9punkt - Die Debattenrundschau

Es waren alle wie auf Koks

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2018. Nach acht Jahren Hausarrest durfte Liu Xia endlich ausreisen. Le Monde dämpft die Freude - in China wurde gerade wieder ein Dissident zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. In der SZ  fordert Rebekka Habermas einen anderen Umgang mit dem Thema Restitution von Kunstwerken. In republik.ch erläutert Ulrike Guérot, wie die Eurokrise und der grassierende Nationalismus in Europa zusammenhängen. Die Brexiteers verlassen die Regierung, weil sie sich vor ihren Wählern nicht verantworten wollen, vermutet die New York Times.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.07.2018 finden Sie hier

Politik

Es zirkulieren wunderbare Fotos von einer strahlenden Liu Xia auf dem Weg nach Berlin. "Am Ende ging alles ganz schnell", erzählt Felix Lee in der taz: "Liu Xia saß auf gepackten Koffern, als sie am Dienstagmorgen von ihrer Wohnung abgeholt wurde, in der sie seit mehr als acht Jahren im Hausarrest saß. Plötzlich durfte sie zum Pekinger Flughafen fahren. Kurze Zeit später saß die Witwe des vor einem Jahr verstorbenen chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo auch schon in einer Maschine auf dem Weg nach Berlin."

Heike Schmoll erläutert in der FAZ: "Ohne die Bemühungen der Bundesregierung ebenso wie Frankreichs und Amerikas stünde Liu Xia vermutlich noch immer unter Arrest. Im April hatten Diplomaten vergeblich versucht, sie zu besuchen. Sie wurden von Bewachern abgewiesen."

Direkt nach dem Abflug Liu Xias kam die Meldung, dass der 64-jährige Dissident Qin Yongmin zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, berichtet Le Monde mit AFP: "Der 64-jährige Mann, der von einem Gericht in Wuhan City verurteilt wurde, wurde 2015 wegen der Organisation einer illegalen Kundgebung verhaftet. Damals hatte er bereits 22 Jahre seines Lebens im Gefängnis oder in der Umerziehung durch Arbeitslager verbracht, so chinesische Menschenrechtsgruppen."

Shaparak Shajarizadeh. Foto: unbekannt.



(Via mena-watch.com): "Die iranische Justiz hat Shaparak Shajarizadeh wegen ihrer Opposition gegen den Verhüllungszwang zu zwei Jahren Gefängnis und weiteren achtzehn Jahren Haft auf Bewährung verurteilt", berichtet der Dienst Iran Human Rights Monitor: "Shajarizadeh war zuvor Ende Februar festgenommen worden, weil sie ihr Kopftuch in dem im Norden Teherans gelegenen Stadtteil Gheytarieh abgenommen, an einen Stock gebunden und damit geschwenkt hatte."
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Religion

Das Kopftuch in Deutschland ist ein Teil der Religionsfreiheit, auch bei Staatsbediensteten, meint der Theologe Bülent Ucar in einem Ticker von epd Medien (hier in der FR): "Die Gegner würden ... ein säkularistisches Verständnis einer klaren Trennung von Staat und Religion in die Debatte einbringen, erläuterte der Direktor des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. Diese Trennung gebe es zwar in Frankreich, nicht aber in Deutschland."
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Europa

Was nun spürbar werde, sei die Diskrepanz zwischen dem leichten, wohlstandsfördernden und produktiven Brexit, den die Wähler erwartet hatten, und dem peniblen Prozess der Entflechtung zweier Wirtschaftsräume, die über Jahrzehnte innig verbunden waren, schreibt Jenni Russell in der New York Times: Aber "die konservativen Politiker können ihren Wählern nicht gestehen, dass sie getäuscht wurden. Statt sich für die Irreführung zu entschuldigen, überbieten sich Johnson und die Brexiteers mit optimistischen Slogans und fadenscheinigen Versprechungen und weigern sich, die immer schlagenderen Beweise aus Krankenhäusern, Fluglinien, von Bauern, Supermärkten und Fabriken zur Kenntnis zu nehmen, dass der Brexit ihnen allen schaden wird."

Ob übrigens Theresa Mays Kompromissvorschlag mit der EU, den Johnson als "polierte Scheiße" bezeichnet hat, realistisch ist, wäre noch eine andere Frage, meint Ulrike Herrmann in der taz: "Die Briten agieren noch immer, als könnten sie alles haben: keine Einwanderer, keine Zahlungen an die EU-Kasse - aber vollen Marktzugang."

