9punkt - Die Debattenrundschau

Nervöse Stimmung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.07.2023. In der Welt kritisiert der Philosoph Arnd Pollmann das Schweigen Deutschlands zur Lieferung von Streumunition an die Ukraine. Die taz berichtet von sehr müden Ukrainern beim Kongress der "Anarchistischen Internationale", die Belehrungen satt haben, ob und wie sie sich verteidigen dürfen. Die FR beobachtet, wie Überwachung den sozialen Raum der Städte vernichtet. In der taz erklärt der israelische Veteran Yiftach Golob, warum die Justizreform die Start-up-Nation Israel bedroht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.07.2023 finden Sie hier

Europa

Im Welt-Gespräch kritisiert der Philosoph Arnd Pollmann, der vergangenes Jahr die Studie "Menschenrechte und Menschenwürde" veröffentlichte, nicht nur die Lieferung von Streumunition durch die USA an die Ukraine, sondern auch das Schweigen aus Deutschland. Das Dilemma, das sich dadurch ergibt, dass Russland Streumunition einsetzt, sieht er zwar. Aber: "Deutschland hat sich in Artikel 21 des besagten Übereinkommens ausdrücklich verpflichtet, jene Staaten, die noch nicht Vertragsparteien sind, vom Einsatz von Streumunition abzubringen und zum Beitritt zu bewegen. Wenn sich die Bundesregierung daran jetzt nicht hält, stiehlt sie sich aus der Verantwortung. Oder sie hat schlicht nicht verstanden, was es heißt, so einen Vertrag zu unterzeichnen. Sicher, die USA, die Ukraine und auch Russland sind nicht selbst an das Vertragswerk gebunden, aber sie haben deshalb nicht schon das 'Privileg', humanitäre Verbrechen zu begehen." 

Vor etwa 150 Jahren riefen Michail Bakunin, Errico Malatesta und der Schweizer Uhrmacher Adhémar Schwitzguébel die "Anarchistische Internationale" aus, nachdem sie sich von der "Ersten Internationale" unter Karl Marx losgesagt hatten. Die Gründungsveranstaltung fand im Schweizer Jura im Ort Saint-Imier statt, wo sich letzte Woche wieder 4.000 Anarchisten versammelten. Dabei ging es auch in Bezug auf den Ukraine-Krieg hoch her, schreiben Anna Jikhareva und Kaspar Surber in der taz. "Wie arrogant die westliche Weltsicht auch unter Anarchist:innen sein kann, müssen insbesondere die Teilnehmer aus Russland, Belarus und der Ukraine erfahren. An praktisch jedem Workshop zum russischen Angriffskrieg und dem richtigen Umgang damit kommt es zu Belehrungen über den wahren Antimilitarismus. Die Osteuropäer, viele von ihnen vom Krieg und der Repression sichtlich gezeichnet, wirken ob der Ignoranz gegenüber ihren Standpunkten ziemlich ermüdet. 'Wenn dein Land von einer imperialen Macht angegriffen wird, hast du nicht mehr die Zeit, auf die ideale soziale Revolution zu warten. Dann musst du dich verteidigen', bringt es eine Ukrainerin in einer Diskussionsrunde auf den Punkt."

Im Interview mit Spon erklärt der Russlandexperte Mark Galeotti die Verhaftung des nationalistischen russischen Kriegstreibers Igor Girkin (der Kreml definiere damit, "wie viel Kritik er zu akzeptieren bereit ist"), Putins vergleichsweise freundlichen Umgang mit Prigoschin (er wird gebraucht und darf daher "seine Loyalität neu unter Beweis stellen" und die Vergeblichkeit der Hoffnung auf eine erneute Meuterei: "Das russische Regime ist immer noch ein sehr putschsicheres System, in dem sich die Institutionen gegenseitig kontrollieren. Noch stehen die Dinge in Russland nicht so schlecht, dass das Risiko, sich gegen Putin zu stellen, kleiner erscheint als das Risiko des Nichtstuns. Prigoschin war in der Lage zu tun, was er tat, weil er in gewisser Weise ein anomaler Außenseiter war. Aber es gibt natürlich Leute in Russland, die sich über einen Putsch freuen würden, wenn ihn jemand anderer macht."

