Vom Nachttisch geräumt

"Werd ich zum Augenblicke sagen…"

Von Arno Widmann
28.10.2019. Zwei Bände über Louise Bourgeois: Jean-Francois Jaussaud fotografierte die Räume in Brooklyn und Chelsea, in denen sie arbeitete und lebte. Und Jean Frémon spürt der Identifikation der Künstlerin mit Balzacs Romanheldin Eugénie Grandet nach.
Das ist kein Buch über die Kunst von Louise Bourgeois (1911-2010). Es ist ein Bildband über ihr Atelier in Brooklyn und ihr Haus in Chelsea. Seit 1938 lebte die geborene Französin in New York. Jean-Francois Jaussaud, einer der bekanntesten Interior-Fotografen, machte Aufnahmen der Räume, in denen sie arbeitete und lebte. Von 1994 bis 2010 tat er das. Es sind großartige Aufnahmen. Auf sehr vielen ist Louise Bourgeois zu sehen. Manchmal sind es Porträts. Dann ist sie mehr im Hintergrund. Plötzlich nur ihre Hände. Die Bücher. Überall. Im Regal neben ihrem Bett erkenne ich den Hite-Report. Jene Studie, die 1976 einige Vorstellungen über weibliche Sexualität radikal zurechtrückte. 48 Millionen Exemplare wurden davon verkauft. Shere Hite wurde dafür so angegriffen, dass sie 1996 die deutsche Staatsbürgerschaft annahm. Sie war damals mit einem deutschen Pianisten verheiratet und hielt die deutsche Gesellschaft für aufgeschlossener als die der USA. Inzwischen lebt sie in London. Ich denke, während ich auf Louise Bourgeois' Bett und die Bücher neben ihm schaue, dass ich sie vielleicht doch mal befragen sollte zu ihren Ansichten über offene und geschlossene Gesellschaften und wie aus den einen die anderen werden. Kehrt sie angesichts des Brexit in die USA zurück? Auf ihrer Website wird sie so vorgestellt: "Shere Hite (born November 2, 1942) is an American-born German sex educator and feminist." Aber zurück zu Louise Bourgeois.

Louise Bourgeois in ihrem Haus in der 20th Street in NYC 2000. Foto: © Jean-François Jaussaud


Die großartigen Fotos werden begleitet von Texten von Louise Bourgeois, über deren Herkunft der Band aber leider keine Auskunft gibt. Zwei werde ich jetzt zitieren. Sie zeigen, wie viel Ambivalenz sich über einhundert Jahre aushalten lässt. Oder stammen sie aus ganz verschiedenen Lebensabschnitten? Oder ist einer von beiden oder gar beide nichts als erfunden. Auch als Fantasie erfunden? Wie weit geht das? Man kann das sehr weit treiben, wenn man eine Figur erfindet, der nicht nur Dinge einfallen, die einem selbst niemals einfielen, sondern auch wiederum eine Figur erfindet, der… Usw. Aber am Ende ist es immer dieser eine Künstler, dem alles, die ganze Matrjoschka-Herrlichkeit, einfiel. Louise Bourgeois, die Erfinderin von positiven (!) Mutter-Spinnen, baute fortwährend Matrjoschkas, die ihr erlaubten zu denken, zu zeigen, zu tun, was sie allein niemals hätte denken, zeigen tun können. In beiden Zitaten geht es um den Vater. Oder eine Vaterfigur?

1. "Mein Vater hatte eine Sammlung, die ich einmal zufällig entdeckte. Ich habe sie immer noch. Es war eine Schachtel, und drinnen waren Kieselsteine. Es waren Hunderte von Kieselsteinen, und er hatte sie auf seinem Arbeitstisch. Er sagte: 'Jeden Mal, wenn ich einen schönen Augenblick erlebe, ist das für mich ein Beweis, dass das Leben lebenswert ist, und aus Dankbarkeit lege ich einen Kieselstein in die Schachtel.' Er sammelte also schöne Augenblicke."

