9punkt - Die Debattenrundschau

Die Uhr tickt laut und klar

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2021. Es wird endlich Zeit, dass die Deutschen angemessen des Überfalls auf die Sowjetunion gedenken. Das heißt aber auch, dass man keine Waffenlieferungen in die Ukraine fordern sollte, findet die SZ. Die New York Times feiert den Juneteenth: Aber die Historikerin Kate Masur erinnert auch daran, dass das Ende der Sklaverei in den meisten Staaten nicht das Ende diskriminierender Gesetze bedeutete - bis heute. In der FAZ plädiert Patrick Bahners gegen die Rückgabe der Benin-Bronzen: Deutschland war in Nigeria nie Kolonialherr, und die Museen in Paris, London und New York rücken die Bronzen auch nicht raus. Der Tagesspiegel recherchiert zu palästinensischen Schulbüchern, die von Deutschland und der EU mitfinanziert werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.06.2021 finden Sie hier

Geschichte

Es wird Zeit, dass Deutschland endlich des Überfalls auf die Sowjetunion vor achtzig Jahren und des mörderischen Krieges gedenkt, den die Nazis dort führten, schreibt SZ-Redakteur Joachim Käppner im Leitartikel der Zeitung. Er kann es nicht lassen, das große Thema mit Tagespolitik zu verbinden: Frank-Walter Steinmeier, der angemessene Worte zum Anlass fand, wünscht er eine zweite Amtszeit. Aber Käppner ist nicht mit allen Politikern zufrieden. "Nur ein Beispiel: Ist es wirklich eine kluge Idee, wenn der Bundesvorsitzende der Grünen Waffenlieferungen an die Ukraine anregt? Man kann, ja soll Putins Gewaltpolitik dort verurteilen, aber dabei doch nicht vergessen, dass nicht wenige Ukrainer, damals von Stalin brutal unterdrückt, zu Handlangern der deutschen Invasoren wurden - und viele andere Ukrainer wiederum Opfer der Nazis. Diese Wunden einer sehr komplexen und grausamen Geschichte sind bei Russen und Ukrainern nicht verheilt."

Der "Juneteenth", der 19. Juni, ist der Tag, an dem in den USA endgültig die Sklaverei abgeschafft wurde. In diese Woche wurde er mit dem "Juneteenth National Independence Day Act" vom Senat und Joe Biden offiziell zum Feiertag gemacht, berichtet Christian Zaschke in der SZ: "Die politische Umsetzung ging nun für amerikanische Verhältnisse sensationell schnell. Am Dienstag dieser Woche verabschiedete der Senat einstimmig die Gesetzesvorlage, der zufolge Juneteenth ein nationaler Feiertag werden sollte. Dass es in diesem zerstrittenen Land jemals wieder einen einstimmigen Senatsbeschluss geben würde, hätten wohl selbst kühnere Optimisten nicht für möglich gehalten."

Die Historikerin Kate Masur erinnert in der New York Times allerdings daran, dass das Ende der Sklaverei in den meisten Staaten nicht das Ende diskriminierender Gesetze bedeutete - bis heute: "Der Juneteenth sollte uns also nicht nur an die Freude und Erleichterung erinnern, die das Ende der Sklaverei begleiteten, sondern auch an die unvollendete Arbeit der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Sklaverei. Dank der Bemühungen von Generationen von Aktivisten gehören Gesetze, die explizit auf der Grundlage von Hautfarbe diskriminieren, der Vergangenheit an. Aber heutige Konservative erinnern an ihre Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert, wenn sie die Duldung der Bundesbehörden für Wahlgesetze in Bundesstaaten fordern und dies mit den Rechten von Bundesstaaten und angeblich verfälschten Wahlergebnissen rechtfertigen."
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Ideen

Die New York Review of Books ist zwar auch nicht mehr, was sie mal war. Aber es gab in Europa immer mal wieder den Traum, ein europäisches Pendant zu schaffen (Bourdieu hat's mal versucht, auch der Perlentaucher, mit signandsight.com). Nun gründet sich, auch mit Crowdfunding, eine European Review of Books (Website), in Zusammenarbeit mit der linken amerikanischen Zeitschrift n+1. Der Herausgeber George Blaustein ist ein Amerikaner, der seit langem in Amsterdam lebt. Und Amerika spielt in dem Gespräch, das Peter Kuras mit ihm für die Literarische Welt führt, eine große Rolle: "Ich denke, es ist wichtig zu erkennen, dass das Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - zumindest teilweise - eine amerikanische Erfindung war. Ein einheitlicher westeuropäischer Kulturblock war ein Imperativ des Kalten Krieges und auch eine transatlantische Produktion. Denken Sie an all die Zeitschriften aus der Mitte des Jahrhunderts, die von der CIA finanziert wurden, halbgeheim. Der Monat in Deutschland, Encounter in England, Preuves in Frankreich. Das waren großartige Zeitschriften, auch wenn sie versuchten, linksliberale Intellektuelle vom Kommunismus weg und zu amerikanischen Werten hin zu locken."

