9punkt - Die Debattenrundschau

Mit dem Betrug ist es wie mit dem Tango

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2023. Maria Kolesnikowa ist verschwunden. Ihre Famile hat zuletzt im Februar 2023 von ihr gehört, berichtet die Zeit - das Lukaschenko-Regime rächt sich mit sadistischer Lust an Oppositionellen. Wozu brauchte die Zeit einen "Faktencheck" zu Fabian Wolff, fragen FAZ, Perlentaucher und NZZ: Was hier fehlt, ist eine Erklärung über die eigenen Motive. Die Zeit stellt den "Marcel Reich-Ranicki der digitalen Gegenwart" vor. Sie ist eine Tiktokerin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.08.2023 finden Sie hier

Europa

Die belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa, die sich geweigert hatte, ins Exil zu gehen, ist verschwunden. "Das letzte Mal, dass ihre Familie etwas von ihr hörte, war, als sie ins Straflager zurückverlegt wurde, im Februar 2023", berichtet Alice Bota in der Zeit. Die einzige "Hoffnung" sei jetzt, dass sie irgendwo mit Kontaktverbot in einem "Karzer" steckt, einer zwei Mal zwei Meter großen Zelle, in der sie den ganzen Tag nicht sitzen darf. Alexander Lukaschenkos Regime rächt sich zur Zeit mit sadistischer Lust an den Oppositionspolitikern: "Swetlana Tichanowskaja, die belarussische Oppositionsführerin, mit der zusammen Kolesnikowa angetreten war, hörte aus anonymen Quellen, dass ihr zu 18 Jahren Lagerhaft verurteilter Ehemann Sergej tot sei. Viktor Babariko, der Oppositionskandidat, für den Maria Kolesnikowa einst eingesprungen war, wurde in Gefangenschaft derart zusammengeschlagen, dass er im April 2023 mit einer kollabierten Lunge ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Dann verschwand auch er. Maxim Znak, ein anderer Anwalt, der Kolesnikowa verteidigt hatte, ist ebenfalls spurlos verschwunden. Mehrere Dutzende der politischen Gefangenen sind wie vom Erdboden verschluckt."

Der Politologe Wolfgang Schroeder hat sich intensiv mit der AfD auseinandergesetzt. Zur Frage der Zusammenarbeit demokratischer Parteien mit der AfD schreibt er in der taz: "Aktuell entsteht durch die irrlichternden Einlassungen des CDU-Vorsitzenden Merz der Eindruck, eine Kooperation mit der AfD sei auf kommunaler Ebene zumindest in einzelnen Fragen unproblematisch. Es stimmt, dass es in Kommunalparlamenten oft um Sachfragen wie den Unterhalt von Straßen, den Bau von Feuerwehrhäusern oder die Sanierung von Schulen und Turnhallen geht. Doch daraus sollte man nicht ableiten, die kommunale Ebene wäre weniger bedeutend und eine Kooperation mit der AfD dort kein Problem. Die Kommunen sind Schulen der Demokratie, 200.000 Mandatsträger sind hier aktiv. Die Machtübernahme der Nazis startete übrigens nicht im Reichstag, sondern in den Thüringer Kommunalparlamenten."

Selbst in den türkischen Eliten fürchten 70 Prozent der Menschen, die Grundbedürfnisse ihrer Familien nicht mehr befriedigen zu können, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. "Auch in den Bereichen Bildung und Kultur erodiert das Land. Den offiziellen Statistiken zufolge konnten sich im letzten Jahr 85 Prozent der Bürger keinen Kinobesuch, 92 Prozent keine Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen und 69 Prozent kein Buch leisten... Laut offiziellen Angaben erhöhte sich die Zahl der ins Ausland Abgewanderten innerhalb eines Jahres um 62 Prozent."
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Politik

Bisher durften erst kaum mehr als 70.000 der schätzungsweise 500.000 vertriebenen Jesiden in ihre Heimat in der nordirakischen Region Sindschar zurückkehren, die meisten leben in Flüchtlingscamps oder Notunterkünften, sagt der Islamwissenschaftler Gohdar Alkaidy, der im Tagesspiegel-Gespräch auch von Unterdrückung und Übergriffen gegen die verbliebenen Jesiden berichtet: "Es wird seit Monaten massiv gegen die Minderheit gehetzt - und zwar von kurdisch-sunnitischen Mullahs. Sie werden bezahlt von der kurdischen Regionalregierung, die ja bekanntermaßen ein Partner im internationalen Kampf gegen den IS ist und dabei helfen soll, demokratische Strukturen im Nordirak aufzubauen. Aber die Prediger lässt sie gewähren. (…) Es gibt regelrechte Kampagnen. Uralte Vorurteile und Stereotype kommen zum Tragen. Zum Beispiel werden die Jesiden als 'Ungläubige' oder als 'Teufelsanbeter' und 'Fremde' denunziert - obwohl sie wie andere Volksgruppen seit Jahrtausenden dort leben. Der Irak war einmal ein Vielvölkerstaat. Doch davon kann heute keine Rede mehr sein. Auch Christen leiden unter Verfolgung."

Zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban harren, dem Versprechen zweier Bundesregierungen zum Trotz, noch immer tausende der Ortskräfte in Afghanistan aus, zum Teil werden sie bedroht oder gefoltert, schreibt Lena Kampf (SZ), die dem Bundesentwicklungsministerium und der ehemaligen Auftraggeberin der Ortskräfte, der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Zynismus vorwirft: "Abgelehnt werden diese Menschen oft mit einer perfide anmutenden Argumentation: Man könne … nicht erkennen, dass ihre Gefährdung über das allgemeine Maß an Lebensgefahr in Afghanistan hinausgehe. Die Antragsteller müssen darüber hinaus beweisen, dass sie nicht nur im Zusammenhang mit ihrer früheren Tätigkeit im Auftrag Deutschlands gefährdet sind, sondern aufgrund dieses Jobs. In einigen Fällen reichten für eine Aufnahme nicht einmal Fahndungsaufrufe der Taliban aus, selbst wenn darin die Tätigkeit für die GIZ explizit erwähnt wird."
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Medien

Die Print-Zeit erspart ihren Lesern heute jeden Hinweis auf ihre Relotius-Affäre und überlässt die Aufarbeitung des Fabian Wolff dem Proletariat aus der Online-Garage. Die eigentlich Frage hat die Zeit aber auch nach ihrem Faktencheck zu Wolff noch nicht beantwortet, findet Lukas Pazzini im Perlentaucher: " Was hat Zeit online in diesem Autor gesehen, das diesen Riesenartikel gerechtfertigt hätte? (...) Es kann nur darauf gehofft werden, dass sie das in dem Abschlussbericht zu diesem Fall offenlegt. Was hier fehlt, ist eine Erklärung über die eigenen Motive."

"Mit dem Betrug ist es indes wie mit dem Tango. Es braucht mindestens zwei dafür: einen, der betrügt, und einen weiteren, der sich betrügen lässt", schreibt in der NZZ Johannes C. Bockenheimer, der sich wundert, dass die Zeit in ihrem Faktencheck Wolff sozusagen immer noch die Treue hält: "Geholfen hat dabei, dass seine Sätze mit ihren popkulturellen Anspielungen und Versatzstücken aus dem Philosophie-Grundseminar eleganter ausfielen, als man es von ordinären Antisemiten gewohnt ist. Doch wer den semantischen Kitsch beiseitewischte, verstand sehr genau, welche Botschaft sich hinter Wolffs Chiffren verbarg: Der jüdische Staat ist und bleibt der Deutschen Unglück." Dass die Zeit einem gewissen Reiz der Texte Wolffs erlegen ist, ist für Claudius Seidl in der FAZ ja noch irgendwie verständlich: "Dass diese Redaktion erklärte, sie habe den Artikel 'einem Faktencheck unterzogen', ist es nicht: (...) Es genügte ja schon, die öffentlichen Stellungnahmen Wolffs zu seiner Kindheit, Jugend, seiner jüdischen Sozialisation nebeneinanderzulegen, damit man erkannte, dass irgendetwas nicht stimmen konnte."

Die Postfaschistin Giorgia Meloni säubert die Staatsanstalt RAI. Das haben zwar alle anderen Ministerpräsidenten vor ihr auch schon getan, aber nicht mit derartiger Verve, sagt Roberto Saviano, dessen Sendungen bei der RAI gestrichen werden, im Gespräch mit Michael Braun von der Zeit. Hinzukommt die Schwäche der anderen Medien. "Ganz nach dem Vorbild von Ungarn und Polen beherrscht Italiens extreme Rechte die Kunst, ihre Gegner einzuschüchtern. Wer zum Beispiel als Drehbuchautor aufmuckt, muss um seine Aufträge fürchten, wer als Journalist mit Kritik womöglich gar viral geht, darf sich ebenfalls auf heftigen Druck gefasst machen. Hinzu kommt, dass mit wenigen Ausnahmen die Zeitungen immer vorsichtiger, immer zahmer werden. Sie durchleben eine tiefe Krise bei der verkauften Auflage, und sie sind schlicht auf Hilfe vom Staat angewiesen. Das sind nicht nur direkte Subventionen, das sind auch zum Beispiel die Anzeigen der italienischen Bahn, die die Chefredaktionen nicht mit unbequemer Berichterstattung aufs Spiel setzen möchten."
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Kulturmarkt