Der 11. Juli ist seit einigen Jahren Gedenktag für die Opfer von Srebrenica. Die Anthropologin Sarah Wagner erzählt im Gespräch mit Sophie Jung von der taz, wie schwierig Erinnerungsarbeit im Detail ist - der Prozess der Identifikation der Überreste von Opfern ist längst nicht abgeschlossen: "Etwa 65 Prozent der Srebrenica-Opfer wurden aus sekundären Massengräben exhumiert, das heißt, es hat eine extreme Vermengung von Leichenteilen vieler verschiedener Opfer gegeben. Was tun, wenn nur ein paar Knochen des Vermissten gefunden wurden? Die meisten Angehörigen wollen es trotzdem wissen. Dann geht es um die Frage, ob diese wenigen Knochenteile begraben werden sollen. Eine Person, die man geliebt hat, ohne ihren Kopf oder Schädel zu beerdigen, ist verstörend. Es gibt Fallmanager, die sich um solche Angelegenheiten kümmern."

Die Hysteriker in der Flüchtlingspolitik, die von "sogenannten Flüchtlingen" schwadronieren, von "Asyltouristen" und der "Festung Europa", stellen nicht die Mehrheit in der CDU, erinnert der CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer in der Welt. "Dafür haben wir als Union über Jahrzehnte gekämpft: ein europäisches, weltoffenes, freiheitliches und tolerantes Deutschland. Das ist nicht obsolet. Denn neben jenen Politikern, die die Union nach rechts rücken wollen, die auf komplizierte Fragen einfache Antworten zu haben glauben, gibt es auch noch die anderen in unserer Union, die Mehrheit: Menschen, die zu der großen europäischen Aufgabe stehen; Menschen, die Mitleid empfinden und sich schämen, wenn sich Europa abschottet; Menschen, denen Papst Franziskus moralische Autorität ist; Menschen, die den Begriff 'Willkommenskultur' nicht für ein Schimpfwort halten ... Es wird Zeit, dass sich diese Mehrheit im Kulturkampf in der Union lauter zu Wort meldet."

Ulrike Guérot benennt im Gespräch mit Daniel Binswanger von republik.ch eine der Ursachen der europäischen Krise: Nach der Einführung des Euro, so die Politologin, hatten die Länder des Südens eine "Spending-Party" und die des Nordens eine "Lending-Party": "Nach der Einführung des Euro hat man sich in den Peripherieländern am sprudelnden Geld berauscht. Plötzlich lag noch ein Haus drin und noch ein Boot und noch ein SUV. Es waren alle wie auf Koks, die Kreditnehmer, aber auch die Gläubiger." Und dann? "Wie nach jeder Party muss der Müll weggeräumt werden, und es fragt sich: Wer steht nun gerade für die Sache: das Kapital oder die Arbeitnehmer? Die Jungen oder die Alten? In einem normalen Bewältigungsprozess müssten diese Fragen politisch ausgehandelt werden. Das geht hier aber nicht, weil diese Aushandlungsstrukturen in der EU gar nicht existieren. Deshalb erlangen die chauvinistischen Antworten eine neue Glaubwürdigkeit."

Auf die galoppierende Inflation, besonders auch von Lebensmitteln, antwortet der türkische Autokrat Tayyip Erdogan mit Inflation, schreibt Bülent Mumay in seiner neuen FAZ-Kolumne: "Mit einer weiteren Steuererhöhung verteuerten sich alkoholische Getränke über Nacht um fünfzehn Prozent. Eine Flasche Raki verlässt die Fabrik für 28,50 türkische Lira, kostet im Einzelhandel jetzt aber 113 Lira. Drei von vier Gläsern jeder Flasche hat der Staat also gleich im Voraus getrunken."
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Wissenschaft

In der SZ klagen die Mitarbeiter des Botanischen Instituts der Istanbul-Universität Christiane Schlötzer ihr Leid: Sie müssen ausziehen und ihren weltberühmten Garten aufgeben, um Platz für den Mufti zu schaffen, einen staatlichen Beamten, der das islamische Recht auslegt: " Was ist das? Eine neue Wissenschaftsfeindlichkeit in der Türkei? Auch das Konservatorium der renommierten Mimar Sinan Universität in Istanbul sollte zwei Tage nach der Präsidenten- und Parlamentswahl sein Gebäude räumen, alles raus, ohne Alternative. ... Die Istanbul Universität soll auch noch geteilt werden, in zwei Hälften gespalten. Teile sollen irgendwohin umziehen, raus aus dem Stadtzentrum. Viele Professoren sind beunruhigt. Und verängstigt. Die Uni-Rektoren werden jetzt alle vom neuen supermächtigen Präsidenten ernannt. Wer will da schon protestieren."
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Medien

