9punkt - Die Debattenrundschau

Ein unvergessliches Denkereignis

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.08.2023. In der Welt befürchtet der Historiker Peter Turchin einen zweiten amerikanischen Bürgerkrieg nach den Wahlen 2024. In der FR fragt sich Wolfram Eilenberger: "Wäre ich bereit, für Kiew zu töten?" Die Bevölkerung in Bergkarabach droht zu verhungern, warnt die taz. "Immer häufiger animiert der deutsche Staat seine Bürger, andere Mitbürger anzuschwärzen", ärgert sich Hubertus Knabe in der Welt über das neue Hinweisgeberschutzgesetz. Die SZ lernt in einer Pariser Ausstellung, wie schnell Französinnen im letzten Jahrhundert ihre Staatsbürgerschaft verlieren konnten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.08.2023 finden Sie hier

Ideen

Der Historiker und Mathematiker Peter Turchin ist Begründer der Kliodynamik, die versucht, die Geschichte mit den Mitteln der Statistik zu erforschen. Gerade erst hat er das Buch "End Times. Elites, Counter-Elites and the Path of Political Disintegration" über ein mögliches Ende der USA veröffentlicht. "Leider sind Szenarien wie Bürgerkriege, ernsthafter Bevölkerungsrückgang, Epidemien, soziale Revolutionen sehr wahrscheinlich", sagt er im Welt-Gespräch mit Hannes Stein, in dem er einen zweiten amerikanischen Bürgerkrieg nicht ausschließt: "Ich habe große Sorge im Hinblick auf 2024. Wer immer die Wahl gewinnt - die Unterlegenen werden das Wahlergebnis nicht akzeptieren. Wenn die Westküste beschließt, sich nach einem Sieg von Trump für unabhängig zu erklären oder die Bundesstaaten im Nordosten sich nach einem Sieg von Biden von den USA lossagen, kann niemand wissen, was danach passiert. Weitverbreitete Aufstände, die von der Polizei niedergeschlagen werden?" Zudem werden Krisen hervorgerufen durch Elitenüberproduktion, meint er: "In Krisensituationen werden sehr viel mehr Aspiranten für Elitepositionen produziert, als untergebracht werden können. Zu viel Wettbewerb ist destruktiv, weil die gesellschaftlichen Normen untergraben werden. Dann verwandeln sich die Verlierer in Gegeneliten, die das Regime angreifen und versuchen, es durch Gewalt zu stürzen."

Vor knapp drei Jahren veröffentlichte Wolfram Eilenberger seinen Band "Feuer der Freiheit" über die Philosophinnen Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Simone Weil und Ayn Rand. Im FR-Gespräch nimmt Michael Hesse das Buch zum Anlass, Eilenberger zu fragen, wie die Philosophie heute auf das erneute Aufkommen der Rechten reagieren sollte: "In der deutschen Philosophie ist die Antwort aus der liberalen Theoriebildung immer noch Rawls und Habermas, als ob die derzeitigen Probleme richtig zu adressieren, geschweige denn zu lösen wären, indem man weiter an diesen Theorien rumdoktert. Es gibt geradezu einen dogmatischen Schlummer in der deutschen akademischen Philosophie", beklagt Eilenberger, der mit Blick auf den Krieg in der Ukraine empfiehlt, Simone Weil zu lesen: "Die Art und Weise, wie Simone Weil gedanklich mit ihrem Pazifismus gerungen hat, bleibt sehr eindrücklich für unsere heutige Zeit, für die Frage, wie wir zu kriegerischer Gewalt und Intervention stehen. Ein unvergessliches Denkereignis ist bei Simone Weil, als sie sagte, das eigentlich größte Opfer, das ein Mensch im Krieg bringen kann, besteht nicht darin, das eigene Leben zu lassen, sondern das Leben eines anderen zu nehmen. Wir denken darüber nach: Wäre ich bereit, für Kiew zu sterben? Während nach ihr die ethisch interessante Frage lautet: Wäre ich bereit, für Kiew zu töten? Das war, wäre für sie die eigentliche Überwindung."
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Gesellschaft

