9punkt - Die Debattenrundschau

Das gesamte Hellfeld

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2018. Bellingcat und ein Kiezblog aus Brooklyn zeigen, dass das Internet nicht nur Fake News, sondern auch Wahrheit produzieren kann, zum Beispiel über Russland und seine engsten Freunde. Der Integrationsforscher Aladin El-Mafaalani erklärt im Interview mit der taz, was er mit dem "Integrationsparadox" meint. Bei den Salonkolumnisten fühlt sich der Historiker Jan C. Behrends von der antifaschistischen Rhetorik einiger Redner im Bundestag eher abgestoßen. So schlecht steht es um die schwedische Demokratie nicht, erklärt Aris Fioretos in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.09.2018 finden Sie hier

Internet

Das Magazin Bellingcat steht dafür, dass das Internet nicht nur Fake News produziert, sondern auch Wahrheit. Der Dienst, der auch nachweisen half, dass das von Russen über der Ukraine abgeschossene Passagierflugezeug tatsächlich von Russen abgeschossen worden war, macht nun klar, dass die beiden mutmaßlichen Nowitschok-Attentäter aus Salisbury tatsächlich russische Geheimdienstleute waren. Gerade noch hatten sie ein freches Interview auf Russia Today gegeben, in dem sie behaupteten, sie seien wegen der Kathedrale in die Stadt gekommen. Bellingcat weist nach, dass die Identitäten der beiden in russischen Meldebehörden erst seit 2009 existieren: "Für die Zeit vor 2009 liegen für diese beiden Personen keine Aufzeichnungen vor. Dies legt nahe, dass die beiden Namen Deckidentitäten für Agenten eines der russischen Sicherheitsdienste waren. Entscheidend ist, dass die Papiere zumindest für einen der Männer den Vermerk 'top secret' enthalten, die für Geheimdienstagenten oder höchste Beamte typisch sind, wie uns zwei unabhängige Quellen bestätigen." Die beiden werden für den Mordanschlag auf den Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter verantwortlich gemacht.

Und noch eine Wahrheitsmaschine aus dem Internet: Lloyd Grove erzählt in The Daily Beast die Geschichte der Brooklyner Lokalbloggerin Katia Kelly (übrigens eine Deutsche), die zuerst feststellte, dass Paul Manafort in  ihrer Gegend Häuser kaufte, offenbar um Geld zu waschen. Der ehemalige Wahlkampfmanager Trumps, der engste Kontakte zu russischen Oligarchen hatte, hat sich gerade bereit erklärt, mit dem FBI-Ermittler Robert Mueller zu kooperieren, um seine Gefängnisstrafe zu redugzieren (mehr in politico.eu). Kelly hatte "im Februar ihr Blog gestartet: 377 Union - benannt nach der Adresse des Brownstone-Hauses in der Union Street, das Katia Kelly zuerst als Manaforts identifizierte - ein Scoop, dem der New Yorker Respekt zollte und der am Anfang von Manaforts juristischen Problemen stand."
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Urheberrecht

Viele Museen verbieten den Besuchern, Fotos aufzunehmen. Über Museen, Bilder und Rechte tagt zur Zeit ein Kongress im Marta Herford (und der Perlentaucher wird am Montag Wolfgang Ullrichs Eröffnungsvortrag "gegen die Instrumentalisierung des Urheberrechts" bringen). Zur Diskussion passt dieser Tweet von Kathrin Passig:

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Gesellschaft

Der Integrationsforscher Aladin El-Mafaalani erklärt im Interview mit Sabine am Orde von der taz, was er mit dem "Integrationsparadox" meint: "Um Islamisierung als Gefahr an die Wand zu malen und damit Menschen zu mobilisieren, braucht man erfolgreiche, integrierte Muslime. Die gab es hier früher kaum. Das 'Konzept Islamisierung' könnte man vom theoretischen Ansatz mit dem des Weltjudentums vergleichen… Für eine vermeintlich große Gefahr braucht man starke Gegner. Am einfachsten ist es, wenn man beides hat: sichtbare Desintegration und erfolgreiche Integration. Der Islam liefert im Augenblick beides in krasser Weise: Kriminalität und Fremdheit und dann macht man den Fernseher an und eine Muslimin liest die Nachrichten vor. Oder ein Muslim hat den besten deutschen Film gemacht und eine Muslimin ist Staatssekretärin geworden."
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Religion

1.670 Priester und Ordensleute haben im Zeitraum 1946 bis 1994 mindestens 3.677 Betroffene sexuell missbraucht, sagt ein Bericht der Katholischen Kirche, der jüngst vorgelegt wurde. Matthias Katsch, Mitgründer des "Eckigen Tischs" zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, äußert sich im taz-Gespräch mit Nina Apin enttäuscht über diesen Bericht: "Die Studie beschäftigte sich nur mit den Bistümern, aber nicht mit den insgesamt 400 katholischen Ordensgemeinschaften, die viele Schulen, Kinderheime, Internate betreiben... Wir reden hier über einen Ausschnitt, der noch nicht mal das gesamte Hellfeld abbildet. Über das Dunkelfeld kann man nur spekulieren. Es gibt gute Gründe, ein Vielfaches anzusetzen. Da die Forscher nicht selbst Zugang zu den Originalakten hatten, und nur von einem Drittel der angefragten Bistümer überhaupt Material bekommen haben, ist davon auszugehen, dass vieles gar nicht erfasst wurde - auch weil Akten geschreddert oder manipuliert wurden, Hinweise darauf werden auch im Bericht erwähnt."
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Medien

