9punkt - Die Debattenrundschau

Das Um-zu-Motiv

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2023. SZ-Autor Ronen Steinke besucht den Verfassungsblogger Maximilian Steinbeis, der mit einem Projekt herausfinden will, wie Rechtsextreme den Staat aushebeln wollen - aber bringt er sie damit nicht auf Ideen? Timothy Garton Ash warnt die deutsche Politik bei t-online.de: Mit "weiter so" geht's nur weiter bergab. Güner Balci erklärt in der Zeit, warum die Vielfalt im Neuköllner Columbiabad unbedingt geschützt werden muss.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.07.2023 finden Sie hier

Europa

Der Politologe und Osteuropakenner Timothy Garton Ash drängt die deutsche Politik im Gespräch mit Florian Harms und Marc von Lüpke von t-online.de, endlich auf der Höhe der Zeit zu agieren: "Deutschland ist seit der Wiedervereinigung vor mehr als dreißig Jahren eine überaus zufriedene Status-quo-Macht. Sowohl in der Außenpolitik als auch in der Innenpolitik. 'Keine Experimente!' und 'Weiter so!' waren die bestimmenden Parolen. Die Umstellung auf die veränderte weltpolitische Lage braucht offensichtlich Zeit."

Die Osteuropaforscherin Susanne Schattenberg und der Politologe Johannes Varwick denken im Gespräch mit Michael Angele vom Freitag darüber nach, wie der russische Krieg gegen die Ukraine ausgehen könte. Während Varwick "unseren eigenen Interessen gemäß handeln und nicht nur in einer Art Nibelungentreue verharren" will, sieht Schattenberg die Entscheidung bei der Ukraine: "Und ich halte es auch nicht für ausgeschlossen, dass sie irgendwann zu dem Punkt kommt und sagt: Es sind keine Ressourcen mehr da. Weder Soldaten, die man noch mobilisieren kann, noch ist die Bevölkerung zu weiteren Opfern bereit."

Währenddessen hat Putin den Krieg durch die Kündigung des Getreideabkommens längst globalisiert. Dominic Johnson rät in der taz, Schiffe des Welternähungsprogramms unter Geleitschutz zu stellen, so ähnlich wie Schiffe im Roten Meer gegen Piraterie geschützt werden: "Es gibt sie, die internationale Sicherheitsarchitektur für den maritimen Welthandel. Man müsste sie nur ausweiten: von Afrika auf Europa, vom Roten auf das Schwarze Meer, vom Schutz vor Somalias Piraten zum Schutz vor Russlands Kriegsmarine. Undenkbar? Nur wenn man sich von der Idee, konzertiertes multilaterales Handeln könne zum Frieden beitragen, komplett verabschiedet."

Im Tagesspiegel berichtet Susanne Güsten von zunehmenden Repressionen gegen Künstler in der Türkei: "Hat ein Künstler im Wahlkampf die Opposition unterstützt oder eine Künstlerin sich für Schwulenrechte ausgesprochen, kann das schon reichen für ein kommunales Auftrittsverbot (…) Auch die bildende Kunst bekommt die kommunale Kulturpolitik der AKP zu spüren - zuletzt bei der Eröffnungsausstellung der neuen Kulturfabrik 'ArtIstanbul' am Goldenen Horn, die von der oppositionsregierten Großstadtverwaltung ausgerichtet wurde und hunderte Werke türkischer Künstler von internationalem Ruf zeigt. Die Ausstellung verletze Moral und Werte der Gesellschaft, beschuldigte der örtliche AKP-Bezirksbürgermeister die Stadt. Vor dem Museum versammelte sich eine Menge, um gegen die 'perverse Ausstellung' zu protestieren, weil einige Bilder Männer in Frauenkleidung zeigten oder Bauchtänzerinnen vor einer Moschee. Die Ausstellung musste vorübergehend schließen."

Für die Seite 3 der SZ besucht Ronen Steinke Verfassungsblog-Gründer Maximilian Steinbeis und sein Team, die in den nächsten Monaten durch das "Thüringen-Projekt" (Unsere Resümees) darlegen wollen, wo die Schwachpunkte unseres demokratischen Systems liegen. Bringt Steinbeis die AfD damit nicht erst auf Ideen, fragt Steinke. "Immerhin, Steinbeis und sein Team wollen in den kommenden Monaten viel nach Thüringen reisen, sie wollen die Rechtslage dort möglichst genau kennenlernen, wollen mit den Menschen an hohen Gerichten dort sprechen, mit den Kontrolleuren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, mit den demokratischen Institutionen - um mit diesen schon mal verschiedene Szenarien einer denkbaren AfD-Machtübernahme durchzuspielen. (...) Wenn das Ergebnis dann im kommenden Sommer als wissenschaftliche Studie veröffentlicht wird, rechtzeitig vor der Thüringen-Wahl - kann es sein, dass dann Björn Höcke der erste, begeisterte Leser sein wird? Dass Höcke das alles natürlich nicht als Mahnung, sondern als wunderbare Handlungsanleitung lesen wird?" Besser wissen, als nicht wissen, meint Steinbeis.
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Politik

