9punkt - Die Debattenrundschau

Zum Besseren erziehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2020. Ihr Körper, schreibt in der SZ die Lyrikerin Caroline Randall Williams, deren schwarze Vorfahren von ihren weißen Vorfahren vergewaltigt wurden, sei das eigentliche Denkmal. Sind Weiße per se privilegiert? Im Rolling Stone und der Zeit gibt es vehementen Widerspruch. In der NZZ fragt der Historiker Eckhard Jesse, warum niemand fordert, die 613 Ernst-Thälmann-Straßen und Plätze in Deutschland umzubenennen. Zeitungen werden künftig von Google und von der Regierung mit finanziert, berichten Meedia und die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.07.2020 finden Sie hier

Ideen

Es ist auch bei uns Mode geworden, sich selbst als Rassist zu bezeichnen - reumütig, versteht sich - wie es Georg Seeßlen zum Beispiel gestern tat. In den USA ist "White Fragility" ein Buch der ehemaligen Konzernberaterin Robin DiAngelo, selbst weiß, ein Riesenbestseller - sowohl in der Amazon-Verkaufsliste als auch bei Kritikern großer Zeitungen wie der New York Times. Rolling-Stones-Mitarbeiter Matt Taibbi fasst sich in seinem Blog an den Kopf: Haben die Kollegen das Buch, das Weißen keinerlei Identität zubillige außer Träger eines rassistischen Suprematismus zu sein, eigentlich mal gelesen, fragt er. "DiAngelo weist uns darauf hin, dass hier nichts zu tun ist, außer 'sich zu bemühen, weniger weiß zu sein'. Lehnt man diese Theorie ab oder schleicht sich unverfroren aus der Langeweile ihrer Vorträgen hinaus - was sie als 'Verlassen der stressverursachenden Situation' beschreibt - bestätigt man damit nur ihre Auffassung von der Vorherrschaft der Weißen. Dieses intellektuelle Äquivalent zur Hexenprobe (wenn man ins Wasser geworfen wird und schwimmt, ist man eine Hexe) ist Orthodoxie in weiten Teilen der akademischen Welt."

Auch in der Zeit ist Jörg Scheller obergenervt von einer Rassismus-Diskussion, in der sich eine Seite die diskursive Oberhoheit zuspricht, während die andere mit dem Vorwurf des "weißen Privilegs" jederzeit mundtot gemacht werden kann: "Immer wieder ist zu lesen, Weiße seien per se privilegiert. Seltsam - ist das nicht die grundlegende Funktionsweise des Rassismus: Einzelne mit Gruppen gleichzusetzen, den Kollektivsingular an die Stelle präziser Beobachtung und Empirie zu setzen? In Wahrheit ist die Sache ja vertrackter. Warum ist es ausgerechnet dem Afroamerikaner Jay-Z gelungen, zum ersten Rap-Milliardär zu avancieren? Ist der ausgebeutete Rumäne in einem Tönnies-Schlachthof privilegiert, weil seine Hautfarbe Weiß ist?"

In Atlantic staunt der Politologe Yascha Mounk, wie gut sich amerikanische Konzerne mit Rassismuskritikern verstehen, selbst wenn diese weit über das Ziel hinaus schießen. Mounk erzählt an einigen Beispielen von Menschen, die nach Rassismusvorwürfen in den sozialen Medien umgehend gefeuert wurden - ohne dass die Firmen auch nur nachgehakt hätten. So wichtig der Kampf gegen Rassismus sei, dies führe in die falsche Richtung: "Erstens beschädigen diese Vorfälle das Leben unschuldiger Menschen, ohne einem edlen Zweck zu dienen. Zweitens sind solche Ungerechtigkeiten geeignet, einen politischen Gegenschlag zu provozieren. Wenn viele Amerikaner das Gefühl bekommen, dass diejenigen, die sich angeblich gegen Rassismus stellen, bereit sind, Unschuldige zu bestrafen, um in den Augen der Öffentlichkeit gut dazustehen, könnten sie durchaus zynisch gegenüber dem Unternehmen als Ganzes werden."

