9punkt - Die Debattenrundschau

Und alles einer zweifellos guten Sache wegen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2023. Tausende von Büchern und Filmen über Nazis und Holocaust haben Europa nicht geholfen, das Anschwellen eines neuen faschistischen Reiches vor seiner Haustür zu erkennen, schreibt Oksana Sabuschko im Tagesspiegel in einem verzweifelten "Brief über Demokratie". Zwei Ansätze, über den Klimaschutz zu diskutieren: Wir sollten aufhören zu wachsen, meint der Politologe und Grüne Reinhard Loske in der FR. Wir sollten von sinnlosen Vorschriften Abschied nehmen, und nicht nur klimafreundlich, sondern auch schöner bauen, meint Niklas Maak in der FAZ. Sieben Jahren nach dem Brexit-Votum driftet Britannien away, fürchtet Timothy Garton Ash im Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.06.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Wir befinden uns in einem Moment, "in dem zur Unterbringung der vielen Wohnungssuchenden so viel gebaut werden müsste wie nie, aus Klimaschutzgründen aber so wenig wie möglich gebaut werden sollte", notiert Niklas Maak in der FAZ in einem grundsätzlichen Artikel über Bauen und Klimaschutz. Aber es wären durchaus sinnvolle Projekte jenseits der "Krüppelwalmdachhäuser mit Doppelcarport" möglich, meint er, Architekten und Städtebauer hätten tolle Ideen, und fleht die Verantwortlichen gerade zu an: "Wenn die Politik nicht mehr sklavisch auf die Dämmstofflobby hörte und in Frankreich längst zugelassene natürliche Dämmmaterialien erlaubte; wenn sie nicht an unzeitgemäßen Bauvorschriften festhalten würde, und wenn man dazu für die suburbanen und ländlichen Räume Stadt- und Raumplaner einstellen würde, statt die Entwicklung neuer Wohnviertel komplett an Fertighausfirmen zu delegieren - dann könnte ein anderes, intelligenteres, deutlich umweltschonenderes Bauen möglich werden."

Im SZ-Interview mit Aurelie von Blazekovic erläutert die Psychologin Sandra Konrad, warum viele Frauen bei Belästigungen schweigen: "Es gibt eine interessante Studie dazu. Man hat Studentinnen die Frage gestellt: Was würden Sie tun, wenn ein Kollege in einem Chat wiederholt sexuell belästigende Bemerkungen macht, wie zum Beispiel: 'Bei deinem Anblick wird mir die Hose zu eng.' Zwei Drittel haben gesagt, dass sie den Chat abbrechen und sich über den Kollegen beschweren würden. Eine weitere Gruppe von Studentinnen hat man diesen sexuellen Belästigungen real ausgesetzt. Raten Sie, was passiert ist? Von 78 Frauen hat sich eine einzige beschwert. Alle anderen haben die Belästigungen über sich ergehen lassen. Das heißt, es scheint einen großen Unterschied zu geben zwischen unserem vorgestellten und unserem tatsächlichen Verhalten."

Der Jurist Wolfgang Schön, Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München, sagt in einem Essay für die Wirtschaftsseiten der FAZ einen "Regulierungsbankrott" voraus: Ein sich verselbständiger, ständig expandierender und sich zugleich gegen jedes rechtliche Risko absichernder bürokratischer Apparat begrabe Bürger, Unternehmen und sich selbst unter einem Wust von Vorschriften, deren Sinn sich bei näherem Hinsehen nicht mehr erschließt. Nur ein Beispiel: "Die aktuell diskutierten Dokumentationsregeln zur Aufzeichnung von Arbeitszeit stehen in manchen Berufszweigen in Gegensatz zur modernen, weitgehend informellen und selbstbestimmten Arbeitswelt des Homeoffice und der digitalen Nomaden. Und alles einer zweifellos 'guten Sache wegen'."

