9punkt - Die Debattenrundschau

Politisch farblose Männer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2021. Nach Merkel kandidieren drei MerkelianerInnen, beobachtet Julian Nida-Rümelin in der Welt. Bei der Debatte um A. Dirk Moses schließt sich ein Hufeisen, konstatiert der Historiker Norbert Frei in der SZ: Linke wollen den Holocaust "kontextualisieren", und Rechte freuen sich über "postkoloniale Angriffe auf den 'Auschwitz-Mythos'".  In Dänemark schließt sich auch ein Hufeisen, schreibt der dänische Autor Carsten Jensen in der FAZ: Die Sozialdemokratie feiert Erfolge - mit rechtspopulistischer Politik. Die FR nimmt den von der russischen Regierung betriebenen und finanzierten Staatssender RT DE unter die Lupe.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.06.2021 finden Sie hier

Europa

Überall ist die Sozialdemokratie in der Krise, nur in Dänemark nicht, wo sie nach Jahren der Misserfolge wieder auf 30 Prozent kommt. Ihr Erfolgsrezept haben sich die dänischen Sozialdemokraten bei der populistischen Danske Folkeparti abgeschaut, schreibt der dänische Schriftsteller Carsten Jensen in der FAZ: "Keine Flüchtlinge und eine harte, konfrontative Linie gegenüber Zuwanderern... Die neue Vorsitzende der Partei, Mette Frederiksen, ist die Inkarnation der Verteidigerin einer robusten volkstümlichen Tradition, zu der ihrer Interpretation nach auch die Abneigung gegen Zuwanderer gehört. Um von der äußersten Rechten Arbeiterstimmen zurückzugewinnen, sollten echte Sozialdemokraten von nun an reden und klingen wie die äußersten Rechten."

In Belarus "fehlt nur ein Streichholz. Das kann richtig eskalieren", sagt im Welt-Gespräch mit Hanns-Georg Rodek der Filmemacher Aliaksei Paluyan, dessen Film "Courage" über die Proteste in Belarus derzeit auf der Berlinale läuft (Unser Resümee). Außerdem spricht er über "Sippenhaft" in Belarus, erklärt, weshalb Belarussen nach Tschernobyl fliehen und befürchtet, dass Putin Belarus am liebsten annektieren würde: "Solche imperialistischen Gedanken werden nie verschwinden, solange in Russland der Geheimdienst an der Macht ist. Belarus hat das Glück, dass es geografisch nicht gespalten ist wie die Ukraine. Sonst wären längst die russischen Panzer bei uns. Putin wartet, dass die friedlichen Proteste in einen Bürgerkrieg ausarten. Dann kommt er."

Ebenfalls in der Welt nimmt der Philosoph und Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin einige Umwege über Identitätspolitik, Liberalismus und Kommunitarismus, um schließlich festzustellen: Die Positionen der drei Kanzlerkandidaten lassen sich kaum unterscheiden: "Zyniker mögen im Rückblick nach der kommenden Bundestagswahl im Herbst dieses Jahres sagen, sechzehn Jahre Angela Merkel hätten der Republik einen Stempel aufgeprägt, der grundsätzliche Alternativen zu ihrer Politik nicht zuließ. Entweder es siegt derjenige, der von allen Spitzenpolitikern der Union über Jahre am vehementesten die Inhalte Merkelscher Politik verteidigte; oder derjenige, der an ihrer Seite als Vizekanzler zwar einiges an sozialdemokratischen Inhalten durchsetzen konnte, aber sich nicht als eine Alternative zu Merkel profilieren wollte. Oder es kommt zu einer Kanzlerschaft der grünen Spitzenfrau, die in Habitus, Nüchternheit und Bodenständigkeit der jungen Merkel durchaus ähnlich ist."