Seit Juli dieses Jahres ist das sogenannte Hinweisgeberschutzgesetz in Kraft: Wer mehr als 49 Mitarbeiter beschäftigt, muss eine Stelle einrichten, bei der man im Arbeitsleben beobachtete Straftaten melden kann. Das "Denunziantentum" ist zurück, klagt der Historiker Hubertus Knabe in der Welt. Für Informanten wurde das Geschäftsgeheimnis, das Steuergeheimnis und das Sozialgeheimnis außer Kraft gesetzt, zudem genießen sie "einen weitgehenden Kündigungsschutz. Behauptet nämlich ein Beschäftigter, dass seine Benachteiligung im Beruf aufgrund einer Meldung erfolgte, muss ihm der Arbeitgeber das Gegenteil beweisen. Von Kündigung oder Abstieg bedrohte Arbeitnehmer könnten deshalb versucht sein, rasch eine Meldung einzureichen - und dann zu behaupten, diese sei die Ursache der Maßnahme. Das neue Gesetz stellt den vorläufigen Höhepunkt einer schon länger anhaltenden Entwicklung dar: Immer häufiger animiert der deutsche Staat seine Bürger, andere Mitbürger anzuschwärzen. Während das Strafgesetzbuch aus gutem Grund ausschließlich verlangt, geplante schwere Straftaten anzuzeigen, damit sie noch verhindert werden können, hat sich in Deutschland mittlerweile eine regelrechte Meldestellen-Industrie entwickelt."
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Europa

In Bergkarabach bahnt sich durch den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien eine humanitäre Katastrophe an, schreibt Barbara Oertel in der taz: "Die Bevölkerung in Bergkarabach (armenisch: Arzach), derzeit noch rund 120.000 Armenier*innen, droht zu verhungern. Jüngst wurde über einen 40-Jährigen berichtet, der an Unterernährung gestorben sei. Es fehlt nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern auch an Medikamenten, Benzin wird knapp, Strom und Gas gibt es, wenn überhaupt, nur stundenweise. Der Grund: Bergkarabach ist seit Monaten von seinem Hauptversorger Armenien abgeschnitten. Luis Morena Ocampo, Ex-Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, sprach in der vergangenen Woche vom 'Hunger als unsichtbarer Waffe' eines Genozids, den Aserbaidschan vorbereite. Ohne dramatische Veränderungen würden die Armenier*innen in Bergkarabach binnen weniger Wochen sterben."

Schuld
an den Umfrage-Erfolgen der AfD sind nicht die regierenden Politiker oder die vielfachen Krisen, es sind die Wähler, die ihre Stimme einer "nationalfaschistischen" Partei geben, meint Heribert Prantl in der SZ. Und die müssen sich Kritik gefallen lassen, fährt Prantl fort, der nichts von einem Verbot der "Wählerbeschimpfung" hält: "Wer so eine Partei wählt, der wählt verfassungsfeindlich. Das darf und muss man ihm sagen, weil man den Schutz der Verfassung und des Rechtsstaats nicht einfach allein dem Verfassungsschutz überlassen darf. Das ist keine Wählerbeschimpfung, das ist Aufklärung. Außerdem rät Prantl allen, die unter den "quirligen kleinen Parteien" kein passendes Angebot findet, die Stimme ungültig zu machen. "Das ist demokratieverträglicher Zorn."

Ebenfalls in der SZ resümiert der seit knapp sechs Jahren in der Türkei inhaftierte Kulturmäzen Osman Kavala die Ereignisse seit seiner Verhaftung, die trotz Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiterhin besteht. Ganz hat Kavala die Hoffnung aber noch nicht aufgegeben: "In einer politischen Umgebung, in der der Justiz erlaubt wird (oder in der sie sogar ermutigt wird), Kosmopolitismus zu dämonisieren, ist eines womöglich nicht realistisch: zu erwarten, dass die Juristen universelle Rechtsnormen verinnerlichen und ihre Rechtsauffassung an die Urteile des EGMR anpassen. Der ist ja auch nur eine Körperschaft, die man für einen ausländischen Agenten halten könnte, der darauf zielt, die Souveränität des Staates zu unterminieren. Die türkischen Behörden sollten erkennen, dass ein faires Verfahren stets Ermittlungen aus unparteiischer Perspektive erfordert, frei von ideologischen Überzeugungen - indem man sich auf konkrete Fakten fokussiert, statt auf abstrakte Behauptungen und Verschwörungstheorien."