In den ersten sechs Monaten seit der Aufhebung von 'Roe vs. Wade' wurden in den USA insgesamt gut sechs Prozent weniger legale Abtreibungen verzeichnet als in der Zeit davor, entnimmt Meret Baumann in der NZZ einer aktuellen Studie: "Wo ein Verbot herrscht, gingen die Zahlen um mehr als 95 Prozent zurück. Sie nahmen dafür stark zu in Staaten wie Illinois oder Florida, die von restriktiven Regionen umgeben sind und wohin Betroffene auswichen." Nicht erfasst sind alle Abbrüche, die "außerhalb des Gesundheitssystems", also etwa durch "Engelmacherinnen in Hinterhöfen" vorgenommen wurden, so Baumann weiter: "Die Studie bestätigt auch naheliegende Vermutungen, wer die Betroffenen sind: Frauen der unteren sozioökonomischen Schichten, unter ihnen überdurchschnittlich viele Afroamerikanerinnen, Latinas, Native Americans und Migrantinnen. Sie können sich die zuweilen weiten Reisen in einen anderen Gliedstaat nicht leisten."
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Ideen

Im FR-Gespräch mit Joachim Wille erklärt der Politologe (und Grünen-Abgeordnete) Reinhard Loske, der aktuell das Buch "Ökonomie(n) mit Zukunft - Jenseits der Wachstumsillusion" veröffentlicht hat, wie der Fokus auf Wirtschaftswachstum die Klimakrise begünstigt: "1950 lag das deutsche BIP bei rund 50 Milliarden Euro, im Einheitsjahr 1990 bei 1300 Milliarden und im vergangenen Jahr 2022 bei 3870 Milliarden. Das entspricht fast dem Faktor 80. (…) Im gleichen Zeitraum sind der Energieverbrauch, der Rohstoffverbrauch, der Flächenverbrauch, der Wasserverbrauch, das Abfallaufkommen und die Intensität der Landnutzung ebenfalls explodiert - mit verheerenden Folgen für das Klima, die Biodiversität und die planetare Gesundheit. Über all diese potenziell existenzbedrohenden Krisen gibt uns das BIP keine Auskunft, übrigens auch nicht über soziale Aspekte wie den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Bildungschancen, Gesundheit oder Geschlechtergerechtigkeit. Die sklavische Fixierung auf diese Messgröße macht uns zukunftsblind oder zumindest zukunftsvergessen."
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Politik

Der konservative amerikanische Publizist Matthew Continetti hat mit "The Right" ein Buch geschrieben, in dem er schildert, wie die Republikaner in den letzten hundert Jahren um den Konservatismus kämpften. Im NZZ-Gespräch mit Marc Neumann will er die Nationalpopulisten um Trump deutlich von den Konservativen unterschieden wissen: "Die Nationalpopulisten stehen dem, was Amerika wirklich 'great' macht, feindlich gegenüber. Sie haben Verfassungstreue durch Gehorsam gegenüber einem einzelnen Individuum ersetzt. Aber Konservatismus ist keine personenbezogene Regierungsphilosophie, kein Glaube an einen starken Führer, der die Werte der Bevölkerung ausdrückt. Amerikanischer Konservatismus hält sich an die Verfassungsprinzipien der USA, steht in der Tradition der Freiheit, der Ideen von Gleichheit vor dem Gesetz und der Rechtsstaatlichkeit. Verlassen die Konservativen diese Prinzipien, sind sie nicht mehr konservativ. Ich befürchte, dass die Republikanische Partei heute exakt in die falsche Richtung geht."
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Europa

"Der gegenwärtige völkermörderische Krieg im Osten Europas hat bewiesen, dass es mit dem europäischen Gedächtnis und der gesamten europäischen Erinnerungskultur nicht so gut bestellt ist, wie wir geglaubt hatten", schreibt heute in der Tagesspiegel-Serie "Letters on Democracy" die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko: "Tausende von Büchern und Filmen über die Nazis und den Holocaust haben Europa nicht geholfen, das seit dreißig Jahren währende Anschwellen eines neuen faschistischen Reiches vor seiner Haustür zu erkennen, und es nicht davon abgehalten, wie gebannt die gleichen Beschwichtigungsmaßnahmen zu ergreifen, die es in den 1930er Jahren gegenüber dem Dritten Reich unternommen hatte - bis zu dem Moment, als dieses neue Reich bereit war, seinen Panzer in das Haus Europa zu fahren (und es getan hätte, wenn die Ukraine es nicht aufgehalten hätte!). Wozu, so könnte man fragen, waren all diese Bücher und Filme gut, wenn wir nichts aus ihnen gelernt haben, nicht über die Vergangenheit, sondern über die Zukunft?"