Die Hauptschuld an der Staatskrise in Israel trägt die Regierung Netanjahu, meint Alexander Haneke in der FAZ. Dennoch stecke in deren Kritik am Obersten Gericht ein wahrer Kern: Das Gericht hatte oft gegen Entscheidungen rechter Regierungen geurteilt. "Werden Dinge aber der Diskussion als alternativlos entzogen, weil eine höhere Instanz so entschieden hat, hilft das nicht der Überzeugungsarbeit - es hält nur den Deckel auf einem Fass, in dem es weiter gärt. In Israel half es der extremen Rechten, die über Jahrzehnte das Narrativ von der 'Herrschaft der linken Richter' pflegte und so den radikalen Feldzug gegen die Justiz vorbereitete."
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Stichwörter: Israel

Medien

Das Landgericht Hamburg hat die Verdachtsberichterstattung des Spiegel zu der Band Rammstein und deren Sänger Till Lindemann teilweise als unrechtmäßig erklärt, der Spiegel wehrt sich gegen die Entscheidung (mehr hier). Und der Anwalt Jony Eisenberg unterstützt ihn in der taz: "Bei der Entscheidung des Hamburger Gerichts handelt es sich um eine Verschiebung der Rechtsprechung. Und zwar eine zum Nachteil des Berichtsinteresses der Medien. Diese Situation ist bei den Hamburger Gerichten endemisch, also üblich. Dass der Spiegel sich dagegen wehrt, ist zu begrüßen." In der FAZ berichtet Michael Hanfeld düber eine zweite Hamburger Gerichtsentscheidung gegen den ehemaligen Bild-Chef Julian Reichelt. Er hatte gegen den Berliner-Zeitung-Verleger Holger Friedrich geklagt, der ihn bei Mathias Döpfner verpetzt hatte.

Zuvor hatte Rammstein-Anwalt Simon Bergmann die Berichterstattung des Spiegel scharf kritisiert (eine Zusammenfassung seines Interviews mit Cicero findet man bei Focus): "Dank der MeToo-Bewegung und Harvey Weinstein hätten solche Storys 'einen ganz neuen Spin gewonnen'. Simon Bergmann: 'Die Redaktionen haben bemerkt, dass dieses Thema die Leute triggert. Es erzielt hohe Aufmerksamkeit, alleine schon das Schlagwort MeToo, und es garantiert hohe Verkaufszahlen, insbesondere im Digitalbereich."
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Gesellschaft

Anders als viele wohlmeinende publizistische Stimmen hält die Neuköllner Integrationsbeauftrage Güner Balci die Ereignisse im Neuköllner Columbiabad nicht für ein nebensächliches Sommertheater. Auf dem Spiel stehe eine Vielfalt, die sich nirgends sonst so manifestiert, schreibt sie in der Zeit: "Es gibt keinen anderen öffentlichen Ort, an dem so viele Menschen so intim und eng beieinander sind. Im Culle können verklemmte Typen sich am Anblick schöner schwuler Männer erfreuen. Frauen, die sich verhüllen, bekommen eine Idee davon, wie cool junge Mädchen im Badeanzug an Männergruppen vorbeistolzieren. Es geht im Freibad um so viel mehr als die Rutsche." Vor bestimmten Befriedungsideen warnt Balci: "Ein Journalist fragte bei der Neuköllner Gleichstellungsbeauftragten nach, ob reine Frauenbadetage eine Lösung seien. Er sprach, ohne es zu ahnen, einigen Moscheegemeinden aus der Seele. Was wie eine schnelle Lösung für Muttis mit Kindern klingt, wäre ein Abgesang auf das, was Berlin ausmacht: das Miteinander der vielen."

