filmes - freilich aus lauter "eingefrorenen Einstellungen" -, die den gesamten Ablauf einer Sitzung festhalten. Man bekommt eine Ahnung davon, wogegen die monotheistischen Religionen Sturm liefen und auch eine Ahnung von der Vergeblichkeit dieser Anstrengungen. Man wird Ausstellung und Katalog gerne abschieben ins Exotische. Aber es ist wahrscheinlich klüger, das dort ausgebreitete Material als Einblicke auch in unsere Zukunft zu sehen.

Die Welt, die Verger schilderte, war Vorreiter einer globalisierten Kultur. Die schwarzen, aus Afrika nach Brasilien verschleppten Sklaven schufen sich aus dem, was sie von afrikanischer, brasilianischer und europäischer Kultur kannten und brauchen konnten eine eigene. Sie waren die ersten wirklichen Weltbürger der Moderne. Auch dafür wurden sie von den "Autochthonen" aller Erdteile verachtet. Heute aber müssen wir sie als Avantgarde betrachten. Einer näher zusammenrückenden Welt könnten sie zeigen, wie man sich ändern kann, um der zu werden, der man ist.

Pierre Verger: "Schwarze Götter im Exil". Herausgegeben von Manfred Metzner und Michael M. Thoss. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2004. 352 Seiten, 382 s/w Abbildungen, Format: 28 x 32 cm, 49,90 Euro. ISBN: 3884232231.


Meister der Fäuste

Der Professor für Klassische Archäologie an der Universität Würzburg Ulrich Sinn hat ein schönes Buch über "Das antike Olympia" geschrieben. Es ist übersichtlich und klar. Man kann zusehen, wie man klüger wird bei der Lektüre. Hier aber nur ein Zitat aus dem reichen Band. Vom Vorsokratiker Xenophanes von Kolophon (580-478 v. Chr.) ist ein Gedicht überliefert, das wahrscheinlich die erste Schmähschrift eines Intellektuellen gegen die Sportlerverehrung, den Olympiataumel seiner Mitmenschen darstellt:

"Freilich, falls einer den Sieg mit den hurtigen Füßen erstreitet
Oder im fünffachen Kampf drüben im Haine des Zeus
Nahe dem Pisas-Quell in Olympia oder als Ringer
Oder auch weil er der Faust schmerzende Künste versteht,
Oder im schrecklichen Wrangeln, im Allkampf, wie sie ihn nennen:
Dem wird sein wachsender Ruhm hoch von den Bürgern bestaunt.
Auch ein Ehrenplatz ist, ganz vorne, beim Wettkampf ihm sicher,
Und mit Speise versieht reich ihn der Speicher der Stadt.
Gar eine Ehrengabe erhält er, ein währendes Kleinod,
Siegte auch bloß sein Gespann: Alles erringt dieser Mann,
Der doch nicht so viel wert ist wie ich! Denn besser als jede
Stärke von Mann und Pferd ist meine Weisheit und Kunst.
Wahrlich ein wenig erfreulicher Brauch, wenn Bürger zu Unrecht
Höher bewerten die Kraft als einen tüchtigen Geist.
Fände sich aber im Volk ein trefflicher Meister der Fäuste,
Einer im fünffachen Kampf, einer als Ringer bewährt,
Einer als Sieger im hurtigen Lauf (der immer den Vorrang
Unter den Künsten der Kraft männlicher Streiter genießt),
Wäre deswegen die Stadt gewiss nicht gerechter verwaltet;
Und nur geringen Genuss brächte ihr sicher der Sieg,
Den ein Bürger gewinnt im Wettstreit am Ufer des Pisas,
Dadurch füllen sich nicht, glaubt mir's, die Speicher der Stadt."

Seinen eigenen Namen hat Xenophanes, nicht zuletzt dank dieser vom Neid diktierten Attacke, über die letzten zweieinhalbtausend Jahre retten können. In der Sache aber hat er verloren. Von Anfang an.

Ulrich Sinn: "Das antike Olympia - Götter, Spiel und Kunst". C.H. Beck Verlag, München 2004. 276 Seiten, s/w Abbildungen, 29,90 Euro. ISBN 3406515584.


Fluchten

Wer die Essays von Friedrich Dieckmann schätzt, wer gespannt auf sein Schiller-Buch wartet, der sollte sich aufmachen und nach dem sich freilich versteckenden Erzähler Friedrich Dieckmann suchen. "Orpheus, eingeweiht" erschien 1983 in einer sehr hübschen Ausgabe im Buchverlag Der Morgen. Die Erzählung wurde - soweit ich sehe - nicht wieder aufgelegt. Das ist ein Fehler. Sie gehört einem einst sehr beliebten, inzwischen aber wohl gerade darum verfemten Genre an, dem der Künstlernovelle. "Orpheus, eingeweiht" ist ein nächtliches Gespräch zwischen den Freimaurern Wolfgang Amadeus Mozart und Karl Ludwig Giesecke, dem Autor und Dramaturgen. Es geht um den Figaro, die Zauberflöte und Titus, also um die Macht und die Kunst, das Volk und den Geist. Und eben darum geht auch um die DDR.