Hubertus Knabe zieht in seinem Blog eine recht kritische Bilanz der Arbeit der Stasi-Unterlagenbehörde, deren Akten ausgerechnet zum 17. Juni ins Bundesarchiv überstellt wurden. So liege "das einstige Netz der Stasi bis heute größtenteils im Dunkeln. Anders als in Tschechien hat die Öffentlichkeit in Deutschland keine Möglichkeit zu überprüfen, ob eine Person für den Staatssicherheitsdienst tätig war oder nicht. Vor allem in den sozialen Netzwerken gedeihen deshalb die Gerüchte, wer alles für die Stasi gearbeitet hätte - bis hin zu Bundeskanzlerin Angela Merkel, die angeblich den Decknamen 'Erika' getragen hätte, wofür es jedoch keinerlei Beleg gibt. Stellt man in Rechnung, dass die Behörde jährlich rund 100 Millionen Euro kostet und insgesamt mehr als drei Milliarden Euro verausgabt hat, war das deutsche Aufarbeitungssystem nicht besonders effizient."

Außerdem: Zum 90. Geburtstag gratuliert Johan Schloemann in der SZ dem Politikwissenschaftler und einstigen bayrischen CSU-Kultusminister Hans Maier mit einem großen Interview.
Archiv: Europa

Politik

Proteste der Zivilgesellschaft gegen das Regime im Iran werden niedergeschlagen, Menschen inhaftiert oder getötet - das einzige, was den Iranerinnen noch bleibt, ist nicht zur Wahl zu gehen, schreibt die ARD-Korrespondentin Natalie Amiri im Tagesspiegel. Entsprechend rufen zahlreiche IranerInnen über die sozialen Medien zum Wahlboykott auf: "Demokratische Wahlen haben keine Bedeutung mehr. Die Wahlen, mit der die Menschen zumindest die von einem ultrakonservativem Gremium im Vorfeld ausgewählten Kandidaten wählen konnten. Sie gingen jedes Mal zur Wahl, um den schlimmeren Kandidaten zu verhindern und glaubten hoffnungsvoll dem 'Reformer'. Doch dieses Mal hat das religiöse Establishment die Grenze überschritten.(...) Beeinflusst wird das Gremium, das über die Kandidaten bestimmt, vom Revolutionsführer. Das Gremium sortiert die Kandidaten aus und lässt nur die Handvoll zu, deren Loyalität zum System sie sich sicher sind. Dieses Mal sind sie auf Nummer sicher gegangen und haben nicht einmal mehr einen 'Scheinreform'- Kandidaten zugelassen. Sechs politisch farblose Männer wurden zugelassen und ein Spitzenkandidat: Ebrahim Raisi. Er wird auch 'Blutrichter' genannt, wegen seiner Mitgliedschaft in dem 'Vierer-Komitee', mitverantwortlich für Massenhinrichtungen von Tausenden politischen Gefangenen im Sommer 1988."

Auf Zeit Online kommentiert Michael Thumann: "Nach der Abstimmung dürfte der Weg von einer islamistischen Fassadendemokratie mit klerikaler Gängelung und gelenkten Wahlen zu einer nackten Diktatur offen sein. Syrien lässt grüßen. Bisher war eine hohe Wahlbeteiligung stets so etwas wie ein Legitimitätsausweis des Regimes, doch Ali Chamenei scheint zu meinen, dass er selbst den nicht mehr braucht."
Archiv: Politik

Geschichte

Zumindest auf den Meinungsseiten der SZ ist die Debatte um A. Dirk Moses' Polemik gegen den "Katechismus der Deutschen" (unsere Resümees) nun auch angekommen. Es gehe Moses nur vordergründig um die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, stellt der Historiker Norbert Frei in seiner Kolumne fest. "Ziel ist vielmehr die Etablierung neuer Regeln: Der Holocaust soll 'kontextualisiert', Antisemitismus soll als bloße Unterform eines allgegenwärtigen Rassismus verstanden werden, und keinesfalls darf weiterhin die Einsicht gelten, dass Antisemitismus sich als Antizionismus verkleiden kann... Moses' Mixtur aus derber Polemik und aktivistischer Agenda ist nicht nur für Verfechter linker Identitätspolitik attraktiv, sondern auch für die intellektuelle Rechte. Kaum war der Beitrag online, titelte Martin Sellner auf der Homepage der neurechten Zeitschrift Sezession, das Lieblingswort der Holocaust-Leugner vorsichtshalber in Anführungszeichen setzend: 'Postkoloniale Angriffe auf den 'Auschwitz-Mythos'".
Archiv: Geschichte

