Efeu - Die Kulturrundschau

Mikrokosmos, Makrokosmos und wieder zurück

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02.07.2020. Angesichts der Forderung einer Studentin, Georg Herolds Bild "Der Ziegelneger" von 1981 im Städel abzuhängen, stellt die Welt fest: Korrektes Menschsein geht durchaus zusammen mit interpretatorischem Schwachsinn. Die Zeit wagt sich in das Sommerhaus der beinahe unmöglichen Schriftstellerin Monika Maron. Die FR feiert die Grafikdesignerin Anette Lenz. Der Tagesspiegel bewundert die transzendente Qualität von Christian Petzolds "Undine", Kinostoff reinsten Wassers, sekundiert die Zeit. Das Van Magazin weiß nicht so recht wo hingucken, beim kleinen Privatkonzert der Mezzosopranistin Hagar Sharvit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.07.2020 finden Sie hier

Film

Franz Rogowski und Paula Beer in Christian Petzolds "Undine" (Schramm Film)

"Christian Petzold ist ein moderner deutscher Romantiker", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel über "Undine", Petzolds neuen Film, der auf der Berlinale gefeiert wurde (unsere Kritik) und nach Corona-Umwegen erst jetzt in die Kinos kommt. Der Filmemacher greift den Undine-Mythos von der Wasserfrau auf, die sich in einen Menschen verliebt, und versetzt ihn in die Tristesse der heutigen Berliner Innenstadt: "Die Unbehaustheit der Figuren verleiht Petzolds Werk eine transzendente Qualität; sie streifen durch die Zeitläufe, getrieben von politischen Systemen und ihren Begehren. Schicksalsfiguren, die sich Kräften entgegenstellen, die sie nicht verstehen."

Und Thomas Assheuer schreibt in der Zeit: "Mit verblüffenden Anspielungen macht Petzold" aus der Vorlage "Kinostoff reinsten Wassers, aber er tut es viel radikaler, als es die zarte romantische Deckschicht seines Films vermuten lässt: Die Liebe zwischen Undine und Christoph verkörpert gleichsam das Gegenprinzip zur Welt der ökonomischen Menschen, sie ist jenseits von Tausch und Berechnung, von Kalkül und Habenwollen. Die beiden sind frei und spekulieren auf nichts, oder klassisch gesagt: Sie erotisieren den Intellekt und vergeistigen die Natur." Die Figur der Undine ist üblicherweise eine Projektionsfläche, doch dieser Film ist aus ihrer Perspektive erzählt, lobt Kevin Neuroth im Freitag. Große Gespräche mit dem Regisseur gibt es in der FR und in der SZ (weitere Gespräche resümierten wir bereits hier).

Weitere Artikel: Adrian Daub beobachtet für ZeitOnline, wie Künstler und Künstlerinnen, darunter Tina Fey, die einen Sender bat, einige Folgen ihres Sitcom-Klassikers "30 Rock" wegen Blackfacing-Szenen offline zu nehmen, ihr Werk im Lichte aktueller Rassismusdebatten neu beurteilen. Jenni Zylka wirft in der taz einen Blick auf die Lage der Berliner Kinos, die seit gestern wieder eingeschränkt spielen dürfen. In der Berliner Zeitung geben sich die beiden Berliner Kinobetreiber Iris Praefke und Wulf Sörgel derweil trotz aller Nöte zuversichtlich. Bert Rebhandl schreibt für den Standard ein Kurzporträt der Filmemacherin Sandra Wollner, deren Film "The Trouble with Being Born" bei der Diagonale ausgezeichnet wurde. Nachrufe auf den Regisseur und Schauspieler Carl Reiner schreiben Barbara Schweizerhof (taz), Dirk Peitz (ZeitOnline) und Andreas Kilb (FAZ).

