Vom Nachttisch geräumt

Von Vernichtung zum Leben

Von Arno Widmann
17.07.2015. Folgt Goethe von der Auflösung in die Verfestigung und wieder zurück: Albrecht Schönes "Der Briefschreiber Goethe".
Heute, am 17. Juli, wird Albrecht Schöne 90 Jahre alt. Im März erschien sein neuestes Buch. 539 Seiten über Goethes Briefe. Albrecht Schöne hat der Nachkriegsgeneration den Zugang zur Barockliteratur eröffnet, sein Kommentar zu Goethes Faust ist nicht nur das Kenntnisreichste, sondern womöglich auch das Klügste, was man darüber lesen kann. Wenn man sein Leben nicht so verdödelt hätte, hätte man bei Albrecht Schöne in Göttingen lesen lernen können.

Auf Seite 194 das Bild des Sterbezimmers Goethes. Es ist klein, sehr klein. Neben dem hoch aufgebockten Bett ein Lehnstuhl, vor dem ein Fußschemel. Das Bett ist gemacht. Goethe ist tot. Fast 15.000 Briefe sind von Goethe erhalten. Albrecht Schönes Buch bringt "neun Fallstudien, die sich jeweils mit nur einem einzigen" beschäftigen. Der letzte ist dem letzten Brief gewidmet. Der wurde am 17. März 1832 geschrieben. An Wilhelm von Humboldt. Es ist ein großer Brief. Goethe schrieb ihn fünf Tage vor seinem Tode. In dem Bewusstsein, dass es wohl die letzte Chance war, noch einmal auf etwas zu sprechen zu kommen, das ihn sein ganzes Laben lang beschäftigt hatte. Ein paar Monate zuvor hatte Goethe am 22. Juli 1831 in seinem Tagebuch notiert: "Das Hauptgeschäft zu Stande gebracht". Faust II. war abgeschlossen. Im Juni schon hatte er, den Abschluss seines Lebenswerkes vor Augen, Eckermann erklärt: "Mein ferneres Leben kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen, und es ist jetzt im Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa tue."

Goethes letzter Brief hat keine Anrede. Schöne weist darauf hin, dass Goethe bei eng vertrauten Adressaten gerne so verfuhr. Er fing sofort an, keine Förmlichkeiten: "Nach einer langen unwillkürlichen Pause beginne folgendermaßen und doch nur aus dem Stegreife." Schöne weist darauf hin, dass diesem Satz das Subjekt, Goethes Ich, fehlt. Goethe habe diesen, wie Jean Paul es nannte, "grammatischen Selbstmord" nicht begangen, um den Konventionen seiner Zeit Gehorsam zu sein, die einem Briefschreiber vorschrieben, das Ich wegzulassen. Schöne erläutert: "Die im "ich" sich mitteilende Identität des Schreibenden oder diktierend Sprechenden mit der von ihm beschriebenen oder besprochenen Person löst sich auf. Der da Abstand, fast könnte man sagen Abschied nimmt von sich selbst, hatte nur wenig früher und eben an Humboldt geschrieben, dass ihm in seinen hohen Jahren "alles mehr und mehr historisch" werde, ja dass er sich selbst "immer mehr und mehr geschichtlich" erscheine. Goethes Angabe hier, er beginne folgendermaßen, ist der Sache nach völlig überflüssig. Als eine zu Protokoll genommene Selbstbeobachtung aber gibt sie zu verstehen, dass er über sich selber berichtet wie über einen anderen, dritten."

Alles hat eine Bedeutung für den, der zu lesen versteht. Albrecht Schöne schließt den gerade mal siebzig Zeilen kurzen Brief Satz für Satz. Da der Leser schon 350 Seiten hinter sich hat, erinnert er sich daran, dass Schöne an anderer Stelle darauf hinweist, dass Goethe immer (auch) mit seinem Nachnamen unterschrieb. Das im Text getilgte Ich trumpfte am Ende immer noch mal auf. Diesen letzten Brief unterschrieb er mit JWvGoethe. Der volle Name. "Ich habe Dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein", sagt Gott beim Propheten Jesaja. Goethe ruft sich selbst bei seinem Namen, so vergewissert er sich seiner selbst, seiner Individualität. Das höchste Glück der Erdenkinder sei die Persönlichkeit, schreibt Goethe im West-Östlichen Diwan. Allerdings nur, um diesen Gedanken bei Seite zu wischen. Zugunsten dieser Überlegung: "Im Grenzenlosen sich zu finden, wird gern der einzelne verschwinden". Es ist diese Spannung, die sich zwischen dem fehlenden Ich und der Unterzeichnung mit dem vollen Namen ausdrückt. Der Einzelne findet sich, in dem er verschwindet. Um genau diese Dialektik geht es auch im letzten Brief Goethes.

"Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt sich alles zuzueignen weiß ohne dass es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag thue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige." Das Eigene wird durch die Aufnahme von möglichst viel anderem nicht geschwächt, sondern gefördert. Es lebt nicht davon, dass es sich gegen die anstürmenden Eindrücke absperrt. Nicht das sich öffnende Ich geht verloren, sondern das sich einmauernde. Goethe schreibt weiter im Brief: "Verwirrende Lehre zu verwirrenden Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun als dasjenige was an mir ist und geblieben ist, womöglich zu steigern, und, meine Eigenthümlichkeiten zu cohobiren…" Schöne erklärt uns den alchemistischen Terminus, der zunächst nichts anderes meint als die einem Stoff durch Destillation entzogene Flüssigkeit wieder zuzuführen. In diesem Prozess der immer wieder entzogenen und immer wieder hinzugefügten Feuchtigkeit verändert sich der Stoff. Goethe sah darin einen Vorgang der Veredelung, einer fortwährenden Metamorphose, in der Auflösung und Verfestigung einander ablösten. In einer Abhandlung des Jahres 1820 bezeichnete Goethe diese Absonderungen als "Symptome einer unaufhaltsam vorschreitenden, von Leben zu Leben, ja durch Vernichtung zum Leben hineilenden Organisation".

Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe, Verlag C. H. Beck, München 2015, 539 Seiten, s/w Abbildungen, 29,95 Euro.