9punkt - Die Debattenrundschau

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24.07.2023. Auch innerhalb Russlands nimmt Gewalt zu, konstatieren taz und FAZ - Opfer sind Homosexuelle und Frauen. Im Tagesspiegel fordert der Politologe Andreas Umland nach der Kündigung des Getreideabkommens eine vom Westen durchzusetzende Flugverbotszone über der Ukraine. taz und FAZ erinnern an die "Bombenbrandschrumpfleichen" in Hamburg nach dem "Feuersturm" vor achtzig Jahren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.07.2023 finden Sie hier

Europa

Putin hat Odessa beschießen lassen. Die zuletzt von Stalin zerstörte Kathedrale der Stadt, ist nun fast wieder eine Ruine, berichtet Tatjana Milimko in der taz: "Nach Angaben der Stadtverwaltung wurden durch den russischen Angriff am Sonntag insgesamt 25 der 196 Architekturdenkmäler der Stadt zerstört oder teilweise beschädigt. Auch das Haus der Wissenschaftler in Odessa (die Villa des Grafen Tolstoi) wurde schwer beschädigt. Das Gebäude wurde 1832 nach dem Entwurf des Architekten Karl Boffo erbaut. Sowjetische Filme wurden einst hier gedreht, zum Beispiel Szenen aus 'D'Artagnan und die drei Musketiere'."


Nikolaus Bernau kommentiert im Tagesspiegel: "Es geht in diesem Krieg vor allem um neokoloniale Unterwerfung: Die Ukraine, ihre kulturelle Vielfalt und Demokratie sollen, das gibt Putin offen zu, verschwinden. Und dazu ist offenbar aus seiner Sicht die Zerstörung der historischen Dokumente dieser Nation nötig."

Wenig aufgenommen wurde von deutschen Medien Putins Drohung an Polen in einer Äußerung vor ein paar Tagen, die der Politologe Tymofiy Mylovanov auf Twitter festhält: "Dank Stalin erhielt Polen umfangreiche deutsche Gebiete. Die westlichen Gebiete des heutigen Polen sind ein Geschenk Stalins an die Polen. Haben unsere Freunde in Warschau das vergessen? Wir werden sie daran erinnern."

Spätestens seit der Aufkündigung des Getreideabkommens durch Putin hat sich die Kriegslage in der Ukraine auch für Außenstehende grundlegend geändert, meint der Politologe Andreas Umland vom Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten im Tagesspiegel. Ausbleibende Getreidelieferungen beträfen vitale Sicherheitsinteressen von Ländern weit außerhalb der Ukraine. Umland fordert darum eine Flugverbotszone über der Ukraine: "Der Einsatz nicht-ukrainischer Luftabwehrkräfte zur Sicherung ihrer Nahrungsmittelproduktion der Ukraine ist nicht nur eine Frage von Solidarität. Sondern würde der Minderung allgemeiner Risiken für die internationale Sicherheit dienen. Die Verhinderung von Hunger und seiner zerstörerischen Folgen für die globale Ordnung ist alleine Grund genug, die Einrichtung von Flugverbotszonen über und um die Ukraine in Betracht zu ziehen."

Rechtsextremismus richtet seine negative Energie mit besonderer Lust auf Homosexualität. Putins Russland setzt hier das düstere Beispiel für Bewegungen, die auch in Westeuropa stärker werden und Putin gerade auch wegen seiner Homophobie verehren. Philine Bickhardt und Amanda Beser erzählen in der taz die Geschichte der Künstlerin und Dramaturgin Yulia Tsvetkova, die seit Jahren mit Prozessen schikaniert wird, und schließt: "Die Verschärfung im Inneren gegen Queers als Abweichler*innen ist Symptom eines Krieges, der seit 2014 gegen ein Land geführt wird, das seine Unabhängigkeit in Anlehnung an die Menschenrechte der EU sucht und sich auf die Werte 'des Westens' bezieht, der von Russland seit Jahren dämonisiert wird. Die Queerfeindlichkeit in Russland lässt sich daher durchaus als ideologische Kriegsvorbereitung und kriegspolitische Strategie lesen."