Die Zeit, das deutsche Erfolgsmedium, das die Buchkritik tendenziell abgeschafft hat (heute gibt es immerhin ein paar, in manchen Wochen sind es nur noch ein oder zwei) feiert die Influencerinnen, die auf Tiktok über Bücher sprechen: "Es gibt eine BookTok-Bestsellerliste, herausgegeben von TikTok. Laut dem Marktanalysten NPD BookScan wurden 2021 allein dank dieser Plattform 20 Millionen Bücher in den USA verkauft", freut sich Paulina Unfried auf den Wirtschaftsseiten der Zeit. "In Großbritannien waren 2022 laut dem Analysten Nielsen 53 Millionen Euro Umsatz direkt mit BookTok assoziiert. Aktuelle Zahlen zu TikTok- Umsätzen in Deutschland gibt es nicht. Das neue literarische Gespräch, das auf der Plattform stattfindet, hat Folgen für die Verlage und Buchhandlungen, die plötzlich ein neues Geschäftsfeld haben; und für Autoren, die plötzlich neue Rezensentinnen haben. Studentinnen wie Valentina Vapaux, die in New York an der Columbia University Kreatives Schreiben studiert." Hier ist (so Unfried!) der "Marcel Reich-Ranicki der digitalen Gegenwart":
@valentinavapaux normal people = gen z, bwway = millenial, am I wrong? #booktok#sallyrooneyruinedmylife#overrated#bookslander ♬ original sound - Valentina Vapaux
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Geschichte

In der NZZ erinnert Ronald D. Gerste an die Präsidentschaft und den Tod von Warren G. Harding, der mit dem Wahlspruch "Zurück zur Normalität" 1920 in Amerika ins Amt gelangt war. Unaufgeklärt bleibt der Fall des im Jahre 1980 ermordeten Rabbiners Shlomo Lewin und seiner Partnerin, dessen Ermordung durch einen Rechtsextremen der Wehrsportgruppe Hoffmann die Behörden scheinbar bis heute nicht verfolgen wollen, schreiben Martina Renner, Linken Abgeordnete im Bundestag, und Sebastian Wehrhahn in der Zeit und fordern einen Untersuchungsausschuss. In der FAZ bespricht Hannes Hintermeier die Ausstellung "Displaced - Heimatlos nach 1945" im Münchner Stadtmuseum.
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Kulturpolitik

Eher sanft, aber informativ stellt Stephan Löwenstein in der FAZ die Arbeit des Mathias-Corvinus-Collegiums (MCC) dar, das von Viktor Orban sozusagen als Gegenmodell zur Soros-Stiftung aufgebaut wird, Konservative und noch weit Rechtere in ganz Europa vernetzen will und mit paradiesischen Mitteln ausgestattet ist. Dozenten dürfen sich bester Bezahlung erfreuen, auch Stiftungen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung arbeiten mit dem Kolleg zusammen. "Gastdozenten unterrichten für ein oder zwei Jahre. Aus Deutschland lehrte in Budapest zuletzt der Politikwissenschaftler Werner Patzelt, der bis zur Emeritierung an der TU Dresden wirkte. Anschließend veröffentlichte er das Buch 'Ungarn verstehen', das nicht ganz kritiklos, aber doch um Verständnis werbend die von Viktor Orbán geschaffene Verfassung Ungarns, das politische System und seine Geschichte darstellte."

Man muss das mit den Benin-Bronzen verstehen, meint Matthias Goldmann, Experte für Internationales Recht, in der FAZ. Er antwortet auf einen Artikel der Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die kritisiert hatte, dass die Benin-Statuen vom nigerianischen Staat nun in die Obhut des Oba, also des "Königs" des ehemaligen Königreichs Benin übergeben worden waren (unser Resümee): Das entspreche "afrikanischen Begriffen von kollektivem Eigentum", so Goldmann. "Entscheidend ist jedoch, dass das Dekret den Oba in seiner Funktion als Kustos der Kultur, Tradition und des Erbes des historischen Königreichs Benin ermächtigt - also gerade nicht als Privatperson."
Archiv: Kulturpolitik