9punkt - Die Debattenrundschau
Hobbys der Eliten
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Gesellschaft
Die heutige FAZ widmet der Angelegenheit gar einen Leitartikel auf Seite 1 der Zeitung. Jürgen Kaube fühlt sich durch Kühnerts "Ausflug ins Antiquariat" an den CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt erinnert, der vor kurzem mit der Forderung nach einer "konservativen Revolution" einen ähnlichen, inzwischen aber längst vergessenen Streit auslöste: "Dobrindts Konservatismus ist Kühnerts Sozialismus: eine Phrase ohne jede analytische Grundlage." Über den Hergang der Ereignisse ist sich Kaube mit Kollege Bahners erstaunlicher Weise nicht ganz einig: "Die Verstaatlichung von BMW war Kühnert durchaus nicht von Journalisten eingeflüstert worden. Er brachte sie selbst ins Spiel."
Auf Zeit online hält Parvin Sadigh wenig von einer Masernimpfpflicht, wie Jens Spahn sie einführen will - mit Geldbußen und Verweis aus den Kindergärten. Die meisten Eltern, glaubt sie, sind gar keine Impfgegner, sondern vergessen das Impfen einfach oft. Ihr Vorschlag: ein Impfregister, das Erinnerungen verschickt, und eine Widerspruchslösung, wie sie die Psychologin Cornelia Betsch kürzlich empfohlen habe: "Warum gehen Ärzte nicht in die Kitas und in die Schulen und führen die Impfungen, die die Eltern verpasst haben, dort durch? Diese müssten aktiv widersprechen und gute Gründe dafür anführen. Früher gingen alle Schulkinder etwa klassenweise zur Polioimpfung. Sie standen in der Schlange und mussten ein Stück Zucker schlucken, getränkt mit einem bitteren Zeug, fertig. Europa gilt seit 2002 als poliofrei. Bislang. Denn zurzeit blicken alle wegen der Masernausbrüche auf diese Krankheit und reden kaum darüber, dass die Impfrate für andere Krankheiten abnimmt, etwa für Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten oder eben Polio."
Europa
Die taz startet mit einer täglichen sechsseitigen Europa-Sektion vor den Europawahlen. Zu Beginn flaniert Nora Bossong durch ein von den Gelbwesten gezeichnetes Paris: "Europa scheint vielen entweder unerreichbar oder unerheblich, ein Hobby der Elite, ein Artefakt, ausgestellt in einer Vitrine. Man zieht sich lieber in einen engen Kreis, eine eingeschworene Fraternité zurück gegen die Kälte und die zu abstrakten Werte drum herum." Außerdem stellt Tobias Müller die Partei Volt vor, die europaweit antritt.
Der Kulturkampf findet nicht zwischen Zivilisationen statt, wie Samuel Huntington einst behauptete, er findet zwischen Kulturen in jedem einzelnen Land statt, meint die türkische Autorin Elif Shafak im Guardian mit Blick auf den Wahlerfolg der rechtspopulistischen Vox-Partei in Spanien: "Was Vox verkauft, ähnelt auffallend dem Paket, das von populistischen Nationalisten anderswo angepriesen wird ... Die Misogynie liegt ihr am Herzen. Das Gerede, dass Männer durch 'Feminazis' leiden und dass radikale Feministinnen das soziale Gefüge bedrohen, wird Beobachtern der extremen Rechten bekannt vorkommen. Die Rechten glauben nicht, dass es ein Patriarchat gibt, ebenso wenig wie sie glauben, dass der Klimawandel stattfindet. Die frauenfeindliche Rhetorik der spanischen Bewegung, ist mir, die aus der Türkei kommt, schrecklich vertraut."