Man liest diese kleine Geschichte so gern, weil es Spaß macht, ihre Ober- und Untertöne mitzuhören und mitzudenken. Gleichzeitig aber wird einem, darin liegt die Kunst dieser Erzählung, klar, dass das Spiel seine eigenen Gesetze hat, dass es nicht aufgeht in seinem Bezug zur Dieckmannschen Gegenwart. Nicht alles ist Anspielung. Aber doch das Ganze. "Orpheus, eingeweiht" ist das Produkt einer durch Despotie angestachelten Intelligenz, die sich und die Wirklichkeit ihrer eigenen Zeit wiedererkennt in einer längst in die Klassik abgeschobenen Vergangenheit.

Diese Projektion rückt das Vergangene näher, lässt es deutlicher werden und sie gibt der Gegenwart ein Gewicht, eine Bedeutung, die einem ermöglicht, sich ihr viel gründlicher zu widmen. Zunächst nämlich ist die Gegenwart nichts als alltäglich, langweilig, da zu vertraut. Weil man alles schon zu kennen glaubt, erkennt man nichts mehr. Die scheinbare Flucht in die Vergangenheit aber katapultiert Erzähler und Leser mit unwiderstehlicher Wucht in ihre Gegenwart. Die ist inzwischen freilich auch vergangen. Aber die Erzählung hat darunter nicht gelitten. Sie hat etwas Patina angesetzt, ist klassisch geworden. Also ein Fall für Horst Lauinger. Er ist der Chef des Manesse-Verlages und wenn er so klug ist, wie man es von einem Herrn in seinem Amte erwarten darf, dann bringt er Friedrich Dieckmanns "Orpheus, eingeweiht" in der Manesse-Bücherei heraus. Als ein Lockmittel, das Lust macht auf die Kunst der vielfachen Schriftauslegung.

Friedrich Dieckmann: "Orpheus, eingeweiht". Buchverlag Der Morgen, Berlin 1983 (Zur Suche beim Zentralverzeichnis Antiquarischer Bücher)


Gelt und Rath

Angelica Kauffmann (1741-1807) war eine der geschätztesten Malerinnen ihrer Zeit (Bilder). Die in Chur in der Schweiz geborene Tochter eines Malers zog mit 25 nach London. 1782 verließ sie die Stadt und ging nach Rom. Dort blieb sie bis zu ihrem Tode. Dazwischen liegen Reisen durch halb Europa. Sie wohnte bei ihren Auftraggebern, porträtierte sie oder ihren Besitz. Jetzt liegen - soweit bekannt - fast alle Briefe der auch von Goethe (Kauffmanns Bild) verehrten Frau in einem schönen von Waltraud Maierhofer herausgegebenen Band vor. Sie sind abgedruckt wie Angelica Kauffmann sie schrieb. Mit allen Unsicherheiten der Orthografie und der Grammatik. In deutsch, englisch, französisch und italienisch.

Auch wer diese Sprachen halbwegs lesen kann, braucht ein wenig Zeit, bis er mit Angelica Kauffmanns Schreibweise, Rede- und Denkstil vertraut ist, aber dann macht es Spaß sie zu lesen, denn man bekommt eine Welt zu sehen, die in den geglätteten Geschichtsbüchern nicht zu finden ist. Man begreift zum Beispiel, was Familie damals bedeutete, was sie aber heute - in den meisten Ländern der Welt - noch immer bedeutet. Das sind Verbände, die möglichst viele auf die Lebensbahn setzen, in der Hoffnung, dass wenigstens einer von ihnen es schafft. An den hängt sich dann der Clan, und er versucht jedem zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen. Bei dem einen geht es schnell, bei dem anderen dauert es sehr lange. Manche lassen sich lieber durchfüttern, und dann muss die ferne Ernährerin ein Machtwort sprechen und ihrem Bankier, der die Starthilfen bei der in der Heimat gebliebenen Familie verteilt, mitteilen: "Joseph Antoni hat mich gelt gekostet ohne ein einzigen nuzzen. kein handtwerk will er nicht lernen zu einer kunst ist kein gedanken daß ich ihn wieder zu mihr nehme gar keine hoffnung, die gedult habe ich verlohren im müssig gang will ich ihn nicht erhalten. folglich muss er sich bald entschliessen durch die welt zu kommen wie viel andere thun müssen ich habe das meinige gethan mit gelt und Rath der nichts genutzt."