Besprochen werden Dani Levys Verfilmung der "Känguru-Chroniken", die nach der Corona-Pause wieder in die Kinos kommt (taz), Emin Alpers "Die Geschichte von drei Schwestern" (Berliner Zeitung) und Carolina Hellsgårds Urlaubsfilm "Sunburned" (SZ).
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Literatur

Moritz von Uslar traut sich was. Er besucht für die Zeit Monika Maron in ihrem Sommerhaus in der Uckermark, die "Altlinke, einst Inbegriff der schwierigen DDR-Autorin und Ost-Intellektuellen", die heute "als Stimme der Neuen Rechten" gelte, als "eine 'politisch auffällige Autorin' (SZ), noch keine Geächtete, aber eine beinahe unmögliche Person". Und jetzt hat sie auch noch einen neuen Roman geschrieben, in dem sie die neuen Männer und das Gendern kritisiert. Ist das nicht unklug? Uslar versteht es nicht: "Über Flüchtlinge hat sie betrüblich schlichte Dinge zu sagen. Windräder? Die 20 Prozent für die AfD in ihrer Region seien auch das Resultat des Missstands, dass sonst keine Partei mit dem Ärger der Menschen etwas anzufangen wisse: 'Es gibt in diesem Land keine legitime Opposition.' Und noch mal zugespitzt: In diesem Land werde jede oppositionelle Meinung sofort delegitimiert. Du liebes bisschen, natürlich ist es nicht egal, wenn 20 Prozent der Uckermärker sich wegen Windrädern im demokratischen Spektrum nicht mehr aufgehoben fühlen. Aber wer will diese Frau Maron denn nun sein, eine vorpommersche Bürgerrechtlerin oder eine Schriftstellerin, die im ganzen Land gelesen wird?"

700 bis 800 Künstler zogen gestern in einem Schweigemarsch durch Wien, meldet der Standard. Damit wollten sie für ihr Recht auf Arbeit und soziale Absicherung auch in Coronazeiten demonstrieren. Im Interview wird der Autor Gerhard Ruiss noch konkreter: "Grundsätzlich wollen wir ohnehin Grundeinkommen für alle. Aber angesichts der prekären Situation, in der wir stehen, könnte man sagen: Warum nicht sofort für Künstlerinnen und Künstler? Wir haben keine Krankenversicherung, die vorsieht, dass wir Krankengeld bekommen, und wir haben auch keine Arbeitslosenversicherung. Wir stehen, wenn wir keine Arbeitsmöglichkeit haben, vor dem Nichts. In dieser Drastik haben das andere nicht. Man könnte das Grundeinkommen als Aufstockung einführen für alle, deren Einkommen unter der Armutsgrenze liegen."

Besprochen werden unter anderem Helen Wolffs "Hintergrund für Liebe" (Dlf Kultur), Nina Bunjevacs Comic "Bezimena" (taz), Alex Wheatles "Home Girl" (Tagesspiegel), Mariam Kühsel-Hussainis "Tschudi" (SZ), David Vanns "Momentum" (NZZ) und Andreas Heidtmanns "Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde" (FAZ).
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Kunst

Georg Herold, "Ziegelneger" (1981). Städel


Im Städel Museum hängt ein Bild von Georg Herold aus dem Jahr 1981, das zeigt einen schwarzen - hier eher lilafarbenen - Mann, dem an einer Ampel, die grün zeigt, von einem Mob ein Ziegelstein an den Kopf geworfen wird. Es heißt: "Der Ziegelneger". Das Bild wurde jetzt von einer Studentin namens Aniela entdeckt und per Instagram zum Empörungssturm freigegeben, berichtet in der Welt ein fassungsloser Hans-Joachim Müller. Hingucken und Denken scheint nicht mehr gefragt zu sein, Reflexe regieren: "Der  groteske 'Rassismus'-Vorwurf an Herold und das Städel-Museum ist nichts anderes als vermeintlicher Rückzug in den Schutzraum sprachamtlich beglaubigter Codes, in dem sich das gute oder bessere, jedenfalls korrekte Menschsein komfortabel aushalten lässt, in dem man aber leider nicht gefeit ist gegen interpretatorischen Schwachsinn. Womöglich sind das schon wieder viel zu viele Worte. Womöglich kann man das gar nicht, der Herold-Kritikerin ins Wort fallen. Sie hat das Wort. Sie appelliert, wie zu lesen war, an das Städel, das Bild unverzüglich abzuhängen, 'aus dem ganz einfachen Grund, weil Menschen darum schreien und bitten, weil sie nicht möchten, dass Weißen Menschen die Möglichkeit gegeben wird, ins Museum zu gehen und den Stereotyp ihres Leides zu betrachten. Das ist nicht in Ordnung, darüber überhaupt zu diskutieren.' Nicht einmal mehr diskutieren? Halten zu Gnaden, Frau Aniela, genau das muss sein, dass weißen oder nicht weißen Menschen die Möglichkeit gegeben wird, unvermutet im Museum vor dem Zerrbild des rassistischen Leids zu stehen."

