9punkt - Die Debattenrundschau

Zumindest irgendetwas

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2023. Das Schlaraffenland ist zwar noch nicht abgebrannt, warnt Michel Friedman in der SZ, aber viele kleinere Feuer wüten bereits. So gut wie alle NGOs in Europa machen sich große Sorgen, berichtet die taz, denn viele von ihnen werden von George Soros' "Open Society Foundation" unterstützt, die sich jetzt aus Europa zurückzieht. In der Zeit erzählt Roberto Saviano das Leben Jewgeni Prigoschins als Drehbuch für eine Fernsehserie, fürchtet aber, dass kein Sender so eine wilde Geschichte abgenommen hätte. Und in taz und FAZ macht sich der Journalismus über sich selbst Gedanken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.08.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

In seinem neuen Buch "Schlaraffenland abgebrannt" sieht Michel Friedman im SZ-Interview mit Joachim Käppner das "Schlaraffenland Deutschland" abfackeln. Die Gesellschaft nimmt vieles zu selbstverständlich und bringt sich nicht mehr in die Demokratie ein, fürchtet Friedman. "Wenn so viele Menschen glauben, nur wenig müsse sich verändern, das meiste könne so bleiben, sie müssten sich über wenig Sorgen machen als über sich selbst, und nicht sehen wollen, dass in der Geschichte erfolgreiche Gesellschaften und Staaten auch wieder zusammenbrechen können, dann ist das eine Gefahr für die Demokratie. Immer mehr Menschen spüren aber, dass das Schlaraffenland zwar noch nicht abgebrannt ist, aber viele kleinere und größere Feuer bereits wüten. Diese Angst führt immer öfter zu einem Hilferuf nach autoritären Strukturen und Führerpersönlichkeiten. Wir brauchen mehr Intellektuelle im Land, die sich massiv für die Demokratie starkmachen und den kritischen öffentlichen Dialog ankurbeln." 

Bibliotheken werden vermehrt zum Hassobjekt der Rechten, erzählt Peter Laudenbach in der SZ und verweist als Beispiele auf die Störung einer Kinderbuchlesung mit Drag Queens in München oder zerschnittene und beschmierte Bücher in Berlin. Dabei stellen Rechte die Neutralität von Bibliotheken generell in Frage. "Immer wieder werfen ihnen Vertreter der AfD politische Einseitigkeit und damit einen Verstoß gegen das Gebot der politischen Neutralität vor - etwa, wenn sie keine Publikationen aus rechten Verlagen vorhalten. Das ist Unsinn, Bibliotheken sind zwar zu parteipolitischer Neutralität, aber natürlich nicht zu Wertneutralität verpflichtet. Sie müssen ihren Benutzern keine Bücher von Verschwörungsideologen oder Verfassungsfeinden anbieten. Aber auch wenn die Vorwürfe der politischen Einseitigkeit nicht haltbar sind, können sie ihren Zweck erreichen und Bibliotheksmitarbeiter verunsichern."
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Ideen

Kant hat in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" skizziert, wie die damaligen Herrscher mit Hilfe seiner Vernunft-Grundsätze jeden Krieg beenden können sollten. Etwas wohlfeil, findet der emeritierte Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer in der NZZ. Stehende Heere, zum Beispiel, sollen nach Kant aufhören zu existieren. "Es folgt der ebenso verzweifelte Hinweis auf 'irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes', mit dem Kant darauf hofft, dass zumindest 'irgendetwas' inmitten einer Welt des rabiaten Vernichtungswillens den Frieden ermöglichen könnte. So ungenau hat Kant noch nie nachgedacht. Weil all dieses Sollen, Hoffen und 'Irgendein' eines echten Aufklärers unwürdig ist, zieht Kant gegen Ende seiner Intervention noch einmal alle Register. (...) Es hagelt Verbotsgesetze, die alles untersagen, was außerhalb des Bereichs der Vernunft- Gesetze liegt. So als könnte man durch ein möglichst dicht und lückenlos gestricktes Netz logischer Schlussfolgerungen die Gefahr der Barbarei bannen."
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Stichwörter: Kant, Immanuel, Vernunft