Wer diese Zeilen liest, dem wird ganz nebenbei klar, wie völlig verrückt unsere Rechtschreibreform-Debatte den Autoren um 1800 vorgekommen wäre. So exakt wie wir - die eine Partei wie die andere - heute glauben uns festlegen zu müssen, so genau nahm es damals niemand. In keiner Sprache. In einem Brief an die Witwe Gaetano Filangieris, des berühmten Staatsrechtlers, der mit Benjamin Franklin just zu dem Zeitpunkt, da Goethe ihn besuchte, darüber korrespondierte, wie die amerikanische Verfassung auszusehen hätte, erklärt Angelica Kauffmann, dass sie den Wechsel erhalten habe für den Stich nach ihrem Porträt des verstorbenen Gatten. Sie warnt allerdings die Witwe, sie solle nicht darauf hoffen, die Kunst vermöchte ihr eine ähnlich genaue Idee von dem geliebten Objekt vermitteln, wie die, die in ihren Geist sich eingepresst habe. Angelica Kauffmann kannte ihre Kunden und sie wusste sie zu nehmen und einzunehmen.

Es gibt auch Briefe an berühmte Freunde wie Antonio Canova und Emma Hamilton. Zu den ausführlichsten zählen die an Goethe. Und einer der ergreifendsten ist der vom 10. Mai 1788, den sie Goethe, der Rom verlassen hat, nachschickt und in dem sie ihm schreibt, wie öde ihr die Tage - die Sonntage um präzise zu sein - ohne ihn erscheinen. Ein paar Wochen und ein paar Briefe später erklärt sie ihm: "ich bin nur beredsam wan ich von Ihnen sprechen kan und sehe nur gerne die Ihnen libhaben." Es wäre schön, man könnte es so halten in seinem Leben.

Angelica Kauffmann: "Mir träumte vor ein paar Nächten, ich hätte Briefe von Ihnen empfangen" - Gesammelte Briefe in den Originalsprachen, (liebevoll und reich annotiert mit einem gründlichen Namenregister und Werkverzeichnis). Herausgegeben von Waltraud Maierhofer, Libelle Verlag, CH 8574 Lengwil 2001. 547 Seiten mit s/W Abbildungen, 45 Euro. ISBN 3909081886.


Spurensuche

Als Götz Aly im November 2002 mitgeteilt wurde, er solle den Marion-Samuel-Preis erhalten, wusste er nicht, dass Marion Samuel 1943 im Alter von zwölf Jahren vergast worden war. Niemand wusste das. Der Historiker - ganz ohne Zweifel einer der besten Erforscher des Nationalsozialismus, aber ohne Lehrstuhl, ja ohne festes akademisches Engagement überhaupt - nahm das als eine - wenn man so sagen darf - sportliche Herausforderung und begann den spärlichen Lebensspuren der Marion Samuel nachzugehen.

Natürlich beeindruckt den Leser die Hartnäckigkeit des Forschers und seine kluge und immer klüger gewordene Spürnase. Er bewundert die Sicherheit, mit der Aly kleinen Andeutungen entnimmt, wo er weitersuchen muss. Er freut sich mit Aly über den Kleiderbügel aus der Firma von Marions Großvater in Arnswalde. Er folgt Aly und liest Zeile für Zeile die 16seitige Vermögenserklärung, die Marions Vater Ernst Samuel nach seiner Verhaftung am 28. Februar 1943 ausfüllen musste. Die pedantische Beharrlichkeit, mit der einem Menschen, den umzubringen beschlossene Sache ist, auch der letzte Pfennig noch abgepresst wird, löst heute noch hilflose Wut aus.

Götz Aly ist Autor. Die Zärtlichkeit, die der Leser für das kleine Mädchen mit der großen Schleife im Haar empfindet, ist sein Werk. Auch hartgesottene Leser kämpfen gegen aufkommende Tränen an, wenn Marions Cousin, ein siebzig Jahre alter Mann, der seit mehr als 55 Jahren in den USA lebt, der kein deutsch mehr kann, mit einer Cousine von Marion, die in Deutschland überlebt hat, spricht und Aly schreibt: "Am Telefon - sehr langsam, fast akzentfrei - fand Fred Samuel wieder eine Reihe deutscher Wörter." Das ist ein Moment des Glücks. Aber Aly erzeugt diese Augenblicke nicht mit schönen Sätzen, aus denen die raffiniert gesetzten Adjektive direkt in unsere Nervenbahn geschleudert werden. Er legt Beweise vor, konfrontiert uns mit Aufstellungen und Listen im schäbigsten Amtsdeutsch. Aber er legt sie uns vor, nachdem er uns empfindlich gemacht hat für ihre Brutalität, für ihre gemütliche Gemeinheit. Die Quellen sprechen, weil er ihnen die Zungen gelöst, weil er uns hellhörig für ihr Gestammel gemacht hat.
Dafür danken wir ihm.

Götz Aly: "Im Tunnel - Das kurze Leben der Marion Samuel 1931-1943". (Eine Leseprobe finden Sie hier.) Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2004. 159 Seiten mit zahlreichen s/w Abbildungen, 7,90 Euro. ISBN 3596163641.