Vom Nachttisch geräumt

Krallen, Knie und Vagina

Von Arno Widmann
03.02.2016. Ein backstein- schweres Kaleidoskop künstlerischer Darstellungen des Körpers in der Menschheits- geschichte: der von Jennifer Blessing zusammengestellte Band "Body of Art".
Dass das ein prachtvoller Band ist, merken Sie, bevor Sie auch nur einen Blick hinein geworfen haben. Sie müssen ihn nur hochheben. Wer Rückenprobleme hat, wird schon dabei seine Schwierigkeiten haben. 3,1 Kilo nimmt man nicht einfach mal so in die Hand. 439 Hochglanzseiten mit 440 meist farbigen Abbildungen. "Body of Art" heißt das Buch. Es ist ein Ritt durch die "künstlerischen" Darstellungen des Körpers in der Menschheitsgeschichte. "Künstlerisch" ist eine willkürliche Einschränkung. Denn in Wahrheit lässt sich die Grenze zur wissenschaftlichen Abbildung nicht ziehen. Aber man vergisst seine Einwände schnell, denn es blättert sich wunderbar in dem schweren Band. Das hat einen einfachen Grund: Er folgt weder einer Chronologie, noch einer Länderfolge, noch sonst einer vertrauten Systematik. Der Betrachter hat, blättert er um, definitiv keine Ahnung, was auf der nächsten Seite kommen wird. So treibt einen schon die Neugierde weiter.


Venus von Willendorf, Kritios Knabe, Vanessa Beecrofts VB46, Abb. aus dem Buch

Gleich zu Beginn gibt es eine Doppelseite, auf der stehen einander gegenüber: die Venus von Willendorf (24 000 v.u.Z.), der dem Bildhauer Kritios zugeschriebene Knabe aus dem Athen des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung und Vanessa Beecrofts Frauengruppe VB46 aus dem Jahre 2001. Blättert man um, stehen einander gegenüber Manets Olympia von 1863 und die Arbeit des Japaners Yasumasa Morimura aus dem Jahre 1988, in der er selbst die Rolle der Olympia spielt. Die beiden Doppelseiten gehören in das "Beauty" überschriebene erste Kapitel des Buches. Die die Abbildungen begleitenden kurzen Texte versuchen mal die Konfrontation zu erklären, mal sind sie ganz damit beschäftigt, das einzelne Werk zu beschreiben. Oft sind sie wenig hilfreich oder völlig unsinnig. Zum Beispiel fehlt bei der Beschreibung von Vanessa Beecrofts Frauen-Performance der Hinweis auf Helmut Newtons Big Nudes aus dem Jahre 1980. Dabei ist die Performance ganz wesentlich auch ein Mittel, die Fotografie zum Leben zu erwecken. Man schüttelt auch den Kopf, wenn man liest, dass die Haltungen der Frauen zu "hart und mathematisch" wären "um erotisch zu sein". Die Erotik scheint mir dann doch ein wesentlich vielgestaltigeres Terrain zu sein, als Jennifer Blessing es sieht. Mich wundert das. Blessing lehrt an der Yale University und sie ist Kuratorin der fotografischen Abteilung des Salomon R. Guggenheim Museums in New York. Aber vielleicht stammen die Texte zu den einzelnen Abbildungen nicht von ihr. Vielleicht hat sie nur das Vorwort - "The Cycle of bodily Life" - zum Band geschrieben. Bei Büchern dieser Art geht leider häufig so viel Kraft, Geld und Energie für die Beschaffung und die Druckqualität der Abbildungen drauf, dass gerne mal am Text gespart wird. Die anregendste Montage hilft nichts, wenn der Text den Leser wieder dumm macht.