Michael Herholzer sah das vor ein einigen Tagen im Rhein-Main-Teil der FAZ noch anders: Typisch Postmoderne, meinte er. Da ging's nur um Provokation und radikale Subjektivität: "Eine ungeschönte Darstellung, die den rassistischen Alltag zum Thema hat: das mag man in dieser Arbeit sehen. Eine, die ihn anprangert: wohl kaum. Dafür spricht schon die ubiquitäre Verwendung des Ziegelstein-Motivs im Werk Herolds, der sich bald von den Jungen Heftigen absetzte und als Bildhauer mit allerlei Alltagsgegenständen, unter anderem Dachlatten, experimentierte." (Müller erinnert auch an die Dachlatten, die Herold in eine Vitrine hängte: "Dass ihm dafür der Titel 'Herrenperspektive' eingefallen ist, das gehört zu den glücklichen Augenblicken der Begriffsgeschichte.")

Weitere Artikel: Georg Imdahl blättert für die FAZ durch Band 5 des "Catalogue Raisonné" von Gerhard Richter und beobachtet einen "ausgeprägten Ordnungsdrang" des Künstlers. "Richter zählt zu jenen Menschen, denen ein unaufgeräumter Schreibtisch einem Anschlag auf seine Stimmung gleichkommt. Zugleich darf man seinem Werk einen Wiederholungszwang unterstellen, in dem sich der Künstler ständig selbst reflektiert, überprüft, vergewissert."

Besprochen werden die Ausstellung "Mapping the Collection" im Kölner Museum Ludwig, mit Werken von queeren, indigenen oder weiblichen Künstlern aus den sechziger und siebziger Jahren in den USA, die es selten in repräsentative Ausstellungen geschafft haben (Zeit).
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Bühne

Das gemeinsame Singen in geschlossenen Räumen ist derzeit in Berlin verboten. Im Gespräch mit der FAZ erklären die drei Opernintendanten Berlins daher: "Um ganz grundsätzlich zu antworten: Wir können momentan keine verbindlichen Spielpläne machen." Wiebke Hüster informiert in der FAZ über die ebenfalls unerfreuliche Lage der Tänzer und Tanzhäuser in Zeiten des Coronavirus.

Die nachtkritik streamt heute ab 18 Uhr "Fiskus" von Felicia Zeller, uraufgeführt von Christoph Diem am Staatstheater Braunschweig am 18. Januar 2020. Hier der komplette digitale Spielplan.
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Stichwörter: Coronavirus, Zeller, Felicia

Design

Scène nationale (Nationale Bühne), 2006. © Anette Lenz & Vincent Perrottet
In der FR ist Sandra Danicke hin und weg von einer Ausstellung der Grafikdesignerin Anette Lenz im Frankfurter Museum Angewandte Kunst: "Eine Werkschau habe sie nicht machen wollen, erzählt die Grafikdesignerin. Stattdessen hat sie komplette Räume gestaltet, in denen diverse Elemente wie Typografien oder Farben plastisch im Zentrum stehen, in denen Lichtwolken pulsieren und wabern und sich Schriften um Säulen oder Wände schlängeln. Als Besucherin hat man so das Gefühl, durch die Plakatwelten hindurch zu spazieren und die Elemente, die zum Handwerk von Lenz gehören, nach und nach zu verstehen: Rhythmus, Wiederholung, Struktur. Mikrokosmos, Makrokosmos und wieder zurück."
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Musik