Am Montag hat Wladimir Putin ein Gesetz unterzeichnet, das queeren Menschen in Russland künftig verbietet, ihren Geschlechtseintrag in offiziellen Dokumenten zu ändern, zudem erhalten Trans Personen keinen Zugang mehr zu Hormonbehandlungen oder geschlechtsangleichenden Operationen. Außerdem werden Ehen, bei denen eine Person nach der Heirat ihren Geschlechtseintrag geändert hat, annulliert, berichtet Alexander Kauschanski auf ZeitOnline. "Die transfeindliche Staatspropaganda ist mittlerweile in die Gesellschaft eingesickert. Das zeigt eine repräsentative Umfrage des unabhängigen Levada-Zentrums für Meinungsforschung von 2020. Dort sprachen sich nur etwa neun Prozent der Befragten dafür aus, queeren Menschen zu helfen. Ein Drittel fand, man solle queere Menschen von der Gesellschaft isolieren, ein anderes Drittel, man solle sie sich selbst überlassen. 18 Prozent gaben an, man solle queere Menschen 'liquidieren'."

In Polen häufen sich Fälle, in denen Ärzte Abtreibungen nicht mehr vornehmen, obwohl Gefahr für das Leben der Mutter besteht - aus Angst, sich wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs strafbar zu machen, berichtet Viktoria Grossmann in der SZ: "Auf unheimliche Weise zeigt sich, dass die rechtsgerichtete PiS-Regierung nicht einmal alle Gerichte in der Hand haben und alle Gesetze umschreiben muss, um ihre Ziele zu erreichen. Sie hat erfolgreich eine Atmosphäre der Unsicherheit und Angst geschaffen und in Behörden übereifrige Pflichterfüller eingesetzt. Ärzte, Frauen, Aktivistinnen werden eingeschüchtert. So wurde im Januar eine Frauenarztpraxis in Stettin durchsucht oder im März eine Aktivistin verurteilt, die Abtreibungsmedikamente verschickt hatte."
Archiv: Europa

Politik

In Israel ist ein Teil der umstrittenen Justizreform verabschiedet worden. Dagegen protestieren nicht nur ein großer Teil der Zivilbevölkerung, sondern auch 10.000 Reservisten. Im taz-Interview mit Judith Poppe spricht der Veteran Yiftach Golob über den Protest und die nächsten Schritte der Bewegung. "Israel steuert auf eine Verfassungskrise zu. Aber Israel ist in einigen Aspekten einzigartig. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Stärke des israelischen Militärs mit der wirtschaftlichen Kraft als Start-up-Nation zusammenhängt, genauso wie mit einer unabhängigen Wissenschaft. Diese drei Bereiche hängen voneinander ab - und dieselben Leute halten sie am Laufen. Die derzeitige Regierung mit ihren Ministern, die oft nicht im Militär gedient haben, die an religiösen Schulen studiert haben, sind das genaue Gegenteil. Wenn wir - also die Vertreter von Wirtschaft, Militär und Wissenschaft - beschließen, dass wir das Land lahmlegen werden, dann werden wir es lahmlegen."

Nach der Verabschiedung seiner umstrittenen Justizreform wendete sich Premier Netanjahu mit einer Video-Ansprache an die Bevölkerung, in der er die Demonstranten zur konstruktiven Mitarbeit an dem Gesetz aufgerufen hat, gleichzeitig kündigte sein Koalitionär Ben-Gvir an, dass dies erst der Anfang gewesen sei. Doch im Land sammelt sich immer mehr Widerstand wie Peter Münch und Sina-Maria Schweiklin auf der Seite 3 der SZ schreiben. "Wenn es hart auf hart kommt, müssten sich alle entscheiden, auf welcher Seite sie stehen: die Armeeführung zum Beispiel, oder die Geheimdienste. Eine unfassbare Vorstellung in einem Land, das sich bis gestern noch geschlossen als einzige Demokratie im Nahen Osten präsentiert hat. Aber dass inzwischen selbst solche Szenarien durchgespielt werden bis in die höchsten Stellen, zeigt ein Zitat, das in den Medien dem amtierenden Mossad-Chef zugeschrieben wird. 'Wenn sich eine Verfassungskrise entfaltet', hat demnach David Barnea gesagt, 'werde ich auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.' Welche Seite das ist, wollen Netanjahu und die Seinen wahrscheinlich gar nicht wissen."
Archiv: Politik