Im Aufmacher des FAZ-Feuilletons warnt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Werner Plumpe davor, die gegenwärtige Wirtschaftskrise in Deutschland auf die leichte Schulter zu nehmen: "Die Hoffnung, es werde schon gut gehen, das Land sei reich und seine Wirtschaft habe sich in der Vergangenheit doch durchaus resilient gezeigt, wie das Modewort heißt, ist nicht gut begründet. (…) Der starke Strukturwandel, ein Merkmal der Wiederaufbauzeit und auch noch der 1970er- und der 1990er-Jahre, die wesentliche Quelle der Produktivitätsgewinne, ist zum Stillstand gekommen. Das hat eine Fülle von Ursachen. Viele Potentiale sind ausgeschöpft; die Landwirtschaft ist extrem geschrumpft, wenig wettbewerbsfähige Industriezweige sind fast ganz aufgegeben worden. Gleichzeitig sind die Investitionsquoten niedrig, die Entfaltung neuer technologischer Potentiale gering, die Tendenz, dass wichtige Industriezweige aus Kostengründen ihre Standorte verlagern, hoch."
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Geschichte

Bewegt kommt Jörg Häntzschel (SZ) aus der neuen Dauerausstellung im Pariser Museum der Geschichte der Einwanderung - dem ehemaligen Pariser Kolonialmuseum, die ihm weniger von Migrationsproblemen als allgemein von Frankreichs Bevölkerungspolitik erzählt und daran erinnert, dass Einwanderung einst als Instrument eingesetzt wurde, "um das Land durch Blütezeiten und Durststrecken zu steuern. Als Ende des 19. Jahrhunderts im Norden Arbeiter in den Bergwerken fehlten, heuerte man sie in Polen an. Bald darauf kamen Zehntausende von Italienern und Portugiesen aus ihrer noch bäuerlichen Heimat nach Frankreich und machten den märchenhaften Aufstieg der Industrienation erst möglich." Die Einwanderer der späteren Generationen fanden aber schon andere Verhältnisse vor: "Nach dem Ende des Booms der Zwanzigerjahre werden sie ... immer öfter angefeindet und rassistisch diskriminiert. Bis zu ihrer wirklichen Ankunft durch die Einbürgerung oder der, wie es so vielsagend heißt, 'Naturalisierung', vergingen oft halbe Leben. Zwei staatliche Interessen kollidierten bei dieser ewig umkämpften Frage des Einbürgerungsrechts. Einerseits wollte man den Einwanderern die Staatsbürgerschaft so lange wie möglich verwehren, andererseits brauchte man sie zum Kriegsdienst, was deren Einbürgerung voraussetzte. Frauen waren übrigens erheblich schlechter gestellt als Männer, und nicht nur die eingewanderten Frauen: Heiratete eine Französin einen Nichtfranzosen, verlor sie bis 1927 ihre französische Staatsangehörigkeit."

Der Osteuropahistoriker Fabian Baumann hat diese Woche sein Buch "Dynasty Divided. A Family History of Russian and Ukrainian Nationalism" veröffentlicht, in dem er am Beispiel der Kiewer Intellektuellendynastie der Schulgins und Schulhins zeigt, wie der Aufstieg des Nationalismus im 19. Jahrhundert die gebildeten Eliten der Ukraine spaltete. Schulhin und Schulgin ist zweimal derselbe Name, einmal ukrainisch, einmal russisch ausgesprochen, erklärt er heute in der NZZ. Die einen verstanden sich als national orientierte Ukrainer, die anderen als zaristische Russen: "Die Entscheidung für Russland oder für die Ukraine hatte Konsequenzen. Während der Staat den ukrainischen Nationalismus rücksichtslos unterdrückte, standen russischen Nationalisten alle Möglichkeiten offen. Dies galt auch für die folgende Generation. Da alle Nationalisten die Nation als ein Kontinuum in der Zeit betrachteten, war die Weitergabe der Nationalkultur an ihre Kinder eine ihrer wichtigsten Aufgaben."