Corona treibt Blüten - zum Beispiel die "One to One"-Konzerte in den Berlin Decks in Berlin-Moabit, bei dem Benedikt von Bernstorff die Mezzosopranistin Hagar Sharvit erleben konnte. Auf VAN erzählt er von diesem leicht befremdlichen, zumindest aber ungewohnten Erlebnis. "Die übliche Konzertsituation ist in diesem Format auf den Kopf gestellt, weil hier der Zuhörer und nicht die Künstlerin einen 'Auftritt' hat. Auch auf meinem Sitz fühle ich mich kurz befangen. Die Musikerin sieht mich freundlich und konzentriert an. Könnte es bei dieser stillen Ouvertüre aufdringlich wirken, das Gegenüber ununterbrochen anzuschauen oder wäre es umgekehrt unhöflich, den Blick abzuwenden?" Beim Gespräch erfährt, dass der Künstlerin diese Konzerterfahrungen "erkennbar viel bedeuten. Ich frage, wann für sie der Moment da ist, mit dem Singen zu beginnen. Wenn die Anspannung vom Zuhörenden abgefallen sei. Dann bemerke sie beim anderen 'Traurigkeit', sagt sie erst, um sich dann zu korrigieren: Nicht 'sadness', sondern 'vulnerability'." Instagram bietet einen Einblick in die Situation:

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Die Berliner Chöre sind entsetzt, dass Berlin das gemeinschaftliche Singen wegen Corona zunächst noch untersagt, berichtet Hanna Schmidt in VAN. Ob das Chorsingen tatsächlich pandemisch ungünstig ist, lässt sich den verschiedenen Studienergebnissen nicht eindeutig entnehmen: Die Münchner Bundeswehr-Universität etwa hält Ansteckungen beim Chorsingen für "'äußerst unwahrscheinlich', empfiehlt aber trotzdem, in hohen und gut durchlüftbaren Räumen zu singen - natürlich mit entsprechendem Sicherheitsabstand. Die Risikoeinschätzung des Universitätsklinikums Freiburg spezifiziert die Ratschläge noch genauer: Chorproben sollten nur in sehr großen Räumen mit mindestens zwei Meter Abstand zueinander stattfinden und zudem alle 15 Minuten von Stoßlüftungspausen unterbrochen werden. Dieses Papier weist allerdings auch darauf hin, dass zum Aerosolausstoß beim Singen noch nicht genügend Daten für endgültige Schlussfolgerungen vorliegen. Die Deutsche Stimmklinik riet demgegenüber mit Verweis auf Superspreading-Chorproben in den USA und Deutschland zunächst vollumfänglich vom gemeinsamen Singen ab. Auch eine Studie der Berliner Charité steht Chorproben aufgrund des Ansteckungsrisikos kritisch gegenüber."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel plaudert Nadine Lange mit der Berliner Rapperin Haiyti. Im Interview mit der Zeit spricht Laura Marling über ihr neues Album, Pop und Corona. In der VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Eva Schorr. Außerdem spricht Lücker in VAN mit dem Dirigenten Roland Kluttig, dessen großer Abschied vom Pult des Landestheaters Coburg wegen Corona zu einer Reihe kleiner Abschiede eingedampft wurde. Harald Eggebrecht (SZ) und Laurenz Lütteken (NZZ) schreiben Nachrufe auf den Musikwissenschaftler Ludwig Finscher. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazzpianisten Ahmad Jamal zum 90. Geburtstag.

Besprochen wird Ernst Hofackers Buch "Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts" (Jungle World).
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