Die einzelnen Kunstwerke werden in zehn Kategorien sortiert. Zum Beispiel: Beauty, Identity, Power oder "The absent Body". Was in welche Kategorie fällt, ist natürlich weitgehend beliebig. Ich kritisiere das nicht. Im Gegenteil. Der Betrachter wird eingeladen, seine eigene Zusammenstellung zu machen. Es gibt hier so wenig ein richtig, wie es ein falsch gibt. Das erhöht die Aufmerksamkeit des Lesers. Er wird angeregt, selbst über die Komposition des Buches nachzudenken. Er wird aktiv. Wäre er reich, er würde ein Dutzend Exemplare des Buches kaufen und sich mit Hilfe einer Schere aus dem Material ein neues Buch zusammenstellen. Oder zwei oder drei. Bei dieser Arbeit würde ihm klar, dass die Art, wie er die Welt einteilt, mindestens eben so willkürlich ist wie Jennifer Blessings Katalog der Körperdarstellungen. Er würde - erst einmal nur im Kopf - damit beginnen, sich die Welt neu zurechtzuschneiden. Wen das erschreckt, der kann auch den vertrauten chronologischen Weg gehen. Auf den Seiten 414 bis 429 hat er die Möglichkeit, an ausgewählten Werken die Weltkunstgeschichte von 24 000 v.u.Z. bis 2015 entlang zu schlendern. Die Texte beziehen alles mit ein, was für eine Geschichte des Bildes wichtig ist. Also auch den Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar 2015. Oder auch den Fund im selben Jahr: Adlerkrallen, die vor 130 000 Jahren Neandertalern als Schmuck gedient haben sollen.


Yasumasa Morimura, Portrait (Futago), 1988, San Francisco Museum of Modern Art

Anregend ist natürlich auch, dass sich berühmte, vielleicht gar zu berühmte Werke, ablösen mit weitgehend unbekannten. Judy Chicagos Dinnerparty von 1974 oder Hans Baldung Griens "Frau und Tod" von 1518 neben der hölzernen nackten weiblichen Giebelfigur eines Männerhauses in Mikronesien. Courbets "Ursprung der Welt" (1866) ganz in der Nähe einer Aufnahme von Carolee Schneemanns Performance von 1975, "Interior Scroll", bei der die nackte Künstlerin einen schmalen beschrifteten Streifen aus ihrer Vagina zog und den Besuchern vorlas. Es waren wohl Auszüge aus ihrem Buch: "Cezanne: She was a Great Painter". Wir befinden uns in der Gründungsperiode der feministischen Kunst der Neuen Frauenbewegung.

Es gibt wahrscheinlich kaum eine Epoche, die nicht vorkommt. Manches macht uns klar, wie jung Europa ist. Eine Felsmalerei in Sri Lanka aus dem 5. Jahrhundert zum Beispiel zeigt großbusige junge Frauen. So bekam man sie im christlichen Abendland erst wieder 1000 Jahre später zu sehen. Auf der Doppelseite davor sieht man - leider nicht so strahlend wie im Original - eine Installation von Kader Attia aus dem Jahre 2007. Der Künstler wurde 1970 als Kind algerischer Einwanderer in Frankreich geboren. "Ghost" heißt die Arbeit. Es ist ein Raum vollgepackt mit sitzenden, die Oberkörper weit nach unten beugenden und mit Aluminiumfolien - wie die, mit denen man Backbleche auslegt - verhüllten Figuren. Betende Musliminnen ist die sofort sich einstellende Assoziation. Geht man näher heran, entdeckt man, was auf dem Foto leider nicht zu sehen ist: Es ist nichts unter der Hülle. Es gibt keine Figuren, die verhüllt wären. Es gibt nichts als die Aluminiumfolie. Sie soll nach jeder Ausstellung eingesammelt und entsorgt werden. Das muss man wohl auch, denn es wäre deutlich teurer, die Aluminiumformen zu transportieren und zu erhalten, als sie jedes Mal neu herzustellen. Was das mit dem menschlichen Leben zu tun, sagt Ihnen der Autor selbst. Nicht im Buch, aber auf Youtube:



Für mich ist eine der schönsten Darstellungen des Bandes die der buddhistischen Göttin des Mitleids Guanyin auf Seite 225. Die Göttin sitzt aufrecht mit einem hochgestellten Bein, auf dessen Knie der rechte Arm lässig ruht. Guanyin machte im Laufe ihrer Geschichte eine Geschlechtsumwandlung durch. Zunächst war sie ein junger Mann mit Schnurrbart. Im 11. und 12. Jahrhundert wurde aus dem Gott eine Göttin. Die Holzfigur stammt aus jener Zeit. Sie ist weder Frau noch Mann oder sie ist beides. Mitleiden zu können heißt beiden Geschlechtern anzugehören. Aber so elegant, so schön, so frei!

Body of Art, herausgegeben von Jennifer Blessing, Phaidon Verlag, London 2015, Englisch, 440 Seiten, 440 Abbildungen, 38,95 Euro. Buch bestellen bei buecher.de.