Vom Nachttisch geräumt

Fabeltier Sozialismus

Von Arno Widmann
28.10.2019. All die jämmerlichen Utopien: Durs Grünbein träumt in "Aus der Traum" von der Kunst des Gleichgewichts.
Ich machte mir Sorgen um Durs Grünbein: "Aufsätze und Notate" steht unter dem Titel seines neuesten Buches. Ich bin einer seiner schüchternen Bewunderer. Dass es kein Buch ist, sondern eine Kompilation, machte mir Sorgen. Ich begann auch noch hinten mit der Lektüre. So machen die dümmeren unter den professionellen Lesern es gerne. Da stand dann "Aus der sammelnden und ordnenden Kartei seiner Stichworte ist ein Fundbuch hervorgegangen, das sich auf jeder Seite gewinnbringend aufschlagen lässt." Da ist nichts Falsches dran. Aber wer gespannt ist auf Komposition, auf Entfaltung, den schreckt das erst einmal ab. So lag das Buch erst einmal da. Es verging eine Zeit, bis ich mich wieder an es herantraute. Dann aber konnte ich kaum davon lassen.

"Die Süße, die in der Zerstörung der Formen lag" - wer erinnert sich nicht daran. Das gilt ja nicht nur für die Verfertigung von Gedichten. Auch in der Musik, in der Kleidung, wie man einander grüßte oder es nicht tat, wurde die "Zerstörung der Formen" ausgekostet. Als sie dann nicht mehr galten, wusste man nicht mehr so recht, was tun und was nicht tun. Also rief man wieder nach den Formen, um sich darin einzurichten, um dagegen zu rebellieren. Es sind Notizen. Manches steht da ungeschützter als in einem durchgearbeiteten Text. Ich bezweifle, dass Grünbein in einem Gedicht gesprochen hätte von einem "immer wiederkehrenden Glücksmoment, sich als Teil des Universums lebendig zu fühlen". Um dieses "immer wieder" beneide ich ihn. Ich muss mir Null Sorgen um Durs Grünbein machen.

Viele Seiten sind Notizen und Erinnerungen an 1989. Wie er verhaftet und verprügelt wurde, wie er an der Bornholmer Brücke die "Staatsgrenze" überquerte. Davor stehen die Erzählungen von Träumen, die Reflexionen über sie. Es ist doch gut, das Buch mit den Träumen beginnen zu lassen. Mit dem riesigen Abstand zur Wirklichkeit. Der Leser versteht: Der Traum mag eine Wunscherfüllung sein. Er selbst wird nie in Erfüllung gehen. Grünbein zitiert Flaubert, der, als er 1851 nach seiner großen Orientreise, die ihm u.a. die ägyptischen Pyramiden und Konstantinopel vor Augen geführt hatte, notierte: "Zu den ersten Studien, denen ich mich nach meiner Rückkehr widmen werde, gehört bestimmt das all der jämmerlichen Utopien, die unsere Gesellschaft erregen und drohen sie mit Ruinen zu bedecken." Er zitiert auch den darauf folgenden Satz Flauberts, der dessen ganze Nüchternheit zeigt: "Die Albernheit besteht darin, Schlussfolgerungen ziehen zu wollen." Der reale Orient hatte Flaubert die Romantik ausgetrieben. Jetzt erst war er reif für "Madame Bovary".

Ein paar Seiten später spricht Durs Grünbein vom "Fabeltier Sozialismus". Das ist großartig. Niemand hat dieses Tier jemals gesehen. Wer vom "realen Sozialismus" sprach, der meinte das resignierend im Sinne von "etwas Besseres haben wir nicht".  Ein Fabeltier lebt ewig. Es ist unzerstörbar. Immer wieder wird es aus den Archiven geholt und wiederbelebt. Jeder weiß, dass es niemals gelebt hat und niemals leben wird, aber immer wieder neu findet sich jemand, der den Drachen fliegen lassen möchte oder Superman aus dem Schrank holt und ihn uns als Wunderwaffe oder Führer andienen möchte. In diese Wunderkammer gehört auch der Sozialismus.

Als die Mauer gebaut wurde, gab es gerade unter den linken Intellektuellen viele, die waren der Ansicht: Jetzt könnten sie endlich, ohne kapitalistische Interventionen einen wirklichen Sozialismus aufbauen. Otto Gotsche, ehemaliger Spanienkämpfer, persönlicher Assistent von Walter Ulbricht, dann Leiter des Sekretariats des Staatsrats der DDR, erklärte damals: "Die Mauer haben wir gebaut, um unsere inneren Feinde daran zu zerquetschen." Daraus folgte "eine tiefreichende Identitätsspaltung aller Beteiligten - die zuerst verschleiert, später geleugnet wurde", schreibt Durs Grünbein. "Jeder belog jeden, man richtete sich in der Lüge ein und fand sie schließlich bequem." Jeder hatte das Gefühl, einen jeden belügen zu müssen, weil man nie wusste, wer wem die Wahrheit verraten würde.

Das ist noch nicht einmal die Hälfte des Buches. Danach folgen Essays, die mit Sätzen beginnen wie: "Wenn man die Stubenfliege versteht, technologisch und als lebendiges Fabrikat der Natur, hat man alles verstanden." Oder er überschreibt seinen großartigen kleinen Kafka-Text mit dem Zitat "Poseidon war überdrüssig seiner Meere". Sein Essay über Gottfried Benn endet mit den Worten: "Benns Verse sind etwas für die an den Metaphermeeren Gestrandeten, für all jene, die aus dem Schiffbruch der Imagination neue Kräfte gewinnen." Nein, so endet er nicht. Er schiebt diesem Schluss als Coda ein Zitat des Malers Henri Matisse nach: "Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände, von einer Kunst, die für jeden Geistesarbeiter, für den Geschäftsmann so gut wie für den Literaten, ein Beruhigungsmittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von den physischen Anstrengungen erholen kann."

Wir sind mit Durs Grünbein einen weiten Weg gegangen von der "Süße, die in der Zerstörung der Formen lag" bis zur Utopie des guten Lehnstuhls. Aber vergessen wir nicht: Es spricht zwar immer Durs Grünbein, aber immer durch eine von ihm kreierte Person hindurch.

Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei) Aufsätze und Notate, Suhrkamp, Berlin 2019, 573 Seiten, 28 Euro.
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