Ideen

"Tatsächlich scheinen die Städte … längst den allgemeinen Verlust an existenziellen Sicherheiten und Solidarität widerzuspiegeln, der einmal als Verflüssigung der Gesellschaft bezeichnet wurde", schreibt der Stadtplaner Robert Kaltenbrunner in der FR mit Blick auf immer mehr Überwachungskameras und Sicherheitsdienste in Städten: "Dieses Gefühl einer existenziellen und zugleich nicht handhabbaren Verunsicherung ist neu. Es breitet sich aus, löst Loyalitäten auf und lässt jeden vereinzelt zurück. Das verändert auch die Städte. Eine Antwort auf diesen Transformationsprozess ist das verstärkte Bemühen um persönliche Sicherheit, welches zu einem Ersatzziel geworden ist (...). Wo die Existenz des Einzelnen nicht mehr sicher ist, sollen es wenigstens die Häuser und Straßen sein. Dazu werden Kameras, Sicherheitsdienste oder Polizeistreifen eingesetzt und der urbane Raum wird geteilt. Häuser werden zu Festungen, Plätze werden so angelegt, dass sich Menschen dort möglichst nicht aufhalten: keine Sitzgelegenheiten, Sprinkler an den Wänden, abgeschrägte Fenstersimse halten Besucher und Besucherinnen fern, Überwachungssysteme und Patrouillen verbreiten eine nervöse Stimmung. Der Architekturtheoretiker Steven Flutsy spricht in diesem Sinne von 'verbotenen Räumen', deren Ziel es sei, den städtische Raum zu zerteilen und Verbindungen zwischen den einzelnen Segmenten zu verhindern."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Kaltenbrunner, Robert

Gesellschaft

Hätte Fabian Wolff als Berliner Lehrer, der er ist, gehandelt, wäre die Aufregung übertrieben, meint in der SZ die jüdische Autorin Nele Pollatschek. Es kommt eben auf die Sprecherposition an und die Vorstellungen, die damit verbunden sind: Wer sich "öffentlich als Jude äußert, besonders im Widerspruch zu gängigen jüdischen Erfahrungen, der muss sich vor Augen halten, was kooperative Leser annehmen und wo man diese Erwartungen ausräumen muss, wenn man nicht täuschen möchte. (…) Wer heute 'als Jude' in Deutschland schreibt, der muss transparent machen, wenn er nicht aus der Sprecherposition schreibt, die jeder kooperative Leser in Deutschland nach 1945 statistisch naheliegend unterstellen wird, und ansonsten ziemlich sicher wissen, dass er diese Sprecherposition auch hat, was kein moralischer Wert, sondern eben eine Expertise für eine bestimmte Erfahrung ist."
Archiv: Gesellschaft

Medien

In der FAZ blickt Niklas Bender besorgt auf die Presse in Frankreich, in der zunehmend rechte Medienmogule den Ton setzen. Zum Beispiel beim seit Wochen bestreikten Journal du dimanche (JDD). Der Grund: Der Besitzer, der "erzkatholische Bretone" Vincent Bolloré, hat verkündet, "mit Geoffroy Lejeune einen rechtsradikalen Redaktionsleiter einsetzen" zu wollen, dagegen streikt die Redaktion sein fünf Woche, aber wohl vergeblich. "Am Montag hat Aktionär Lagardère (der gerade von Bolloré aufgekauft wird) die Verhandlungen mit der Redaktion beendet und ein Machtwort gesprochen: Lejeune wird seine Stellung am 1. August antreten", so Bender. Gegensteuern will die Politik nun mit einem Gesetzentwurf, wonach "öffentliche Fördergelder und die Vergabe von Radio- und Fernsehfrequenzen in Zukunft davon abhängig sein, ob die entsprechenden Medien den Redakteuren ein Mitspracherecht bei der redaktionellen Ausrichtung zugestehen. Der Entwurf findet im Zentrum und auf der Linken Zustimmung; die Linkspopulisten um 'La France insoumise', die im vergangenen Winter ihren eigenen Gesetzentwurf gegen Machtkonzentration in den Medien eingebracht hatten, fühlen sich bestätigt." Konservative und Rechte würden lieber den staatlichen Einfluss auf Medien zurückstutzen.
Archiv: Medien