Auch die Berliner Zeitung steigt jetzt in die Debatte um die Rede von Carolin Emcke (unsere Resümees) ein. Hanno Hauenstein verteidigt sie gegen den Vorwurf, Antisemitismus zu verharmlosen: Es sei hier ein "destruktiver Philosemitismus" am Werk, und es sei kein Zufall, dass Emcke in dem Moment angegriffen werde, "wo Gedankenanstöße verschiedener Wissenschaftler:innen, zu versuchen, den Holocaust - etwa in einer Art multiperspektivischer Rückkopplung an die koloniale Gewaltgeschichte - besser zu verstehen, als Verharmlosung des ersteren gebrandmarkt werden. Oder wo medienaffinen Kulturschaffenden, die auf sehr unterschiedliche Weisen versuchen, Stoßluft in die in formalistischen Phrasen erstarrte Erinnerungskultur zu bringen, von den deutschen Leitmedien größtenteils Ignoranz oder Aversion entgegenschlägt."
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Kulturpolitik

"Mit der Herausgabe der Benin-Bronzen macht Deutschland sich erpressbar", schreibt Patrick Bahners im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ und hält ein überraschend klares Plädoyer gegen die Rückgabe der berühmten Werke. Zwar leugnet er nicht, dass sie aus Raub hervorgegangen sind, aber sie seien "nicht in dem Sinne eine Hinterlassenschaft der kolonialen Vergangenheit Deutschlands, dass Deutschland je Herrschaft über das Herkunftsgebiet dieser Gegenstände ausgeübt hätte". Bahners würdigt die Verdienste des Anthropologen Felix von Luschans, der den kunsthistorischen Wert der Bronzen erkannte und sie erwarb, um zeigen zu können, dass es eine genuin afrikanische Kunst gibt. Und Bahners ergänzt: "Die Museen in London, Paris oder auch New York lassen keine Bereitschaft erkennen, auf die Forderungen aus Nigeria einzugehen. In Berlin konnten die Verfechter der Restitution aus Wissenschaft und Publizistik den Hebel öffentlichen Drucks ansetzen, weil die weltberühmte Sammlung der Benin-Bronzen einen neuen Ort erhalten sollte: im Humboldt-Forum, dem rekonstruierten Königsschloss."
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Europa

Wenig bekannt: Der Bundestag hat eine eigene Polizei, die direkt dem Bundestagspräsidenten untersteht. Es handelt sich um den kleinsten Bezirk der Polizei mit 200 BeamtInnen. Hier "mischen sich eine gute finanzielle Ausstattung mit regelmäßiger Unterforderung im Alltag", berichten Kersten Augustin und Sebastian Erb in einer Recherche für die taz. Und mit rechtsextremen Umtrieben: "Eine Recherche in den Reihen der Polizei ist nie leicht, so auch in diesem Fall. Viele Beamt*innen wollen nicht mit der Presse sprechen, anderen ist angeblich nie etwas Problematisches aufgefallen. Die, die Probleme thematisieren, haben Angst vor Konsequenzen und äußern sich nur, wenn ihre Identität geschützt bleibt. Aus den Äußerungen dieser Polizist*innen geht hervor, dass auch außerhalb von Chatgruppen rassistische Bezeichnungen wie 'Kanacke', 'N****' oder 'Schwarzkopf' bei der Polizei des Bundestags alltäglich sind. Besonders schlimm sei es nach dem Sommer 2015 geworden, als viele Geflüchtete nach Deutschland kamen. Im Pausenraum hätten Polizisten Flüchtlinge als Terroristen bezeichnet. Bei der Arbeit zeigten einige Kolleg*innen ihre Missachtung für die Bundesregierung und Sympathien für die AfD."

Die schottische Autorin Val McDermid richtet in der SZ einen Aufruf an die Europäische Union. Die Schotten wollen die EU: "In jedem einzelnen Wahlkreis stimmte die Mehrheit für Remain. Dennoch wurden wir vergangenes Jahr aus der EU gerissen." McDermid möchte ein klares Signal aus Brüssel: "Daher sollen die EU-Institutionen Stellung beziehen und Schottland die Gewissheit geben, die es braucht - die Gewissheit, dass wir erneut willkommen sind. Aus der europäischen Zivilgesellschaft erfährt Schottland bereits viel Zuspruch. Tausende Europäer haben kürzlich einen Aufruf zur Solidarität, die Kampagne Europe for Scotland, unterzeichnet. Die Uhr tickt laut und klar. Es sollte besser früher als später gehandelt werden."
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Politik

Deutschland, die EU und die UN finanzieren palästinensische Schulbücher. Ob die Inhalte den Richtlinien dieser Finanziers entsprechen, ist eine andere Frage. Darum wurde beim Braunschweiger Georg-Eckert-Institut eine Studie in Auftrag gegeben, die monatelang geheimgehalten wurde, jetzt aber veröffentlicht wurde (hier als pdf-Dokument). Muhamad Abdi und Sebastian Leber gehen die Studie im Tagesspiegel durch und können das milde Urteil der Studie nicht teilen: "Tatsächlich finden sich in den untersuchten Büchern etliche Beispiele für Verstöße gegen diese Richtlinien. Manche davon haben die deutschen Forscher schlicht übersehen oder ignoriert. Etwa die Stelle im Geschichtsbuch der elften Klasse, die das Münchner Olympia-Attentat von 1972 als Angriff auf 'zionistische Interessen im Ausland' verherrlicht. Andere Verstöße werden von den Forschern im Mittelteil der Studie durchaus benannt, spielen später jedoch keine Rolle fürs Gesamturteil. So erwähnt das GEI zwischendurch, wie Israelis 'entmenschlicht' werden, findet auch 'antisemitische Motive'."
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Stichwörter: Israel, Palästina, Olympia