In der taz berichtet Silke Burmester von der eher ein wenig deprimierenden Geburtstagsfeier des Stern, der siebzig Jahre alt wird. Und Michael Hanfeld kritisiert in der FAZ Medien der Mitte, die sich beim Thema Chemnitz von extrem rechts und ganz links treiben lassen.
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Stichwörter: Chemnitz

Kulturmarkt

Noch ein Artikel zur Entlassung der Rowohlt-Verlegerin Barbara Laugwitz. Welt-Autorin Mara Delius konnte sogar mit dem Holtzbrinck-Manager Jörg Pfuhl sprechen Aber ob nun Florian Illies die freundliche und weltgewandte Fassade vor einer im Hintergrund betriebenen "Bertelsmannisierung" der Holtzbrinck-Verlage ist, kriegt auch Mara Delius in ihrer Recherche nicht ganz erhärtet. Klar ist aber, dass die viel beschworene "Krise des Lesens" die Branche umtreibt: "'Erfolgreich gibt es nicht mehr, es gibt nur noch einzelne Erfolge', sagt ein Verleger. Ein einziger Bestseller sei oft der seidene Faden, an dem der Erfolg eines Verlags hängt, nicht mehr wie früher ein breiteres Angebot, das auch mal umsatzschwache Bücher aushalten konnte 'Es brennt sofort die Luft.' Es sei 'dramatisch', sagt ein anderer. Dass Zahlen vergleichsweise 'gut' sind, wie unter Laugwitz, genügt nicht; gut ist nicht mehr gut genug. Die 6,4 Millionen Buchkäufer, die laut einer vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Auftrag gegebenen Studie dem Markt in den letzten fünf Jahren weggebrochen sind, machen sich bemerkbar."
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Ideen

Künstliche Intelligenz kennt keine Neugierde, darum wird sie auch nie ein echtes Bewusstsein entwickeln, meint der Nuklearphysiker Hans Widmer in der NZZ: "Der Urantrieb auch des Bewusstseins ist der Lebenswille des menschlichen Organismus, dem es aufgesetzt ist. Es spukt nicht, wie bisweilen der Eindruck entsteht, im Leerlauf durch das Gehirn. Das Geistige und das Körperliche sind keineswegs unabhängige Entitäten, womit sich nebenbei der von Platon und Descartes postulierte Dualismus als fundamental unhaltbar erweist. ... Die unauflösbare Koppelung von Bewusstsein an Lebenswillen und zugleich das Unvermögen, Leben zu synthetisieren, nehmen der künstlichen Intelligenz von vornherein jede Chance, Bewusstsein zu erzeugen."
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Europa

Der Historiker und Salonkolumnist Jan C. Behrends fühlt sich von der entfesselten antifaschistischen Rhetorik einiger Redner im Bundestag, die sich gar nicht genug in die Brust werfen können, wenn sie die AfD attackieren, eher abgestoßen: "Wenn uns die liberale Ordnung etwas wert ist, darf die Präsenz demokratiefeindlicher Parteien im Parlament nicht dazu führen, dass wir mit ihnen lustvoll in einen Überbietungswettbewerb an Schmähung und Beschimpfung einsteigen. Dafür ist niemand gewählt, es löst kein einziges politisches Problem, es unterminiert das Vertrauen in den Bundestag und es zerstört die nach 1945 mühsam und mit alliierter Hilfe aufgebaute zivile Kultur Deutschlands. Sollten sich Demokraten wirklich an der Zerstörung des Erbes von 1949 und 1989 beteiligen?"

Bei der Wahl in Schweden voriges Wochenende wurden die rechtspopulistischen Schwedendemokraten drittstärkste Kraft. War's das dann mit dem sozialen, liberalen Schweden? Der schwedische Autor Aris Fioretos winkt im Interview mit der Welt ab: "Der Glaube, dass Schweden eine Villa Kunterbunt-WG in XXL sei, scheint in Deutschland besonders ausgeprägt. ... Vier Fünftel der Wähler haben sich für Parteien entschieden, die keine Vereinbarungen mit den Rechtsextremen eingehen wollen. Das strukturelle Problem ist sowieso ein anderes: Unsere alte Blockpolitik mit ihrem Majoritätsparlamentarismus scheint vorbei zu sein. Ein System mit hohem Proporz bedeutet mehrere kleinere Parteien und deutlichere Konfliktdimensionen. Wo da die Grenzen zukünftig verlaufen werden, müssen wir noch sehen."
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