Vom Nachttisch geräumt

Diese Verunsicherung der Mitte

Von Arno Widmann
28.10.2019. Verlag ohne Verleger: "Fundus" erzählt in 2313 O-Tönen vom Verlag der Autoren 1969-2019.
Am 8. Februar 1969 trafen sich in der in der Schlossstraße in Frankfurt/Main gelegenen Wohnung von Karlheinz Braun, der seinen Job als Chef des Theaterverlags des Suhrkamp-Verlages nach Auseinandersetzungen mit Siegfried Unseld, dem Chef desselben, gerade gekündigt hatte, eine Reihe von Lektoren und Autoren. Nach zweieinhalb Stunden war der "Verlag der Autoren" gegründet. "Fundus" ist ein vollgestopfter Text-Bild-Band, der die Geschichte des Verlages in - so sagen die Autoren - 2313 O-Tönen erzählt. Die Autoren sind Marion Victor, von 1985 bis 2004 Lektorin des Verlages, von 1989 bis 2010 dessen Geschäftsführerin und Wolfgang Schopf, Leiter des Literaturarchivs der Universität Frankfurt am Main.

Es ist ein Band, in dem man zu blättern beginnt und den man nur schwer wieder niederlegt, bevor man ihn zu Ende gelesen hat. All die Namen! Botho Strauß, Peter Handke, Heiner Müller. Wie sie mitmachten und dann wieder verschwanden, wieder kamen. Der Verlag der Autoren umfasst heute die Bereiche Theater, Hörspiel, Film & TV, Choreographie, Literaturagentur. Wann was dazu kam und warum, kann man alles dem Buch entnehmen. Auch wie die Gewichte sich verschieben, andere Autoren, anderes Theater, andere Hörspiele relevant werden. Jedes Projekt ist das Projekt einer Generation. Wenn es fünfzig Jahre besteht, hat es mindestens einen Generationswechsel überstanden.

Wolfgang Wiens und Karlheinz Braun. Foto © Verlag der Autoren


Die Faszination des Verlags der Autoren war am Anfang, dass es ein Verlag der Autoren sein sollte. Also ein Verlag ohne Verleger. Ein Unding also. Ein sozialistisches Experiment. Nach einer Weile verschwindet dieser Reiz. Man sieht mehr seine Probleme. Zunehmend ist man an der Effizienz interessiert oder klarer gesagt: am Überleben. Davon handelt dieses Buch nicht. Das wird nicht thematisiert. Es findet keine Analyse der Erfahrungen statt. Vielleicht kommt das noch, vielleicht ist dieses Buch auch längst erschienen, und ich habe es nicht bemerkt. "Fundus" dagegen ist ein Spaziergang durch die vergangenen fünfzig Jahre Verlagsgeschichte. Und gleichzeitig ist es ein Gang durch die Geschichte der BRD - immer wieder mit Blicken hinüber über die Mauer in die DDR -, durch die wechselnden Interessen einer sich unablässig ändernden Öffentlichkeit.

In der Saison 1978/1979 - zehn Jahre vor dem Mauerfall - war "Bezahlt wird nicht" von Dario Fo das meistgespielte Stück an deutschen Bühnen. Man sollte es heute - angesichts der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen - wieder zeigen. Daneben stehen inzwischen vergessene Namen, die ich mir notiert habe. Zum Wiederlesen. Was ist mit den Dialektstücken, die in den 70er Jahren so großen Erfolg hatten? All diese Entdeckungsfahrten in die unbekannten Nähen der Arbeitswelt, der Intimbeziehungen? Wir glaubten uns klüger geworden durch sie. Ein Irrtum? Wer erkundet heute die unbekannten Terrains mitten unter uns? Tut das noch das Theater? Macht das noch der Verlag der Autoren? In einem Protokoll der Vollversammlung vom 25. Mai 2001 heißt es: "Diese Verunsicherung der Mitte, die durch den Verlust und die Infragestellung von Sichergeglaubtem, ja geradezu Gepachtetem ausgelöst ist: dem Verlust nämlich von Jobs und Aktiengewinnen ebenso wie von allgemeinverbindlichen Werten, ist ein Thema, das vielleicht in der Luft liegt." Seit zwanzig Jahren. Sind wir schlauer geworden? Wir benutzen noch immer dieselben Wörter. Für noch immer dieselbe Situation?

Fundus  - Das Buch vom Verlag der Autoren 1969-2019, hrsg. von Wolfgang Schopf und Marion Victor, Verlag der Autoren, 302 Seiten mit weit über 300 Abbildungen, 39 Euro.
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