9punkt - Die Debattenrundschau

Zu viel Wunschdenken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2023. In Russland steht jetzt nicht nur die "heroische Geschichte des russischen Staates" auf dem Lehrplan, sondern auch das Werfen mit Granaten, berichtet die taz. Die FAZ ist skeptisch, ob die Vermeidungsstrategie im geplanten "Deutsch-Polnischen Haus" in Berlin am Ende aufgeht. Auf Quantara erzählt eine junge Syrerin von den Versuchen, dem syrischen "Massengrab" zu entkommen. Im Iran wird derweil das Gesetz "Hijab und Keuschheit" geplant, das Haftstrafen, Arbeits-und Reiseverbote für Frauen vorsieht, die sich weigern Kopftuch zu tragen. Und im Spiegel wirft Deborah Feldman den Deutschen ein "zwanghaftes Verhältnis" zum Judentum vor.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.08.2023 finden Sie hier

Europa

Zuletzt gab es das Fach "Militärische Grundausbildung" in der Sowjetunion, nun steht es für russische Schüler ab der zehnten Klasse wieder auf dem Lehrplan, berichtet Inna Hartwich in der taz. Gelehrt wird unter anderem der Umgang mit Kleinkaliberwaffen oder das Werfen mit Granaten. Und nicht nur das: Auch ein neues einheitliches Geschichtsbuch wurde eingeführt, das die Sowjetunion preist, Stalin rehabilitiert und Putins "militärische Spezialoperation" gegen die Ukraine als notwendig darstellt: "Das Wichtigste dabei: Russland sei 'wiedergeboren' worden, werde aber von Neidern aus dem Westen und inneren Verrätern von weiterer Entwicklung abgehalten. Die Autoren sprechen die Schüler*innen direkt an, schreiben immer wieder, wie viel Verantwortung auf ihnen liege, die 'heroische Geschichte des russischen Staates' weiterhin zu bewahren. Sie müssten sich gegen die 'Geschichtsperversion', die die USA betrieben, wehren. Bereits in der Sowjetunion hätten die 'Feinde im Ausland' das 'positive Bild unseres Landes' zu zerstören versucht, steht im Buch. Dazu hätten sie auch die 'Entthronung' der Gestalt Stalins benutzt. (…) Die Sowjetunion wird als Erfolgsgeschichte beschrieben, die nur deshalb nicht habe ihr Potenzial entfalten können, weil die 'Feinde aus dem Westen' es stets gehindert hätten. (…) Die USA seien nun bereit, bis zum letzten Ukrainer gegen Russland zu kämpfen, das sei ihr Businessmodell."

Die Historikern Franka Maubach mahnt im Zeit Online-Interview dazu, in der Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger den historischen Kontext der achtziger Jahre mehr miteinzubeziehen, denn "die Zeit, in denen die Aiwangers die Schule besuchten, war von einer rechtsradikalen Gewalt geprägt, die das kollektive Gedächtnis zu wenig gespeichert hat. Auch in Bayern." Betrachte man das aufgeladene politische Klima von damals, sei es kaum möglich, das antisemitische Pamphlet als "Dummejungenstreich" abzutun: "Im öffentlichen Raum der Achtzigerjahre waren rechtsradikale Flugblattaktionen und Hakenkreuze verbreitet. Auf vielen Schulhöfen gingen rechtsextreme Schülerzeitschriften um, deren Tonfall pseudosatirisch-pubertär war, die aber handfeste rassistische Stereotype verbreiteten und antisemitische Propaganda betrieben. In ihrer Aufmachung mochten sie harmlos wirken, aber das waren sie nicht."
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Politik