2. "Für mich war es entsetzlich, dass mein Vater am Familientisch keine Sekunde zu reden aufhörte, er schwadronierte und prahlte. Und je mehr er angab, desto unbedeutender fühlten wir uns. Plötzlich gab es einen Moment unerträglicher Spannung, wir warfen uns auf ihn - mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter - wir alle vier, wir haben ihn gepackt und auf den Tisch gezerrt, wir haben ihn zerteilt, ihm Arme und Beine ausgerissen, ihm förmlich die Glieder abgetrennt, wissen Sie… Und wir haben ihn in so kleine Stücke gerissen, dass wir ihn aufgegessen haben. Schluss. Das ist eine Wahnvorstellung, aber manchmal werden Tagträume ausgelebt."

Im Regal neben ihrem Bett ist natürlich auch ein Freud-Band. Aber mehr als "Freud" kann ich nicht entziffern. Dreißig Jahre lang soll sie eine Analyse gemacht haben. Vor ein paar Jahren erschien ein Band mit ihren Überlegungen zur Psychoanalyse, den ich auch nicht kenne. In diesem Bildband von Jaussaud entdeckt man auf Seite 29 eine Abbildung ihrer berühmten Arbeit von 1974: "The Destruction oft the Father". 2001 erschien im inzwischen leider eingestellten Ammann Verlag in Zürich eine Sammlung ihrer Schriften und Interviews unter dem Titel: "Destruction oft he Father - Reconstruction oft he Father".

Im Piet Meyer Verlag erschien schon 2013 ein wunderschönes Bändchen über Louise Bourgeois' letzte Arbeit "Moi, Eugénie Grandet". Jean Frémon geht der Geschichte der Identifikation der Künstlerin mit der Romanheldin Balzacs nach. "Ist es Eugénie Grandet oder Louise Bourgeois, die 'niemals erwachsen geworden' ist, die ihr Leben mit Sticken und dem Anfertigen ihres Brautschatzes verbringen wird, ohne je einen Schatz gehabt zu haben?"

Ist die zerlaufende Gouache, die Eugénie Grandet darstellen soll, nicht eher oder doch jedenfalls auch ein Selbstporträt der Künstlerin? Alle ihre Arbeiten zu Eugénie Grandet sind in hervorragenden Abbildungen zu sehen, dazu Texte von Balzac oder Bourgeois. Darunter auch eine Ode an Eugénie Grandet: "Ich bin nie erwachsen geworden/ Ich stehe direkt am Fenster/ Ich habe mein Leben lang Vorhänge genäht/ um die schmutzigen Scheiben zu verstecken/ Ich habe mein Leben lang Vorhänge genäht/ und dabei auf das Gebäude gegenüber geblickt/ Ich habe mein Leben lang gewartet/ Ich habe mein Leben lang/ Geschirr abgewaschen und Gemüse geputzt/ Ich hatte mein Leben lang Höhen und Tiefen/ Ich hatte mein Leben lang Angst vor der Kälte/ und habe Säume ausgelassen und Kleider gekürzt/ Ich habe mein Leben lang/ dem Zwitschern der Vögel zugehört/ und dem Wasser, das von der Decke tropft/ und dem Verkehr auf der 20sten Straße/ Ich habe dem Gurren der Tauben zugehört…"

Das ist etwa die Hälfte der Ode an Eugénie Grandet, die eine der Eugénie Grandet zu sein scheint. Die wiederum ist eine der Matrjoschkas der Louise Bourgeois.

Jean-Francois Jaussaud: Louise Bourgeois, Femme Maison. Das Haus der Künstlerin, Schirmer/Mosel, München 2019, aus dem Französischen von Michaela Angermair, 192 Seiten, 113 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß, 39,80 Euro.

Jean Frémon: Louise Bourgeois, Moi, Eugénie Grandet, Piet Meyer Verlag, Bern 2013, aus dem Französischen von Cordula Unewisse, 116 Seiten, 32 Abbildungen, davon 29 in Farbe, 15.80 Euro.