Vom Nachttisch geräumt

Rosa angehauchte Wolkenstreifen

Von Arno Widmann
15.02.2016. Eignet sich die Welt an, preist sie und verwirft sie: Die japanische Hofdame Sei Shonagon in ihrem "Kopfkissenbuch".
Fangen Sie vorne an! Beginnen Sie nicht mit dem Nachwort! Lesen Sie: "Im Frühling liebe ich die Morgendämmerung, wenn das Licht allmählich wiederkehrt. Die Umrisse der Berge sich schwach vor dem hellen Himmel abzeichnen und schmale, rosa angehauchte Wolkenstreifen über sie hinwegziehen." Weiter zählt die Autorin auf, was sie im Sommer, im Herbst, im Winter liebt. Der letzte Satz dieser Aufzählungen über das, was sie in den Jahreszeiten liebt, endet mit der Beobachtung, wie die Glut im Holzbecken zu weißer Asche zerfällt, "was freilich nicht sonderlich schön aussieht". Aber auch diese weiße Asche wird geliebt. Es macht auch nichts, dass die Schönheit des Morgenlichts endet in der Asche. Man muss nicht dazu sagen, dass die Asche nicht das letzte Wort ist. Sie verbreitet eine bitter-süße Melancholie. Mehr nicht. Denn die Autorin und der Leser wissen: Es kommt ein nächster Frühling. Manche freilich werden ihn nicht mehr erleben. Für sie war die Asche das Ende. Das ist der kleine Bogen, den die Autorin über gerade mal 22 Zeilen spannt. Dann geht es schon weiter zur nächsten Aufzählung: die Monate.

Sei Shonagon liebte Listen. Sie notierte, welche Baumblüten ihr warum gefielen, "Frustrierendes" oder auch "Was bei Langeweile Zerstreuung bringt." Manchmal genügt es ihr, einfach die Namen von Inseln, Stränden, von Buddha-Statuen, von Wäldern aufzuzählen. Dann wieder beschreibt sie die Wirkung, die unterschiedliche Flöten auf sie haben. Die ganze Welt wird inspiziert und in gut und schlecht, schicklich und unschicklich, in schön und unschön zerlegt. Keine Sekunde denkt die Autorin, ihre Urteile sollten ein allgemeines Gesetz werden. Sie sind ganz und gar subjektiv. Das Subjekt ist hier nicht dazu da, die Welt zu verstehen. Die Welt ist der Spiegel, in dem das Subjekt sich - immer wieder verblüfft - betrachtet.

"Die Welt" habe ich gesagt. Das ist falsch. Es gibt keine Welt in diesen Texten. Es gibt sie nicht als die eine. Das eben macht den Reiz der Texte aus. Es gibt kein Allgemeines, das einem sagen könnte, was auf einen zukommt, wenn man etwas Einzelnes betrachtet. Die Dinge, die Stimmungen stehen in keinem Zusammenhang. Sie existieren neben einander, berührungslos. Das einzige, das die verschiedenen Dinge zusammenbringt, ist das sie betrachtende Subjekt, das sie dann in verschiedene Listen einträgt. Auch die stehen in keinem systematischen Zusammenhang.



Unter der Überschrift "Was von Leiden kündet" vermerkt Sei Shonagon, "wenn jemand, dem die Nase läuft, beim Sprechen immerfort die Nase hochzieht. Ein Gesicht während des Auszupfens der Augenbrauen." Eine folterfreie Zone der Weltgeschichte? Eine Nische, in der sich keine drastischeren Augenblicke des Schreckens beobachten ließen? Wenn der Leser beginnt, sich diese Fragen zu stellen, dann ist es Zeit für das Nachwort. Sei Skonagon war eine Hofdame. Sie kam um 966 zur Welt, wurde 992 Mutter und trat kurz darauf in den Dienst der Kaiserin Sadako, die um die zwanzig Jahre alt, also älter als Kaiser Ichijo (980 - 1011) war.