Zwölf Jahre nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs fühlen sich junge Syrer "noch mehr als Exilanten als unsere Freunde und Verwandten, die das Land verlassen haben", schreibt die Syrerin Jenan Aljundi, die auf Quantara die Verhältnisse der Syrer, die zurückgeblieben sind, schildert: "Wir verlieren uns in Diskussionen über unsere finanzielle Misere, ärgern uns über die Hochschulen, die uns regelmäßig loswerden wollen, oder über das syrische Gesundheitssystem, das unsere Lebenszeit verkürzt, weil es nicht in der Lage ist, die Infektionskrankheiten zu bekämpfen, die sich während des Krieges ausgebreitet haben: Cholera, Tuberkulose oder Brucellose. Jeden Tag sterben wir tausendfach, bevor wir erschöpft in unsere Betten fallen und uns wünschen, dass alles einfach aufhören möge. Verstrickt in unsere alltäglichen Probleme und angesichts der Schwierigkeit, unsere menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, vergessen wir, über unsere erschöpften Seelen und unser seelisches Leid zu sprechen, das von Verlust, Armut und Demütigung geprägt ist. Bittere Gefühle stauen sich auf. Sie bemächtigen sich unserer Gedanken und lassen den traurigen Rest von unserem Selbst erschöpft zurück. Jeden Tag suchen wir nach Möglichkeiten, ins Ausland zu fliehen. Das wäre unsere einzige Chance, diesem Massengrab zu entkommen."

"Hijab und Keuschheit" heißt der Gesetzesentwurf, den das iranische Parlament vorsieht und der "drakonische" Strafen für die Frauen im Iran vorsieht, schreibt Clemens Lintschinger auf hpd: "Der Gesetzentwurf richtet sich an die Geheimdienste und erteilt ihnen die Befugnis, Frauen, die sich weigern, den obligatorischen Hijab zu tragen, zu ergreifen und den Justizbehörden zur Verurteilung zu übergeben. Den Frauen drohen eine fünf- bis zehnjährige Haftstrafe und Geldstrafen, die für Iraner mit durchschnittlichem Einkommen unerschwinglich sind. Der Gesetzesentwurf geht jedoch noch weiter: Er beinhaltet Arbeitsverbote, den Ausschluss aus Bildungseinrichtungen, Reiseverbote und die Beschlagnahmung von Reisepässen. Unternehmen, die sich nicht um die Einhaltung der Hijab-Vorschriften bei ihren Mitarbeiterinnen kümmern, müssen ebenfalls mit empfindlichen Strafen rechnen."
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Stichwörter: Syrien, Iran, Kopftuch, Hijab

Gesellschaft

Gerade ist Deborah Feldmans neues Buch "Judenfetisch" erschienen. Der Begriff beschreibe das "zwanghafte Verhältnis, das man in Deutschland zum Judentum hat. Es ist so überladen. Wir Juden werden mit Projektionen überhäuft", erläutert sie im Spiegel-Interview mit Tobias Rapp, in dem sie auch Institute wie das Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg, das Rabbiner ausbildet, kritisiert: "Deutschland ist bereit, sehr viel Geld auszugeben, um wieder eine jüdische Gemeinde zu haben. Und so lang dieses Geld fließt, wird auch jemand da sein, der es nimmt und den Deutschen das gibt, was sie so gern wollen: ein 'lebendiges' Judentum. Aber ich glaube, dass dieses Geld vor allem Abhängigkeiten und Begehrlichkeiten schafft. Es fördert Korrumpierbarkeit. Das Geld wird keine authentische jüdische Gemeinde schaffen. Im Gegenteil. (…) Es gibt nur sehr viel Streit. Und das ist meistens ein Streit ums Geld - und um den dafür unentbehrlichen Alleinvertretungsanspruch."
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Kulturpolitik