Dazu passt, was die im deutschen Exil lebende russische Autorin Irina Rastorgujewa in der FAZ über die alltägliche Gewalt in Russland erzählt: "Seit 2017 gibt es in Russland kein Gesetz mehr, das Opfer häuslicher Gewalt schützt. Der Aggressor muss nur noch mit einer Geldstrafe zwischen umgerechnet 50 und 300 Euro rechnen, nur im Wiederholungsfall kann er strafrechtlich belangt werden. Wobei es fast unmöglich ist, etwas zu beweisen, weil die Polizei sich weigert, Verbrechen, die ja keine sind, zu registrieren."

Und fürs Protokoll. Während in Spanien die Konservativen offenbar stärkste Partei sind, aber zu schwach, um mit den Rechtspopulisten der Partei Vox eine Koalition zu bilden (mehr hier), schließt Friedrich Merz eine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD auf kommunaler Ebene nicht mehr aus. Tagesschau.de verzeichnet starken Widerspruch in der CDU. Hier ein Ausschnitt aus dem ZDF-Sommerinterview mit Merz.

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Ideen

Die postkoloniale Philosophin Henrike Kohpeiß glaubt mit dem Begriff der "bürgerlichen Kälte" dem Verhalten Europas gegenüber Flüchtlingen auf die Spur zu kommen. In der FAS wird sie von Novina Göhlsdorf und Lennardt Loß. zu ihrem Buch "Bürgerliche Kälte - Affekt und koloniale Subjektivität" interviewt: "Kälte hilft uns, Gefühle zu organisieren, schafft einen Ort, an dem man sich ausruhen kann: weil man sich durch sie unempfänglicher macht für die affektiven Anforderungen seiner Umwelt. Doch auf gesellschaftlicher Ebene schützt Kälte auch davor, sich mit dem Ausmaß der Gewalt zu konfrontieren, das man miterzeugt hat; sich verantwortlich zu fühlen für die vielen, etwa klimatischen und kolonialen, Katastrophen, die Europa verursacht hat." Bliebe noch die Frage, warum sie die Flüchtlinge nach einer derart kalten Gegend so zu sehnen scheinen.

Bürgerliche Kälte? Der auch in Peking lehrende Pilosoph Otfried Höffe fordert in der FAZ eine neue Ethik des Mitleids, allerdings keine "gegen die Realität resistente Ethik": "Wie sind die immer wieder neuen Bootsflüchtlinge zu beurteilen? Wir gehen davon aus, dass sie aus schwerer Not fliehen, die freilich geringer ist als die von Kranken, Alten, Müttern und Kindern. Es sind nämlich vor allem junge Männer, die zudem aus Familien stammen, die das Geld für die Schlepper haben oder sich besorgen können. Die Männer wissen längst, dass sie sich auf ein gefährliches Unternehmen einlassen, auf ein Vabanquespiel, bei dem sie zum Zweck eines besseres Leben ihr bloßes Leben aufs Spiel setzen. Muss man ihnen trotzdem jeden Funken einer Mitschuld abstreiten?"
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Geschichte