Friedrich Schmidt und Reinhard Veser hatten neulich in der FAZ auf einen Artikel des russischen Geostrategen Sergej Karaganow, verwiesen, der den Einsatz der Atombombe empfahl (unser Resümee). Nun hat sich in Russia in Global Affairs mit Dmitrij Trenin ein weiterer, bisher als seriös geltender Experte mit der gleichen Empfehlung geäußert. Zugleich aber widersprechen andere Experten, so Schmidt und Veser. Putin selber habe sich seit 2014 widersprüchlich geäußert. Das liege daran, "dass die Drohung mit Nuklearwaffen für den Kreml ambivalent ist: Zwar wirkt sie nach außen einschüchternd und vermittelt den Russen das Bild eigener Stärke. Doch mit dem nuklearen Armageddon zu kokettieren ist für das Ansehen Russlands bei potenziellen Verbündeten sehr gefährlich, weil seine Führung als verantwortungslos erscheinen kann. Wie ernst diese Gefahr genommen wird, war zu erkennen, nachdem Chinas Präsident Xi Jinping öffentlich vor dem Einsatz von Nuklearwaffen gewarnt hat."
 
Sieben Jahre nach dem Brexit-Votum, sagten laut jüngster YouGov-Studie "56 Prozent der Befragten, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU falsch war, gegenüber 31 Prozent, die ihn für richtig hielten", weiß Timothy Garton Ash, der im Tagesspiegel die Hoffnung auf eine Annäherung an die EU nach einem möglichen Wahlsieg der Labour-Partei nicht aufgeben will. Nur: "Mit jedem Monat, der verstreicht, driften das Vereinigte Königreich und die EU zusehends auseinander. Einst starke kulturelle, kommerzielle, künstlerische, wissenschaftliche und politische Bindungen werden schwächer. Ein britischer Universitäts-Vizekanzler sagte mir kürzlich, dass die Zahl seiner EU-Studenten um 90 Prozent zurückgegangen sei. Großbritannien hat insgesamt mehr Einwanderer als vor dem Brexit-Votum, aber weniger aus der EU." Tja, das war wohl antieuropäischer Rassismus.

"Nicht einmal mehr die Hälfte der gut zwei Millionen Thüringer ist zufrieden mit der Demokratie; noch neun Prozentpunkte weniger, nämlich 39 Prozent, vertrauen der Landesregierung, der Bundesregierung gar nur 22 Prozent", entnimmt der Historiker Norbert Frei in der SZ dem seit mehr als zwanzig Jahren jährlich erhobenen Thüringen-Monitor, der laut Frei weitere Überraschungen parat hält. So klaffe eine Lücke "zwischen der Einschätzung des eigenen sozialen Umfelds und den Mutmaßungen über die weitere Umgebung. Sowohl auf dem Land als auch in Erfurt und Jena, den größten Städten des kleinen Freistaats, beschreiben die Menschen die Situation als familienfreundlich und das soziale Gefüge als intakt. Und um die 90 Prozent fühlen sich mit ihrer Gemeinde, aber auch mit der Region und dem Land verbunden, die Hälfte identifiziert sich sogar 'sehr'. Zugleich hegt ein knappes Drittel der Befragten negative Erwartungen für die Zukunft des eigenen Wohnorts - je ländlicher dieser ist, desto düsterer sind die Befürchtungen. Aus diesen Zahlen spricht das von den Sozialwissenschaften vielfach diagnostizierte 'Abgehängtsein' beziehungsweise die Angst davor. Die Forscher sehen in dem Gefühl einen wichtigen Anknüpfungspunkt des Populismus."
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Überwachung

Nach vielen Jahren sind wieder Google Street View-Autos in Deutschland unterwegs. Alles ist mit dem Datenschutz abgesprochen. Für die Verpixelung von Gesichtern und Autokennzeichen ist gesorgt. Dennoch gibt es Aufregung. Svenja Bergt findet das in der taz eher absurd: "Parallel dazu fotografieren unzählige Menschen an allen erdenklichen Orten mit ihrem Smartphone durch die Gegend, laden diese Bilder bei über Gesichtserkennung verfügenden Online-Plattformen hoch und - nichts. Google und zahlreiche andere Firmen und Subunternehmen, die wir nicht mal namentlich kennen, ja von deren Existenz die meisten Internetnutzer:innen nicht einmal etwas gehört haben, öffnen unsere Schränke und Medikamentenkisten, schauen ins Bad und unter die Schlafzimmerdecke, kennen Einkaufskorb und Arbeitsweg. Sie sind manchmal Ärztin und manchmal Therapeut, werten persönliche Fotoalben aus, lesen Tagebücher und mitunter auch unsere Gedanken. Aber eine auch nur in annäherndem Maße vergleichbare Empörung gibt es nicht."
Archiv: Überwachung