Mit sechs Jahren war Ichijo Kaiser geworden. Er hatte zwei kaiserliche Gattinnen. Sadako, an deren Hof Sei Shonagon, die Autorin des Kopfkissenbuches lebte, war die eine. Die andere hieß Shoshi. Sie zählte Murasaki Shikibu zu ihren Hofdamen. Murasaki (973/978 - c. 1014/1031) ist die Autorin eines der großartigsten Romane der Weltliteratur, der "Geschichte vom Prinzen Genji" (in einer vollständigen Übersetzung - fast 1900 Seiten - ebenfalls bei Manesse zu haben). Am Anfang der japanischen Literatur stehen Frauen. Hofdamen, die unterhalten wollen. Die Jahre des Kaisers Ichijo waren die einer Literatur- und Kunstblüte, wie sie nur wenige andere Epochen der Weltgeschichte gekannt haben. Es waren politisch - wie die italienische Renaissance oder das Griechenland des 5. und 4. Jahrhundert v. u. Z. - keine ruhigen Zeiten. Es gab viel, das auch damals "vom Leiden kündete". Aber der Hof war ein Ort, von dem das ferngehalten werden sollte. Der Hof ist der Versuch, Herrscher und Entourage ein Paradies zu bauen. Die Verwaltung der Welt jenseits der den Hof einfriedenden Mauern war mächtigen Clans übertragen. So sehr, dass man sich fragen kann, ob nicht die sich den Kaiser hielten statt umgekehrt.

Zurück zu Sei Shonagons "Kopfkissenbuch". Der Abschnitt über "Unpassendes" beginnt mit den Sätzen: "Unpassend ist es, wenn Schnee auf die Hütten niederen Volkes fällt, und um das Mondlicht, das bei ihnen hineinscheint, ist es auch zu schade." Die Welt ist in den Augen der Hofdame sehr unschicklich eingerichtet. Das Schönste wird einfach jedem geschenkt. Vielleicht wendet sich Sei Shonagon gegen jene Weltsicht, die in einer japanischen Redensart so formuliert wird: "Frischer Schnee verwandelt selbst armselige Hütten in glitzernde Paläste." Im Deutschen sagt man vorwurfsvoll von der Sonne, sie scheine über Gerechte und Ungerechte. Das geht zurück auf einen ganz anders gemeinten Passus in der Bergpredigt. Dort erklärt Jesus: "Der Vater im Himmel lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte." Es geht gerade nicht nach Verdienst, nach moralischer oder finanzieller Stärke. Sei Shonagon beklagt das.

Der Abschnitt über "Unpassendes" ist besonders interessant. Ältere Frauen sollen nichts haben mit jungen Männern. Ältere Männer sollen nicht schläfrig sein oder an Kastanien herummümmeln. Es geht um Ästhetik. Um eine durchregulierte Vorstellung von schön und hässlich. Von Letzterem will Sei Shonagon nicht behelligt werden. Kein Raum für das Hässliche! Das ist unmenschlich, sagen wir. Für sie und die anderen Damen des Hofstaates - und wohl auch für viele Herren dort - machte aber genau das Fernhalten des Hässlichen ihre Menschlichkeit aus. Wir kennen das auch aus unserer Tradition. Immer wieder. Und immer wieder kommt ein Brueghel, der die Schönheit gerade im Schnee auf den Hütten der Armen sieht. Eine Ästhetik, die nur eine des Schönen ist, verrät auch das. Sei Shonagons "Kopfkissenbuch" markiert einen Bruch mit der überkommenden literarischen Schönheit. Das Erhabene, das große Gefühl, die philosophische, die religiöse Emphase ist ihr fremd. Sie entdeckt und sie preist die Schönheit, die sie in ihrem Alltag entdeckt. Sie nennt sie oft mehr, als dass sie sie beschreibt. Die Dinge stehen für sich. Es werden nicht Adjektive angehäuft, um ihnen ein Podest zu bauen.

Es gibt in Europa zu jener Zeit nichts Vergleichbares. Es gab Heldenlieder und Bibelübersetzungen, fromme Gesänge und Rätselsprüche. Aber es gab auf dem ganzen Kontinent keinen Autor wie Sei Shonagon. Kein Ich, das so entschieden die Welt sich aneignete und pries und verwarf.

Sei Shonagon: Kopfkissenbuch, erstmals vollständig aus dem Japanischen übersetzt und neu herausgegeben von Michael Stein. Mit ausführlicher Kommentierung, Personenverzeichnis, Glossar, Nachwort und editorischer Notiz, Manesse, Zürich 2015, 383 Seiten, 59,95 Euro. Buch bestellen bei buecher.de.