9punkt - Die Debattenrundschau

Irritation und Dissens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2023. In der taz erinnert der tschetschenische Aktivist Abubakar Jangulbajew an die Kriege, mit denen alles anfing: die Kriege gegen Tschetschenien. Die Taliban machen es einem leicht, Afghanistan zu vergessen, schreibt Theresa Breuer ebenfalls in der taz - aber für die afghanischen Frauen haben sie die Hölle geschaffen. In der NZZ sehnt sich Jochen Hörisch nach Philosophen mit Stil. Die SZ resümiert den Streit in der feministischen Organisation "Terre des femmes".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.07.2023 finden Sie hier

Europa


Die Journalistin Jelena Milaschina und der Anwalt Alexander Nemow wurden neulich schwer misshandelt, weil sie über den Prozess gegen die tschetschenische Akvistin Zarema Musajewa berichten wollten. Anastasia Tikhomirova unterhält sich in der taz mit ihrem Sohn Abubakar Jangulbajew, der darin erinnert, dass alles in Tschetschenien anfing: 300.000 Tschetschenen seien in den beiden Kriegen ums Leben gekommen. "Das, was heute in der Ukraine passiert, die Kriege, die Russland auch in Georgien und Syrien führte, die Revolutionen, die Russland in Kasachstan, Belarus unterdrückte - all das sind Glieder einer Kette. All das begann in Tschetschenien. Russland hatte anfangs versprochen, demokratisch zu sein, hat seinen Weg aber mit kriegerischer Aggression in Tschetschenien begonnen. Bombardierungen, Folter, Vergewaltigung, Filtrationslager, Plünderungen, Hinrichtungen, Propaganda. All diese Kriege tragen die gleiche Handschrift. Der Unterschied ist, dass die Ukraine 40-mal größer ist als Tschetschenien und ihr westliche Unterstützung zuteil wird. Niemand scherte sich damals um Tschetschenien."
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Medien

Die Frage der Presseförderung wird immer mehr zum Prüfstein für die andere Frage, wie groß die Lobbymacht der Presse noch ist. "Claudia Roth hat für Presseförderung keine Mittel und sieht sich auch nicht zuständig", muss Michael Hanfeld in der FAZ konstatieren. Die Politiker schieben die weitere Frage, ob sich die Zeitungen das Austragen der letzten verbliebenen Papierexemplare vom Staat finanzieren lassen können, zwischen den Ressorts hin und her: "Eine Federführung ihres Hauses schloss Roth im Gespräch mit der Katholischen Nachrichtenagentur aus. 'Erst einmal muss ein Konzept stehen, dann muss der finanzielle und personelle Aufwand geklärt werden.'"

Außerdem: In der SZ rechnet Jörg Thadeusz unter anderem mit Satiresendungen der Öffentlich-Rechtlichen wie der "Heute Show" oder Jan Böhmermanns "Neo Magazin Royale" ab, denen er Unausgewogenheit vorwirft: "Zu faul für eine andere Perspektive als die angestammte. Wieso mit einem zweiten Gedanken mühen, wenn das Studiopublikum schon über den ersten lieb lacht?"
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Politik

Die Taliban haben für die Frauen Afghanistans die Hölle geschaffen, schreibt Theresa Breuer, Mitbegründerin der Initiative "Kabul Luftbrücke", in der taz. Das Perfideste sei, dass nach ihrem Gesetz, mit dem sie die Frauenrechte einschänken, die Männer bestraft werden, wenn die Frauen sich nicht dran halten: "Kaum eine Frau in Afghanistan wird sich einer Regel widersetzen, wenn am Ende nicht sie selbst, sondern ihr männlicher Vormund dafür bestraft wird. Wenn es doch eine Frau wagen sollte, wird sie wahrscheinlich keine Märtyrerin für Frauenrechte, sondern nur ein weiteres Opfer von häuslicher Gewalt. Afghanistan galt auch vor der Herrschaft der Taliban als eines der schlimmsten Länder für Frauen weltweit. Frauen werden von männlichen Angehörigen geschlagen, verstümmelt, mit Säure überschüttet und in Brand gesetzt. Als ein guter Ehemann gilt allein ein Mann, der seine Frau nicht grundlos schlägt. Die Taliban machen es einem leicht, Afghanistan zu vergessen. Sie begehen keine Massaker und ziehen auch nicht plündernd oder vergewaltigend durch das Land. Sie schränken Rechte ein."
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Gesellschaft