Gesellschaft

Die Initiative "Artists Against Antisemitism" hat sehr viel weniger von sich reden gemacht als BDS oder Intendanten deutscher Kulturinstitutionen, die BDS-Positionen mehr Raum verschaffen wollen. In der taz sprechen Torsun Burkhardt von der Band Egotronic und die Schauspielerin Sandra Kreisler über ihre Initiative. Kreisler, Autorin von "Jude sein - Ansichten über das Leben in der Diaspora", erzählt, warum sie darüber nachdenkt, die Koffer zu packen: "Es ist ja nicht nur Deutschland. In England und Frankreich ist Antisemitismus heftig, und in den USA ist es vor allem an den Universitäten ganz schlimm. Die größten Sorgen macht es mir, dass auch junge Leute auf diesen Zug aufspringen. Ich persönlich bin froh, dass wir auch einen Wohnsitz in der Schweiz haben. Dort ist alles ein bisschen langsamer, da wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. In Deutschland ärgert es mich massiv, dass die Schulbildung in puncto Antisemitismus schlecht ist und sich in dieser Hinsicht nichts bessert. Es ist natürlich gut, wenn Zeitzeugen in Schulen gehen und erzählen, wie es damals im Nationalsozialismus war. Aber das ändert nichts daran, dass man heute Israel für alles verantwortlich macht."

Die Querdenken-Bewegung ist zwar am Ende, aber  sie hat sich recht versiert neuer Medien bedient, besonders des Live-Streamings von Veranstaltungen über Youtube und andere Dienste, notiert der Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtel in der taz: Auch wenn der Spuk jetzt erst mal vorbei ist, sei "die mediale Infrastruktur robust, die für derartige Desinformationskampagnen eingesetzt werden kann. Sie wird bei der nächsten gesellschaftlichen Verwerfung oder politischen Großlage wieder dazu genutzt werden, Fake News zu verbreiten, Spenden oder 'Schenkungen' zu sammeln. Und die nächste Kohorte schlichter Gemüter auf die Idee bringen, dass sie in einer schlimmeren Diktatur als der DDR oder dem Dritten Reich leben."
Archiv: Gesellschaft

Religion

Welche Tücken bekenntnisoriertierter Religionsunterricht hat, zeigt sich gerade in Baden-Württemberg. Dort bildet der liberale Muslim Abdel-Hakim Ourghi Lehrer für den islamischen Religionsunterricht aus - aber nun soll ihm die Lehrerlaubnis entzogen werden, weil die konservativen Islamverbände, die in dem Bundesland über den Religionsunterricht mitbestimmen, ihn nicht haben wollen, berichtet hpd.de und befragt Katharina Eggers vom "Kompetenzzentrum Islamismus" der Aktion 3. Welt Saar: Das Land "habe ausgerechnet einer von islamistischen Verbänden dominierten 'Stiftung Sunnitischer Schulrat' die Entscheidung darüber übertragen, wer diese Ausbildung durchführen dürfe. 'Damit wird ein Religionsunterricht, der zu Demokratie, Selbstbestimmung und kritischer Reflexion befähigt und sich an der Universalität der Menschenrechte orientiert, faktisch unmöglich gemacht', beklagt Eggers."
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Medien

Die FR nimmt den von der russischen Regierung betriebenen und finanzierten Staatssender RT DE unter die Lupe, der Putin beispielsweise als "Opfer westlicher Propaganda" darstellt - und dessen Ziel politische Beeinflussung ist: "Das bestätigt Christoph Neuberger, Kommunikationswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, im Gespräch. Ziel des Angebots sei 'die Destabilisierung westlicher Demokratien durch das Schüren von Konflikten, durch Kritik an ihren politischen Institutionen und Negativmeldungen über die Lage in diesen Ländern'. Häufig seien die Nachrichten falsch oder verzerrt. RT DE wolle den Eindruck vermitteln, mit seinem Journalismus 'Defizite der inländischen Medien auszugleichen, weil angeblich unterdrückte Stimmen zu Wort kommen. Blickt man auf die Situation der Meinungs- und Medienfreiheit in Russland und Deutschland, dann ist dies eine krasse Verkehrung der tatsächlichen Verhältnisse', so Neuberger."
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