Was ist denn so schlimm daran, wenn man Menschen "zum Besseren erziehen" will - aktuell etwa mit Blick auf "gendergerechte Sprache oder antirassistischer Bedachtsamkeit", fragt der Schriftsteller Robert Misik in der NZZ: "Norbert Elias beschrieb in seinem 'Prozess der Zivilisation' monumental, wie sich über die Jahrhunderte Schamgefühl ausbreitete und Schamgrenzen entstanden, wie sich bewusste Affektbewältigung durchsetzte, Peinlichkeitsempfinden nach und nach weitere Kreise zog und die Menschen ihr Verhalten änderten - was auch heißt, dass als erwünscht angesehenes Verhalten sich automatisierte."

"Viele derer, die unnachsichtig den Namenswechsel von Schulen und Straßen fordern, weil sie in dieser oder jener Weise an Deutschlands schlimmste Epoche erinnern, sind bei Personen aus dem extrem linken Milieu flugs dabei, deren historisches Wirken offensiv zu rechtfertigen oder aus der Zeit heraus zu erklären", ärgert sich der Politologe Eckhard Jesse ebenfalls in der NZZ: In Deutschland kann man "mit noch immer 613 Ernst-Thälmann-Straßen oder -Plätzen - die Erinnerung an den moskauhörigen Vorsitzenden der KPD in der Weimarer Republik aushalten. Vielleicht ist es sogar gut, sie wachzuhalten. Schließlich weisen Namen nicht zwangsläufig auf die Vorbildhaftigkeit des Tuns ihrer Träger hin."

Weiteres: Kürzlich verurteilte Giorgo Agamben in der NZZ den Kapitalismus als "leere Religion" (Unser Resümee). Agamben hat den Kapitalismus offenbar nicht verstanden, erwidert ihm Kaspar Villiger nun ebenfalls in der NZZ: "Kapitalismus funktioniert, und alle andern Ordnungen, wie etwa der Sozialismus oder der Staatskapitalismus, funktionieren nicht. Sie hinterlassen in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Armut, Gulags und Hunger." Außerdem analysiert Ulrich M. Schmid in der NZZ noch einmal ausführlich Waldimir Putins geschichtsrevisionistische Aussagen (Unsere Resümees) zum Hitler-Stalin-Pakt.
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Gesellschaft

"Ich bin eine schwarze Frau aus dem Süden der USA. Sämtliche meiner unmittelbaren weißen männlichen Vorfahren waren Vergewaltiger. Meine bloße Existenz ist ein Relikt der Sklaverei und der Rassentrennung der Jim-Crow-Ära", schreibt die amerikanische Lyrikerin Caroline Randall Williams in der SZ und erklärt: "Falls Menschen dem Vermächtnis der Konföderation der Südstaaten ein Gedenken widmen wollen, falls sie Denkmäler wollen, dann ist mein Körper ein Monument." Alle Denkmäler in den Südstaaten müssen "niedergerissen" werden, fordert sie: "Mein Körper und mein Blut sind eine greifbare Wahrheit des Südens und seiner Vergangenheit. Die Schwarzen, von denen ich abstamme, gehörten den Weißen, von denen ich abstamme. Die Weißen, von denen ich abstamme, kämpften und starben im Bürgerkrieg für ihre verlorene Sache. Nun frage ich: Wer traut sich, von mir zu verlangen, dass ich sie feiern soll? Wer traut sich, von mir zu verlangen, ihre Reiterstandbilder zu ertragen?"

Außerdem zum Thema Rassismus: das Projekt "Afrozensus" soll die Diskriminierung von Schwarzen in Deutschland erstmals in Zahlen belegen, berichtet Elena Witzeck in der FAZ.