Armin Nassehi betreibt in einem kleinen FAZ-Essay nochmal Corona-Vergangenheitsbewältigung. Als Soziologe kann er nichts dazu sagen, wie plausibel die Laborhypothese für die Entstehung der Seuche ist, aber ihm fällt auf, "dass diejenigen, die immerzu Maßnahmen der Pandemiebekämpfung ein Um-zu-Motiv unterstellen, auch diejenigen sind, die eher zu einer Rehabilitation der Laborhypothese neigen. Das Um-zu-Motiv meint die Behauptung, Lockdowns, Masken- und Impfpflichten, Verhaltensgebote und Ähnliches dienten weniger der Pandemiebekämpfung. Sie würden vielmehr betrieben, um auszutesten, wie weit man gehen könne, um die Freiheit der Menschen einzuschränken und illiberale Steuerung etablieren zu können. Die Pandemie sei der willkommene Testfall, gewissermaßen die Generalprobe fürs letzte Gefecht."
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Internet

Twitter heißt jetzt X - und nun träumt Elon Musk offenbar von einem zweiten Wechat, jener chinesischen App, die Chinas Whatsapp, Facebook, Uber, Lieferando und Paypal vereint, und über die man Arzttermine ebenso buchen wie Schnellkredite oder Scheidungspapiere beantragen kann, schreibt Kai Strittmatter, einst Korrespondent in Peking, der in der SZ nicht nur von der gigantischen Überwachungsmaschinerie und Zensur durch die KP, sondern auch der Abhängigkeit der Chinesen von Wechat berichtet: "Um die Macht zu ermessen, die Wechat über das Leben der chinesischen Bürger hat, kann man sich auf der Konkurrenz-Plattform Weibo einmal den Kanal 'Tencent-Kundendienst' anschauen. Dort versammeln sich Nutzer, deren Wechat-Konten aufgrund eines unvorsichtigen Posts gesperrt wurden: Ausgestoßene, die hier flehen und sich in größter Verzweiflung in den Staub werfen, in der Hoffnung, ein gnädiger Techno-Gott möge ihnen ihr Konto und damit ihr Leben zurückgeben: 'Ich flehe Sie an' - 'Ich bereue mein Fehlverhalten zutiefst' - 'Wollen Sie, dass ich mich vom Dach stürze?' - 'Ich fühle mich ängstlich und hilflos' - 'Ich werde die Partei und das Land nie im Stich lassen!' Denkbar, dass auch Elon Musk solch devoten Reaktionen auf seine teils erratischen Winkelzüge den Vorzug geben würde vor der scharfen Kritik, die er sonst einstecken muss." Der feuchte Traum jedes autoritären Staates - oder eines "Tech-Kapitalisten, der darauf aus ist, unser Leben zu kolonialisieren".
Archiv: Internet
Stichwörter: Twitter, Musk, Elon, China, Wechat, Techno, Kp

Kulturpolitik

Matthias Alexander freut sich in der FAZ über nun doch realisierbare Neubaupläne für Frankfurter Theater und Oper. Widerstände notiert er auch: "Die lautstarken Anhänger einer Sanierung der maroden und deshalb von sofortiger Schließung bedrohten Theaterdoppelanlage am Willy-Brandt-Platz werden... nicht aufhören, den längst getroffenen und im Koalitionsvertrag der aktuellen Rathaus-Mehrheit bestätigten Beschluss für einen Abriss infrage zu stellen und alle katastrophalen Erfahrungen, die beispielsweise Köln mit der Sanierung seiner Oper macht, zu ignorieren."
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Stichwörter: Frankfurt

Ideen

Für die NZZ besucht Benedict Neff den rechten französischen Schriftsteller Renaud Camus auf seinem Schloss in Südfrankreich zu einem ausgedehnten Dinner mit Lachs, Weißwein und Macarons. Ganze zwei Seiten räumt die NZZ frei, um Camus zu porträtieren, auf den die Verschwörungstheorie vom "großen Bevölkerungsaustausch" zurückgeht, und der auch mal twittert, im Vergleich dazu sei der Völkermord an den Juden geradezu "kleinkariert". Wir erfahren, dass Camus seinen Partner siezt, und er bekommt viel Raum, um seine Theorien auszubreiten und seine Isolation zu bejammern. Aber dann geht es doch mal zur Sache: "Camus versucht den angeblichen Bevölkerungsaustausch gar nicht erst mit Zahlen zu belegen, er spricht vom 'Gefühl einer Evidenz'. 'Der Begriff Bevölkerungsaustausch benennt in adäquater Weise, was die Leute sehen und erleben', glaubt Camus. Was Camus verschweigt: Der Begriff benennt vor allem, was die Menschen fürchten. Camus ist der Verkünder einer Migrationsdystopie. Und diese verfängt deshalb so gut, weil die europäische Zuwanderungs- und Asylpolitik seit Jahrzehnten den Eindruck von Kontrolle vermissen lässt. Die Theorie korrespondiert also teilweise mit der Wirklichkeit, mit realen Missständen, und verzerrt diese ins Verschwörerische."
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