Das Europäische Parlament ist weniger demokratisch als die nationalen Parlamente, erinnert Heinrich August Winkler im Tagesspiegel die Befürworter eines europäischen Bundesstaats: "Wäre das Straßburger Parlament nach dem demokratischen Prinzip 'one person, one vote' zusammengesetzt, müsste es, um auch der Bevölkerung kleiner Mitgliedstaaten eine angemessene Vertretung zu verschaffen, mehrere tausend Abgeordnete umfassen; es wäre also nicht arbeitsfähig. Es gibt mithin gute, ja zwingende Gründe, die kleineren Staaten auf Kosten der größeren zu bevorzugen. Angesichts der immer noch begrenzten Rechte des Europäischen Parlaments ist der Mangel an demokratischer Legitimation hinnehmbar. Geleugnet werden aber darf er nicht. 'Mehr Europa' auch um den Preis von weniger Demokratie: Eine solche Politik zu betreiben, heißt, dem europäischen Projekt zu schaden."
Geschichte
Mehr als eine Million Menschen starben bei der Blockade Leningrads im Winter 1941/42 durch die Wehrmacht. Nach dem Krieg wollte die sowjetische Führung von den Opfern und überhaupt der Blockade nichts hören, erzählt die Schriftstellerin Elena Chizhova in der NZZ. Selbst das Museum, dem die Leningrader Tagebücher und andere persönliche Dinge aus dieser Zeit übergeben hatten, wurde zerstört. Das ist kein Wunder, glaubt sie, denn Stalin hasste Leningrad und tat nichts, der Bevölkerung zu helfen: "Der Grund dafür war, so denke ich, das Selbstbewusstsein der Leningrader, ihre Kraft zum eigenständigen Denken - beides galt es zur Stärkung von Stalins gottgleicher Macht mit Stumpf und Stiel auszurotten. Ein für alle Mal zu zerstören. Anders lässt sich nicht erklären, dass zu Blockadezeiten ganze Züge von Rüstungsgütern aus Leningrader Fabriken aufs 'Festland' (wie das nicht okkupierte Gebiet der Sowjetunion bezeichnet wurde) rollten, während Stalin und seine Helfershelfer nicht einmal die minimale, geschweige denn die reguläre Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln organisierten."
Außerdem: In der FAZ schreibt der Historiker Gerd Krumeich zu hundert Jahren Versailler Vertrag.
Medien
Heute startet die re:publica, die mal als eine Art Messe und Podium der Netzöffentlichkeit startete und heute mehr von den Öffentlich-Rechtlichen dominiert wird, wenn man sich die Besetzung der Podien und teilweise die Themensetzung ansieht. Eröffnet wird das ganze hoch offiziell von Bundespräsidente Frank-Walter Steinmeier. Meedia gibt einen Überblick. Eines der Podien: "was kann der Journalismus dagegen tun und was heißt Relevanz in Zeiten von Donald Trump, Matteo Salvini und Heinz-Christian Strache überhaupt noch? Um das zu diskutieren, kommt eine hochkarätige vierköpfige Runde zusammen: 'Monitor'-Redaktionsleiter Georg Restle, ZDF-Journalistin Marietta Slomka, Falter-Chefredakteur Florian Klenk und Digitaljournalistin Vanessa Vu." Auch Sascha Lobo wird wie jedes Jahr eine Rede halten.
Wissenschaft
Ideen
Der Paritätsbeschluss fürs Brandenburger Parlament stößt in der FAZ auf das Misstrauen der Migrationsforscherin Sandra Kostner, die sich auf der Gegenwartsseite im vorderen Teil der Zeitung gegen linke Identitätspolitik wendet: "Bevor weitreichende und nur schwer revidierbare Entscheidungen getroffen werden, wäre es klug, sich mit den Motiven derjenigen Gruppen auseinanderzusetzen, die es als moralisch zwingendes Gebot der Stunde darstellen, dass sie ihrem statistischen Anteil in der Bevölkerung entsprechend in Parlamenten, Institutionen und Unternehmen repräsentiert sind. Ein Motiv liegt auf der Hand: Eigeninteresse."