Misstrauen gegenüber der Polizei ist für eine funktionierende Gesellschaft unabdingbar, findet Martin Eimermacher in der Zeit (der mit diesem Argument auch Hengameh Yaghoobifarahs taz-Kolumne verteidigt): "Eben weil das Recht .. immer nur hinterher korrigierend eingreifen kann, braucht die Polizei Kritik von außen. Wissenschaftler beklagen allerdings seit Langem eine 'negative Fehlerkultur' der überwiegend konservativen Funktionäre. Wie wenig Polizeigewalt aufgearbeitet wird (manche Forscher sprechen davon, dass bis zu 95 Prozent aller Verfahren mit Einstellung enden) und wie schnell Polizisten einen Korpsgeist ausbilden, um Fehler zu vertuschen, ist hinlänglich dokumentiert. Viele Anwälte raten ihren Klienten, auch das weiß man seit Jahren, Polizeigewalt bloß nicht zur Anzeige zu bringen."

Die Digitalisierung wird die Urbanisierung erstmal nicht aufhalten, sagt der Stadtforscher David Koser im Gespräch mit Maritta Tkalec (Berliner Zeitung). Aber Gewerbe und Büros werden weniger werden in den Innenstädten, glaubt er und träumt vom Leben in verlassenen Shopping-Malls: "Natürlich kann eine teilweise Umnutzung des Zentrums auch ohne große bauliche Investitionen stattfinden. In der Weltwirtschaftskrise ab 1929 wurden Gewerberäume am Rand des Zentrums einfach in Wohnungen umgewandelt. Und die Berliner Alternativkultur der 1980er- und 1990er-Jahre fand ja auch in umgenutzten Gewerberäumen statt. (...) Andererseits kann es in schrumpfenden, wirtschaftlich angeschlagenen Städten ohne kreatives kulturelles Milieu auch zu einem Verfall des Zentrums kommen. Aber wie gesagt: In Berlin überwiegen die Chancen."
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Religion

"Abschied in dieser Welt": Auch mit solchen Schlagzeilen unterstreicht Giovanni Di Lorenzo, dass die Zeit heute die führende katholische Wochenzeitung ist. Zum Tod Georg Ratzingers setzte das Blatt dieses Tweet ab:

Schon letzte Woche durfte die Zeit die letzte Reise des Co-Papstes zu seinem Bruder begleiten, und Andreas Öhler schrieb: "Mit seiner Reise erweckte Joseph Ratzinger das Bibelwort 'Ich war krank, und ihr habt mich besucht' zu neuem Leben. Was für ein Vorbild geschwisterlicher Liebe in Zeiten von Corona, Hass und Gewalt."

Im Aufmacher des SZ-Feuilletons schreibt Rudolf Neumaier einen Nachruf auf Georg Ratzinger, der vor allem in den letzten Lebensjahre darunter litt, nur noch als Papstbruder wahrgenommen zu werden - und den die Chorknaben in dessen Zeit als Domkapellmeister zunächst als "gutmütigen Onkel" wahrnahmen: "Allerdings nur in der Freizeit. In den Chorproben sah das anders aus. Der Chorsaal mit der Raumnummer 800 war berüchtigt als Zuchthalle: Wenn er die Fassung verlor, büßte er seinen Anstand ein - aus dem netten älteren Herrn wurde ein wütender, schreiender, klavierdeckeldreschender Diktator. Leider verlor er die Fassung nicht selten. Bis in die späten Siebzigerjahre, solange es gesetzlich erlaubt war, verteilte er auch Ohrfeigen. Dass Buben im Domspatzen-Internat zu Beginn der Siebziger sexuell missbraucht wurden, will er nicht mitbekommen haben. Das beteuerte er bis zum Schluss, aber kaum einer glaubte ihm das."