"Wieso hat Israel keine Verfassung, die in den meisten Demokratien die Macht einhegt und austariert sowie die Minderheit vor der Mehrheit schützt?", fragt Josef Joffe ebenfalls in der NZZ: "Den israelischen Sündenfall darf man ausgerechnet dem Gründervater David Ben-Gurion ankreiden - einem braven Sozialdemokraten. Gegen Ende des Unabhängigkeitskrieges 1949 dozierte er weitschweifig, warum er keineswegs eine Verfassung wolle. In seiner Notlage - Krieg, Masseneinwanderung, Armut - könne Israel sich keine Verfassung leisten, welche den Gewalten wie in Amerika 'checks and balances' aufzwinge. Man möge sich vorstellen, so der erste Ministerpräsident, dass 'sieben Richter verbieten, was die Nation will'. Mehrheit ist Mehrheit: 'Wenn sie ein schlechtes Gesetz verabschiedet, ist das immer noch besser als die Herrschaft der Minderheit.' Eine brutale Polemik, welche den Schwächeren ein angebliches Machtmonopol zuschanzt."
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Medien

Diese Woche warnte Frank Überall, Vorsitzender der Deutschen Journalistenunion deutsche Journalistinnen vor einer Reise in die Türkei. Vielleicht sollten erinnern wir uns auch mal wieder an die schlimmen Bedingungen der türkischen Kollegen erinnern, meint Wolf Wittenfeld in der taz: "Die meisten inhaftierten JournalistInnen, die von den Behörden in aller Regel gar nicht als JournalistInnen anerkannt werden, arbeiten für kleine pro-kurdische Nachrichtenportale, die im Westen der Türkei kaum jemand kennt. Sie verschwinden als PKK-UnterstützerInnen im Gefängnis, was außerhalb der kurdischen Community kaum noch wahrgenommen wird. Seit der großen Kampagne gegen die Schließung der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem 2015, wo prominente JournalistInnen und linke Intellektuelle wie die Schriftstellerin Aslı Erdoğan sich tageweise als ChefredakteurInnen zur Verfügung gestellt hatten, sind kurdische Medien aus der türkischen Öffentlichkeit praktisch verschwunden."

In der FAZ will Thomas Hestermann, Professor für Journalismus, die von Ex-Anchor-Man und Ex-Intendant Peter Voss und Dramaturg Bernd Stegemann ebenda erhobenen Vorwürfe, die Berichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen sei tendenziös, nicht bestätigen. (Unser Resümee) Hier werden "Empfindung und Eindruck" bemüht, doch der empirische Nachweis fehlt, meint er und verweist auf eine an der Hochschule Macromedia durchgeführte Analyse, die seit 2007 "zweijährlich die Hauptnachrichten und Boulevardmagazine der acht reichweitenstärksten bundesweiten Fernsehsender und seit 2019 fünf auflagenstarke überregionale Tageszeitungen (darunter die FAZ), zunächst zur Gewaltberichterstattung, seit 2019 auch zur Berichterstattung über Menschen nichtdeutscher Herkunft, die in Deutschland leben" untersucht: "Dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Eingewanderte und Geflüchtete besonders wohlwollend darstellte, lässt sich nicht bestätigen. Tatsächlich zeigt 2023 die Analyse von 506 Beiträgen, dass die öffentlich-rechtlichen Sender die Risiken der Migration ähnlich wie die privatrechtlichen Sender und deutlich stärker als die untersuchten Zeitungen gewichten."
Archiv: Medien