Gestern stimmte der Bundestag sowohl gegen einen liberaleren, als auch gegen einen restriktiveren Entwurf zur Neureglung der Sterbehilfe. Der Medizinethiker Ralf Jox äußert sich im Gespräch mit Anne Diekhoff von der taz immerhin erleichtert, dass der restriktere Entwurf des SPD-Abgeordneten Lars Castellucci nicht durchkam, dem er vorwirft, den Status quo von vor der Freigabe von Suizidbeihilfe durch das Bundesverfassungsgericht wieder herstellen zu wollen: "Stellen Sie sich vor, Sie haben eine unheilbare Krebserkrankung und noch wenige Monate zu leben. Sie haben alles geregelt, mit ihrem Leben abgeschlossen und wollen das ihnen bevorstehende Leiden abkürzen. Nach diesem Entwurf hätten Sie zunächst zu einem Psychiater gemusst, dann drei Monate warten, erneut beim Psychiater vorsprechen, dann noch zu einer Beratungsstelle und erneut zwei Wochen warten. Danach haben Sie womöglich schon die Fähigkeit verloren, selbst über ihr Ende zu entscheiden. Ein solcher Spießrutenlauf wäre unzumutbar gewesen." Jox wäre für den liberaleren Entwurf gewesen, der Zentralrat der Konfessionsfreien begrüßt dagegen bei hpd.de, dass der jetzige offene Rechtszustand beibehalten bleibt.

In der SZ greift Jens-Christian Rabe den Streit innerhalb der feministischen Organisation Terre des femmes über das vor drei Jahren herausgegebene und nach einem Richtungsstreit im Juni nun mit knapper Mehrheit zurückgezogene Positionspapier zu "Transgender, Selbstbestimmung und Geschlecht" auf. Trans-Aktivisten hatten sich vor allem daran gestört, dass es in dem Papier hieß, ein "Eintritt durch Transition in fest definierte Geschlechterrollen" könne … dazu beitragen, "das Patriarchat fortzusetzen, zu bekräftigen und sogar dazu führen, patriarchale Logik, Sozialisation und Strukturen in Frauenräume hineinzutragen". Nach Rückzug des Papiers sind nicht nur 210 Frauen ausgetreten, sondern auch Vorstandsmitfrau Inge Bell, die gegenüber Rabe erklärt: "'Wir müssen die Begriffe schon klar haben: Transidente Männer, also sogenannte trans Frauen, sind keine biologischen Frauen. Männer können keine Frauen sein. Und Frauen keine Männer. Man muss schon wissen, was eine Frau ist, wenn man zu Frauenrechten und Mädchenschutz arbeitet.' Fragt man sie, wie sie sich die Position der Gegenseite erkläre, kommen kernige Vorwürfe, die sie dann aber doch nicht in der Zeitung lesen möchte.'" Christa Stolle, ebenfalls Vorstandsmitfrau und Vertreterin des gegnerischen Lagers, kann die Aufregung nicht verstehen: "Man habe aber in Frauenhäusern nachgefragt und nirgends von Problemen mit trans Frauen gehört: 'Es gibt auch keine verlässlichen Studien dazu, dass mehr Rechte für trans Frauen eine Gefahr für Frauenrechte darstellen.'"

Nach dem Urteil des Supreme Court, der die Affirmative Action an amerikanischen Universitäten für verfassungswidrig erklärte, beantwortet in der Welt der Rechtswissenschaftler Kai Möller ebenfalls die Frage nach der Legitimität von positiver Diskriminierung deutlich: "Im Rahmen der Studienplatzvergabe für seine Hautfarbe Minuspunkte verpasst zu bekommen, erscheint mir entwürdigend, herabsetzend und beleidigend. In anderen Lebensbereichen mit anders gewichteten Interessenlagen mag es anders liegen: Vielleicht ist es rechtfertigbar, wenn die Polizei bevorzugt Bewerber aus bestimmten Minderheiten einstellt, um repräsentativer zu werden und so ihre Legitimität in den Augen der Bevölkerung zu erhöhen. Aber beim Zugang zu Bildung muss das alte Prinzip Anwendung finden, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt: Der berechtigte Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung erlaubt es nicht, Studienbewerbern Plus- oder Minuspunkte allein für ihre Hautfarbe zu geben."
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Ideen

"Kommunikation" ist nicht zuletzt dank Jürgen Habermas zum "Fetischwort" unserer Gesellschaft geworden, seufzt in der NZZ der Germanist Jochen Hörisch, der sich nach großen Stilisten wie Theodor W. Adorno oder Walter Benjamin zurücksehnt, denen es nicht um Verständlichkeit, sondern um Irritation und Dissens ging, wie Hörisch schreibt. Aber: "Philosophen, die einen unverwechselbaren Stil pflegen und der Intuition Ausdruck zu geben vermögen, dass auch in der Sphäre des Denkens der Ton die Musik macht, stehen heute zumeist unter Verdacht. Die vorherrschende analytische Philosophie ist zuallererst einmal eine Verbotsphilosophie: So wie Hamann oder Hegel, Schopenhauer oder Nietzsche, Heidegger oder Bloch, Adorno oder Sloterdijk, Derrida oder Deleuze, Kittler oder Theweleit darf man nicht denken und schreiben, wenn man universitär bestallter Philosoph werden will."

In der Welt würdigt Magnus Klaue mit Max Horkheimer, dessen Todestag sich heute zum fünfzigsten Mal jährt - und den Hörisch mit keinem Wort erwähnt, den Mann "im Schatten Adornos".
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