Vom Nachttisch geräumt
"Werd ich zum Augenblicke sagen…"
Von Arno Widmann
28.10.2019. Zwei Bände über Louise Bourgeois: Jean-Francois Jaussaud fotografierte die Räume in Brooklyn und Chelsea, in denen sie arbeitete und lebte. Und Jean Frémon spürt der Identifikation der Künstlerin mit Balzacs Romanheldin Eugénie Grandet nach.![](/cdata/K2/T13/A10734/jaussaud.jpg)
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1. "Mein Vater hatte eine Sammlung, die ich einmal zufällig entdeckte. Ich habe sie immer noch. Es war eine Schachtel, und drinnen waren Kieselsteine. Es waren Hunderte von Kieselsteinen, und er hatte sie auf seinem Arbeitstisch. Er sagte: 'Jeden Mal, wenn ich einen schönen Augenblick erlebe, ist das für mich ein Beweis, dass das Leben lebenswert ist, und aus Dankbarkeit lege ich einen Kieselstein in die Schachtel.' Er sammelte also schöne Augenblicke."
2. "Für mich war es entsetzlich, dass mein Vater am Familientisch keine Sekunde zu reden aufhörte, er schwadronierte und prahlte. Und je mehr er angab, desto unbedeutender fühlten wir uns. Plötzlich gab es einen Moment unerträglicher Spannung, wir warfen uns auf ihn - mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter - wir alle vier, wir haben ihn gepackt und auf den Tisch gezerrt, wir haben ihn zerteilt, ihm Arme und Beine ausgerissen, ihm förmlich die Glieder abgetrennt, wissen Sie… Und wir haben ihn in so kleine Stücke gerissen, dass wir ihn aufgegessen haben. Schluss. Das ist eine Wahnvorstellung, aber manchmal werden Tagträume ausgelebt."
Im Regal neben ihrem Bett ist natürlich auch ein Freud-Band. Aber mehr als "Freud" kann ich nicht entziffern. Dreißig Jahre lang soll sie eine Analyse gemacht haben. Vor ein paar Jahren erschien ein Band mit ihren Überlegungen zur Psychoanalyse, den ich auch nicht kenne. In diesem Bildband von Jaussaud entdeckt man auf Seite 29 eine Abbildung ihrer berühmten Arbeit von 1974: "The Destruction oft the Father". 2001 erschien im inzwischen leider eingestellten Ammann Verlag in Zürich eine Sammlung ihrer Schriften und Interviews unter dem Titel: "Destruction oft he Father - Reconstruction oft he Father".
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Ist die zerlaufende Gouache, die Eugénie Grandet darstellen soll, nicht eher oder doch jedenfalls auch ein Selbstporträt der Künstlerin? Alle ihre Arbeiten zu Eugénie Grandet sind in hervorragenden Abbildungen zu sehen, dazu Texte von Balzac oder Bourgeois. Darunter auch eine Ode an Eugénie Grandet: "Ich bin nie erwachsen geworden/ Ich stehe direkt am Fenster/ Ich habe mein Leben lang Vorhänge genäht/ um die schmutzigen Scheiben zu verstecken/ Ich habe mein Leben lang Vorhänge genäht/ und dabei auf das Gebäude gegenüber geblickt/ Ich habe mein Leben lang gewartet/ Ich habe mein Leben lang/ Geschirr abgewaschen und Gemüse geputzt/ Ich hatte mein Leben lang Höhen und Tiefen/ Ich hatte mein Leben lang Angst vor der Kälte/ und habe Säume ausgelassen und Kleider gekürzt/ Ich habe mein Leben lang/ dem Zwitschern der Vögel zugehört/ und dem Wasser, das von der Decke tropft/ und dem Verkehr auf der 20sten Straße/ Ich habe dem Gurren der Tauben zugehört…"
Das ist etwa die Hälfte der Ode an Eugénie Grandet, die eine der Eugénie Grandet zu sein scheint. Die wiederum ist eine der Matrjoschkas der Louise Bourgeois.
Jean-Francois Jaussaud: Louise Bourgeois, Femme Maison. Das Haus der Künstlerin, Schirmer/Mosel, München 2019, aus dem Französischen von Michaela Angermair, 192 Seiten, 113 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß, 39,80 Euro.
Jean Frémon: Louise Bourgeois, Moi, Eugénie Grandet, Piet Meyer Verlag, Bern 2013, aus dem Französischen von Cordula Unewisse, 116 Seiten, 32 Abbildungen, davon 29 in Farbe, 15.80 Euro.
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