Das Bismarckdenkmal in Hamburg, 2015. Foto: SKopp, unter cc-Lizenz

Der Wettbewerb zu einer geplanten "Intervention" bezüglich des 34 Meter hohen Hamburger Bismarck-Denkmals ist gescheitert. Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda sieht im Gespräch mit Till Briegleb (SZ) für die Zukunft vor allem Kommunikationsbedarf: "In Fachkreisen herrscht vergleichsweise Einigkeit über Fragen der kolonialen Aufarbeitung. Wenn ich aber in die Stadtgesellschaft horche, scheint das Thema vielen noch recht egal zu sein. ... Wir müssen also weiter Aufklärungsarbeit leisten." Warum haben sich so wenige schwarze Künstler an dem Wettbewerb beteiligt, wo doch der Fokus auf Bismarcks Anteil am deutschen Kolonialismus lag? Brosda: "Das Problem bei einem offenen Verfahren ist, dass der Auslober nicht direkt ansprechen darf. Wir haben es über mittelbare Strukturen trotzdem versucht. Leider haben sich dennoch viele Angesprochene nicht beteiligt. In den Workshops, zu denen wir vorher Experten aus dem globalen Süden eingeladen hatten, die sich künstlerisch oder wissenschaftlich mit Bismarck befassen, konnte man zudem den Eindruck gewinnen, dass Bismarck von diesen Akteuren zum Teil weit weniger kontrovers aufgefasst wird, als es hier der Fall ist."

Gestern stellte Claudia Roth die Pläne für ein "Deutsch-Polnisches Haus" vor, berichtet Andreas Kilb in der FAZ: Statt des Denkmals für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs, über das jahrelang gestritten wurde, soll am Platz der früheren Kroll-Oper eine Begegnungs- und Bildungsstätte mit Dauer- und Wechselausstellungen entstehen, "die zugleich als Gedenkort für Kranzniederlegungen dienen kann - sozusagen das komplette Menü der Geschichtspolitik in einem einzigen Bau." Kilb ist skeptisch: "Zwischen Polen und Deutschen steht heute nicht nur die PiS-Regierung in Warschau mit ihren geschichtsrevisionistischen Entschädigungsforderungen, sondern die gesamte Gewaltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Eckpunktepapier versucht diesen Abgrund zu überbrücken, indem es einerseits 'Prozesse der Verfeindung' wie den gewaltsamen Tod von mehr als fünf Millionen Polen im Zweiten Weltkrieg, andererseits die lange 'gemeinsame Verflechtungsgeschichte' als Ausstellungsthemen aufruft.  Aber schon die auffällige Vermeidung des Begriffs 'Vertreibung' zeigt, dass sich das Konzept auf dünnem Eis bewegt. Das 'oft grundsätzliche Un- oder Missverständnis' zwischen beiden Nationen soll aufgelöst werden, doch um gewisse Themen macht man lieber einen Bogen."
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Ideen

In seinem gerade erschienenen Buch "Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte" untersucht der Psychiater Andreas Heinz die Rolle von "kolonialem Herrschaftsdenken" in der Geschichte der Diskussionen um psychische Erkrankungen, erklärt Juliane Liebert, die sich im SZ-Gespräch von Heinz erläutern lässt, was genau er damit meint. Grundsätzlich geht es ihm um den vermeintlichen Unterschied zwischen "primitiv" und "domestiziert": Bis heute, so Heinz, spielen in der Medizin überkommene Vorstellungen von Hierarchie und Kontrolle eine große Rolle, wenn die Funktionsweise des Gehirns erläutert wird: "Fast alle gehen bei psychischen Erkrankungen von einem Verlust der Top-Down-Kontrolle aus, also der frontale Cortex - oder was immer es ist, was als höchstes Hirnzentrum imaginiert wird - verliert die Kontrolle über vermeintlich niedrigere Hirnzentren. Das bedeutet dann einen Verlust der Rationalität und der findet demnach bei Psychosen statt, bei Suchterkrankungen, bei Depressionen und bei Angsterkrankungen. Anders gesagt: Da gibt es immer den Aufstand der untergeordneten Hirnzentren. Ja, die Hirnzentren machen dann irgendwas Unpassendes. Sie haben zu viele Gefühle, zu viele Begierden, zu viel Wunschdenken, keine Lust oder was auch immer."
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Internet