"Auf den Straßen lagen Berge schwarz verkohlter Leiber, durch die Hitze zum Teil auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Leichen mit ledriger Haut und erstarrten Gliedern. 'Bombenbrandschrumpfleichen' wurden sie später offiziell genannt", schreibt  Julian Staib in der FAS: Vor achtzig Jahren wurde Hamburg bombardiert. Es gab mehr Opfer als in Dresden: "Tausende starben an Vergiftungen in den Kellern. In jener Bombennacht starben in Hamburg mindestens 34.000 Menschen, etwa 900.000 verloren ihr Zuhause. Ganze Stadtteile brannten aus. In Hammerbrook etwa, im Osten der Innenstadt gelegen, hatten vor den Angriffen 44.756 Menschen gelebt. Danach waren es noch 66." In Hamburg wird des Ereignisses nur sehr diskret gedacht, so Staib. Ein Opfermythos habe sich in Hamburg, anders als in Dresden, wo er von der SED betrieben worden sei, nicht entwickelt. Wenn man heute Überlebende frage, sagt der Psychologe Ulrich Lamparter im Artikel, "bleiben sie in der Unauflösbarkeit stehen, dass beides nicht gut war: die Monstrosität des Verbrechens der Nazis ebenso wenig wie die Monstrosität der Angriffe".

Auch Jan Feddersen und Kaija Kutter begehen für die taz die ausgelöschten und wiederaufgebauten Stadtteile Hamburgs, sprechen mit Überlebenden und stellen die ungemütliche Frage nach den Rechtfertigungen für die Bombardierung der Zivilbevölkerung: "Strittig ist historisch, ob die britischen Bomber in diesem Areal bei für sie perfekten Wetterbedingungen auch rüstungszuliefernde Kleinbetriebe auslöschen wollten. Oder mit ihrer 'Operation Gomorrha', wie sie ihre Kriegsaktionen nannten, einzig biblisch anmutende Rache nehmen, Vergeltung üben wollten für die Luftkriege des nationalsozialistischen Deutschlands auf London und Coventry - mit einem demoralisierenden Bombardement der dort noch lebenden Bewohner, alte Männer, Frauen, Kinder. Wahr bleibt, dass bei den letzten halbwegs legalen Reichstagswahlen im März 1933 ausgerechnet in dieser Gegend die NSDAP vergleichsweise geringen Zuspruch erhielt, KPD und SPD dafür umso mehr."
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Gesellschaft

Warum ist es für manche Menschen so verführerisch, sich eine jüdische Identität anzudichten? Xaver von Cranach befragt im Spiegel den Historiker Johannes Spohr, der sich mit ähnlich gelagerten Geschichten befasst hat, zum Fall Fabian Wolff: "Im Kontext der bundesrepublikanischen Gesellschaft ist das erst mal die Sehnsucht, auf der Seite der Opfer zu stehen, und so gleichzeitig die Beschäftigung mit nationalsozialistischer Täterschaft zu vermeiden - vor allem in den Reihen der eigenen Vorfahren", sagt Spohr. Aber solche Geschichten spielten sich immer auch in einem Kontext ab: "Das Publikum gehört immer mit dazu bei solchen falschen oder imaginierten Geschichten. Manche - keinesfalls unbedeutende - Entwicklungen der Identitätspolitik führen dazu, dass es wichtig ist, eine bestimmte Sprecherposition einzunehmen, die man mit seiner Biografie begründet. Das zeigt sich auch an dem Beispiel Fabian Wolff. Auf Twitter wurden jetzt viele seiner Tweets wieder hervorgeholt, deren Sinn sich nach der Selbstenttarnung absolut verändert hat."
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Politik

Hunderte iranische Demonstranten, die im letzten Jahr gegen das Regime demonstriert haben, drohen zu erblinden, berichtet Friederike Böge in der FAZ, die mit dem iranischstämmigen Münchner Augenarzt Amir-Mobarez Parasta gesprochen hat. Die Polizisten beschossen die Demonstranten mit Schrot-oder Paintball-Munition, offenbar gezielt: "In vielen Fällen seien die Schüsse aus nächster Nähe abgefeuert worden. 'Da kann mir keiner sagen, dass die Augen nicht gezielt getroffen wurden.' Auffällig sei, dass Berichte der Betroffenen in sozialen Medien häufig nicht zensiert worden seien. 'Sie wollten, dass die Leute davon wissen. Das ist eine wirksame Form der Abschreckung. Und sie hat funktioniert.'"
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