Vom Nachttisch geräumt

Die Aura der Wahrhaftigkeit

Von Arno Widmann
17.07.2015. Oder nur der Schein? Schwarz-weiße Porträtfotos von u.a. Kate Moss, Charlotte Rampling, Nina Hoss, Juliette Binoche in Peter Lindberghs "Images of Women II. 2005 - 2014".
Werner Spies hat das Vorwort geschrieben, Wim Wenders eine Meditation über Lindberghs Porträts und Peter Handke eine Flucht vor Lindbergh beigesteuert. Kluge Leute, die hinschauen, beschreiben, analysieren und preisen können. Wim Wenders" Text ist großartig. Er geht aus von einem Kate Moss Porträt, attestiert ihm Wahrhaftigkeit und kann das noch toppen. Denn Peter Lindbergh hat auch Wim Wenders" Frau, die Fotografin Donata, porträtiert und hat in ihrem Gesicht Dinge - nein, keine Dinge, sondern etwas - gesehen, das Wim Wenders noch nie sah, das sie ihm - so schreibt er - nicht gezeigt hatte. Wenders weist dann hin auf die wenigen Männerporträts in dem Band und stellt fest: Sie zeigen das nicht. Er hat bei ihnen nicht das Gefühl, das er beim Porträt von Kate Moss hatte, die ihm zu sagen schien: "Das hier bin ich".


Kate Moss, St. Barth, 2007. Photo: Peter Lindbergh. Aus dem Band "Images of Women II", Schirmer und Mosel Verlag

Ich sehe das auch. Bei dem Kate Moss Foto, aber bei den meisten der anderen sehe ich es nicht. Auch nicht bei Donata Wenders. Ich sehe gerade kein Ich, sondern immer wieder dieselben Gesichter, die alle wahrhaftig tun, denn man hat ihnen die Haut-Unebenheiten nicht überschminkt. Fast alle blicken ungeschützt aus einem tiefen Dunkel in die Kamera. Das gibt den erhellten Gesichtern eine Kraft, die sie in einem gut ausgeleuchteten Restaurant nicht hätten, es täuscht auch eine Intimität vor, eine Nähe also, die den Betrachter einnimmt. Unsexuell, aber sehr erotisch. Der Betrachter wird aus seinem Genderblick geworfen. Als erstes sieht er das angenehme Gesicht und erst dann, dass es eine Frau ist. Genau das aber bestärkt den Genderblick. Jetzt weiß er, dass er nicht auf Transvestiten hereingefallen ist. Bei den Männer-Porträts funktioniert dieser Mechanismus nicht. Es findet keine Verschiebung, keine Transformation statt. Jedenfalls nicht in meinem Kopf. Das ist kein Argument gegen die, die etwas dort sehen, sondern nur ein Hinweis auf meine Sichtbehinderung.

Wahrhaftig fiele mir nicht ein bei diesen Porträts. Sie sind mir zu inszeniert dafür. Wim Wenders spricht dann auch von der Aura der Wahrhaftigkeit. Ich finde, das heißt nichts anderes als dass die Bilder zwar den Schein der Wahrhaftigkeit haben, es aber nicht sind. Es ist ein Trick. Unmöglich, dass Wenders auf ihn hereinfällt. Ich muss hier etwas völlig falsch sehen. Als befreiend wahrhaftig empfand ich Peter Lindberghs Fotos, als er in ganz normalen Modestrecken in den einschlägigen Magazinen Modells über die Straße, am Strand entlang gehen ließ, die sich zu bewegen schienen wie die jungen Frauen, die ich manchmal vom Straßenrand aus beobachtete, wenn sie zwischen zwei Autos dem rettenden Trottoir zu eilten.

Ich kann mich genau an die Szenen erinnern. Ich habe allerdings den Verdacht, dass Lindbergh mir nicht zeigte, was ich gesehen hatte, sondern dass seine Fotos mir die Augen öffneten, für das, was ich all die Jahre schon hätte sehen können, aber ohne seinen Blick nicht erkannte. Er hat mit diesen Fotos mein Leben schöner gemacht. Ich brauche sie allerdings nicht mehr, denn Lindbergh hat mir das Sehen beigebracht. Vielleicht wird es mir irgendwann mit diesem Band auch so gehen. Aber noch bin ich blind für diese andere "Wahrhaftigkeit".

Peter Lindbergh: Images of Women II - 2005 - 2014, Schirmer/Mosel, München 2014, 296 Seiten, 158 Tafeln in Farbe und Duotone. Format: 26 x 38,5 cm, gebunden. Deutsch/englische Ausgabe, 78 Euro.