Auf qantara kritisiert der Publizist Abdullah Jbour ein vom jordanischen Parlament ratifiziertes Gesetz gegen Cyber-Kriminalität. Nur ein Monat verging von der Vorlage des Entwurfes bis zur tatsächlichen Verabschiedung, schreibt er. Wie viele Journalisten und Menschenrechtsaktivisten im Land sieht er die Meinungsfreiheit in Gefahr: "Das neue Gesetz mag einige positive Aspekte haben - zum Beispiel kann es zur Bekämpfung von Identitätsdiebstahl, sexueller Erpressung und Menschenhandel dienen. Aber es wird die Veröffentlichung und Verbreitung von Informationen kriminalisieren (einschließlich dessen, was die Regierung als 'Fake News' und 'Verleumdung' ansieht). Außerdem wird es den Staatsanwälten weitreichende Befugnisse zur Durchsetzung des Gesetzes einräumen. Darüber hinaus verwendet das Gesetz vage und weit gefasste Begriffe, wie 'Wahrheit', 'nationale Einheit', 'Aufruhr' und ähnliche Begriffe, die leicht nach Belieben ausgelegt und instrumentalisiert werden können."
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Medien

Wie konnte es dem ORF passieren, gleich zwei russische Propagandavideos in einem zweiminütigen Beitrag zum Ukrainekrieg einzubauen, hakt Florian Bayer in der taz heute nochmal nach (unser Resümee). Der ORF blieb auf taz-Anfrage Antworten schuldig, dabei handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall, so Bayer: "ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz berichtet seit 2013 aus der Ukraine und fällt genauso lang durch die Verbreitung prorussischer Narrative auf. Bereits im Zuge der Euromaidan-Proteste betonte Wehrschütz vor allem die gewaltbereiten Demonstranten. Im Zuge des russischen Einfalls im Donbass 2014 sprach er von 'Rebellenrepubliken' und vermittelte das Bild eines Bürgerkriegs. (…) Das journalistische Handwerk begann Wehrschütz in den 1980er Jahren bei der rechtsextremen Zeitschrift Aula, deren Chefredakteur er wurde. Sein allererstes Interview führte er mit dem Holocaustleugner David Irving. Die 1988 gegründete Tageszeitung Der Standard nannte er mit antisemitischer Anspielung einen 'selbsternannten Gralshüter des politischen Liberalismus, der wohl mehr der Ostküsten-Mentalität der Vereinigten Staaten […] entsprechen dürfte'. Bis 2002 war Wehrschütz, damals schon jahrelang beim zur Objektivität verpflichteten ORF, FPÖ-Mitglied."

Die alte Belegschaft des Journal du Dimanche ist weg, nachdem sie gegen die Ernennung des extrem rechten Chefredakteurs Geoffroy Lejeune gestreikt hatte (unsere Resümees) - ausgetauscht wurde sie gegen gleichgesinnte rechte Journalisten, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ. Nach einem peinlichen Fehlstart kommt die neuste Ausgabe nun mit dem Titelthema Schule und Kritik am Freihandelsabkommen mit der Ukraine daher, aber immerhin ist es "kein braunes Kampf- und fremdenfeindliches, rassistisches Hetzblatt", räumt Altwegg ein: "Doch es frönt den Themen und Obsessionen der populistischen und extremen Rechten. Für Politiker und Beobachter könnte es zur Pflichtlektüre werden, um zu beobachten, was sich auf dieser Seite des politischen Spektrums tut. (…) Die Machtübernahme beim Journal du Dimanche bleibt indes eine Schande: Ein Milliardär kauft eine bestens eingeführte, traditionsreiche Zeitung, verordnet ihr eine radikal andere Ausrichtung, die Redaktion tritt geschlossen ab, ein neuer Chef tritt an. Als Reaktion auf Bollorés Übernahme des JDD hat Emmanuel Macron angekündigt, die französische Medienlandschaft gesetzlich neu zu ordnen. Zunächst soll es um die Presseförderung und das Steuersystem gehen. Ohne staatliche Subventionen kommen viele Zeitungen und Magazine nicht über die Runden."
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