Wolfgang Michal legt auf seinem Blog einen ausführlichen Denkanstoß zur Zensurdebatte vor. Zensur geht faktisch nicht nur vom Staat, sondern auch von Medien und sozialen Netzen aus, schreibt er: "Die gegenwärtige Zensurdebatte müsste daher viel stärker auf die inneren Abhängigkeitsverhältnisse eingehen: bei den Medien auf das Abhängigkeitsverhältnis der journalistischen Mitarbeiter zu ihren jeweiligen Chefredaktionen und Verlagen, bei den sozialen Netzwerken auf das Abhängigkeitsverhältnis der Nutzer zu ihren Diensteanbietern und deren Löschtrupps. Denn nicht nur die 'äußere Zensur', die durch Straf- und Schutzgesetze festgelegt wird, bedarf einer Kritik, auch die 'innere Zensur', die sich aus Abhängigkeitsverhältnissen ergibt. Das ist schon deshalb erforderlich, weil innere und äußere Zensur bisweilen auf undurchsichtige Art kooperieren."
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Kulturpolitik

Restitution von geraubten Museumsobjekten kann nicht alles, meint Rebekka Habermas in der SZ. Im Gegenteil, so entledige man sich doch nur der gemeinsamen Geschichte, schreibt sie. "Wäre es nicht sinnvoller, die Objekte, die nicht zurückgefordert werden, zu nutzen, um genau dieser gemeinsamen Geschichte den Platz im europäischen Selbstverständnis einzuräumen, der ihr gebührt? Eröffnet sich hier nicht eine einmalige Chance zu lernen, wie viel das, was man Europas kulturelles Erbe nennt, diesen überaus gewalttätigen Kontakten verdankt? So könnte die Diskussion dafür genutzt werden, um mit den Nachkommen der ursprünglichen Besitzer kolonialer Objekte ins Gespräch zu kommen, etwa darüber, wie in Europa mit den Dingen in den letzten hundert Jahren umgegangen wurde, welche Erkenntnisse europäische Wissenschaften auf der Grundlage der Käfer, ausgestopften Tiere und der Benin-Bronzen gewonnen haben und wie viel die Entwicklung der ästhetischen Moderne manchen Ethnographica verdankt."
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Ideen

Kommunikation geht immer mehr über audiovisuelle Medien und immer weniger über Text - "Präsenzkultur" ist das Stichwort, warnen die Wissenschaftler Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski in der NZZ und plädieren dafür, dem Text wieder eine Chance zu geben: "Man könnte den Text einerseits als Hilfsmittel der Distanzierung und Reflexion zeitgenössischer Phänomene begreifen, als ein Hilfsmittel, das sich dem bloss reflexhaften Erleben auf vorgezeichneten Pfaden fast notwendig versperrt. Andererseits ginge es gleichzeitig darum, zu erkennen, dass gerade die Digitalisierung - etwas hintergründiger angeschaut - genau das Gegenteil des Posttextuellen beschreibt, dass sie sich keineswegs im luftleeren Raum der Erscheinungen vollzieht. Denn hinter jedem Bild, jedem Video und jedem virtuellen Erleben steht Code geschrieben; ein formalisiertes Gewebe, eine Textur, die unser Weltbild alias Filterblase entscheidungslogisch prägt."

Außerdem: Die SZ übernimmt den Medium-Artikel von Douglas Rushkoff, der erzählt, wie er einmal für ein absurd hohes Honorar zu einem Gespräch mit fünf Milliardären - Elon Musk, Peter Thiel, Sam Altman, Ray Kurzweil und Mark Zuckerberg - gebeten wurde (unser Resümee). Mehr über dieses Gespräch kann man in einem Interview mit Rushkoff bei Nonprofit Quarterly nachlesen. Wer wissen will, wie verschiedene Völker friedlich koexistierten und Handel trieben, sollte einen Blick auf Alteuropa werfen, schlagen der Sprach- und Kulturwissenschaftler Harald Haarmann und eine Wiesbadener Künstlerin mit dem Pseudonym LaBGC in einem Essay für die FR vor.
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