540.000 Katholiken und Protestanten traten 2019 aus ihren Glaubensgemeinschaften aus, weiß Malte Lehming im Tagesspiegel. Und dann werde in Folge der Coronakrise für dieses Jahr auch noch "ein drastischer Einbruch bei der Kirchensteuer erwartet", seufzt er und fordert "Traditionsentschlackung" und Stärkung der Ökumene: "In einer zusammenwachsenden Welt sind Christen nicht nur dazu aufgerufen, einander Heimat zu bieten, sondern auch den Gläubigen anderer Religionen. Die Expansion areligiöser Milieus muss religiöse Menschen über konfessionelle Grenzen hinweg verbinden. Wer steht einem frommen Christen näher - ein gläubiger Muslim oder ein atheistischer Deutscher? Mit wem teilt er eine Erfahrungswelt?"

Heute entscheidet ein türkisches Gericht über die Zulassung einer Petition, die die Hagia Sophia wieder von einem Museum in eine Moschee umwidmen will, berichtet Ayla Jean Yackley  in politico.eu: Bis vor einem Jahrzehnt kamen solche Aufforderungen "nur von den Rändern. Doch in den letzten Jahren haben sie an Kraft gewonnen, da die Faszination für die osmanische Vergangenheit der Türkei wuchs, ermutigt durch die islamistisch geprägte Regierung von Erdogan, die viel von der streng säkularen Politik Atatürks zurückgenommen hat."
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Kulturpolitik

Der Architekt Daniel Libeskind soll nach dem Willen des Potsdamer Bürgermeisters Mike Schubert den höchst umstrittenen Wiederaufbau der Garnisonkirche (wo Hindenburg Hitler die Macht übergab, aber das war nur eine von mehreren Episoden) mit seinen typischen Gegenakzenten ein wenig gegen den Strich bürsten, berichtet Marco Zschiek in der taz: "Auch inhaltlich wächst der Druck auf die Befürworter einer Kirchenkopie. Kritiker des Wiederaufbaus der Potsdamer Garnisonkirche haben einen Internet-Lernort über die Geschichte des Bauwerks und die Debatten darüber gestartet. Ziel sei zu vermitteln, was die Garnisonkirche für die deutsche Geschichte und den 'Weg ins nationalsozialistische Unheil' bedeutet habe, sagte der Sozialwissenschaftler Micha Brumlik bei der Vorstellung des Internetportals am Freitag in Berlin."
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Medien

Google will Zeitungskonzerne peppeln und ruhigstellen, indem es Inhalte lizenziert, auf die es bisher ohnehin und kostenlos verlinkt (unser Resümee). Das ist neu, schreibt Steffen Grimberg in der taz und wirft als erster auch mal so etwas wie eine Zahl in die Debatte: "Und genau so neu ist, dass in der Branche von Beträgen in fünf- bis sechsstelliger Höhe geredet wird, die Google offenbar monatlich auszugeben bereit ist." Pro Zeitung? Und der Verdacht, dass sich gegenüber der bisherigen Praxis außer der noch größeren Abhängigkeit der Zeitungen von Google nichts ändert, bestätigt sich durch diese Information: "Obwohl bei dem Projekt die gesamten Inhalte der Beiträge Google zur Indizierung in der Suchmaschine vorliegen, ist laut Verlagskreisen bei Google selber zunächst lediglich ein opulenteres Anteasern geplant, das dann wiederum auf die Webseiten der Redaktionen verlinkt."

Eine neue Millionenförderung erhalten die Zeitungen außerdem durch die Bundesregierung, meldet die Meedia-Redaktion: Schon heute soll der Bundestag darüber abstimmen. Es geht darum, die Zustellförderung für Zeitungen nochmal kräftig auszubauen und zu institutionalisieren: "Ziel sei es, die Ganze die Medienvielfalt und -verbreitung in Deutschland zu erhalten, wie die CDU mitteilte. Für dieses Jahr sieht der Entwurf 20 Millionen Euro vor und in den Folgejahren insgesamt 200 Millionen Euro. Eine genaue Verteilung und nähere Details blieben unklar."
Archiv: Medien