Medien

Reichlich proklamatorisch klingt, was die beiden Medienwissenschaftler Leif Kramp und Stephan Weichert in der taz in einem Grundsatzzartikel über Journalismus heute schreiben: "Wir brauchen einen neuen 'alten' Journalismus, der sich an ethischen Grundtugenden und demokratischen Werten orientiert, der die Menschen dadurch überzeugen kann, dass er ganzheitlich und transparent agiert, dass er Kontexte diskutiert. Und dass er sich frei von Abhängigkeiten macht - von Geldgebern, ökonomischen Launen, politischen Einflüssen und den digitalen Infrastrukturen des US-amerikanischen Tech-Kapitalismus. Hass und Hetze, auch Propaganda - Beispiel Ukrainekrieg - erfordern einen souveränen, selbstbestimmten, wehrhaften Journalismus, der die Bürgerinnen und Bürger resilienter macht - in schlechten und für schlechte Zeiten. Er darf keiner anderen Mission folgen als dem Gemeinwohl." Das ganze ist wohl ein Eröffnungstext für einen Kongress über "Nonprofit-Journalismus", der sich aus Spenden und Subventionen finanzieren soll.

Die RBB-Interimsintendantin Katrin Vernau, die auch gern dauerhaft ins Amt gekommen wäre, ist im Moment in allen Medien präsent. In der FAZ beschreibt sie ihre Visionen für einen erneuerten RBB. Unter ihrer Leitung sei es gelungen, "aus dem scheinbar trägen Anstaltstanker ein Reformschnellboot" zu machen. Nun fordert sie mehr Digitalisierung und Regionalisierung des Programms und fordert außerdem neue Statitisken: "Wie benötigen... eine einheitliche Messgröße, die unsere Relevanz über alle Verbreitungswege hinweg misst. Diese oberste Erfolgskennzahl ist die Zeit, die den Menschen täglich für den Medienkonsum zur Verfügung steht, und der Anteil daran, den wir davon mit unseren Angeboten bei unserem Publikum sind. Erst darunter ist es dann sinnvoll, die Erfolgsmessung nach Fernsehen, Hörfunk und Internet zu differenzieren." Auch im Gespräch mit dem Tagesspiegel kann Vernau ihre Verdienste nicht genug loben: "Ruhe und Sachlichkeit sind zurückgekehrt. Anstatt über die Krise und die Vergangenheit, haben wir wieder über die Zukunft des Programms gesprochen."
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Europa

So gut wie alle NGOs in Europa machen sich große Sorgen, berichten Florian Bayer und Eric Bonse  in der taz, denn die Open Society Foundation von George Soros, die viele von ihnen maßgeblich finanziert, hat angekündigt, dass sie sich aus Europa weitgehend zurückzieht. Das liegt daran, dass Gründer George Soros (93) an seinen Sohn Alexander (37) übergibt, der sich auf Amerika und die Verhinderung Trumps konzentrieren wolle. Ein Blick auf Ungarn zeigt die Konsequenzen: "Kaum eine NGO wird derzeit nicht von Open Society Foundations (OSF) gefördert - vom kleinen politischen Thinktank über die Menschenrechtsorganisation 'Hungarian Helsinki Committee' bis hin zu einigen der wenigen verbliebenen unabhängigen Medien. Knapp 9 Millionen Euro betrug die OSF-Fördersumme 2021 allein in Ungarn. Die Entscheidung der OSF sei nicht überraschend gekommen, es habe bereits solche Gerüchte gegeben, sagt Jozsef Martin, Direktor von 'Transparency International Hungary', der taz. Die aktuellen Projekte seiner Organisation seien nicht in Gefahr, die Kürzungen sollen aber bereits nächstes Jahr losgehen."

Mehrere Medien (hier etwa der Bayerische Rundfunk) zitieren eine Reaktion Josef Schusters, Präsident des Zentralrats der Juden, auf den Umgang Hubert Aiwangers mit der Enthüllung eines antisemitischen Flugblatts in seiner Schulzeit. Aiwanger lasse nach wie vor "Einsicht und die Bereitschaft zur ehrlichen Auseinandersetzung vermissen... Wenn er in seiner Jugend zum Umfeld eines Milieus gehörte, in dem diese Art von Rhetorik und Gesinnung üblich war, sollte ihm in seiner heutigen Position ein Wille zur Aufklärung besonders wichtig sein. Er ist es der Öffentlichkeit schuldig."

Roberto Saviano erzählt Jewgeni Prigoschins Leben in der Zeit als eine Art Treatment für eine Mafiaserie, wobei er annimmt, dass kein Fernsehredakteur eine derart wilde Geschichte durchwinken würde. Er erzählt, dass das Gefängnis Prigoschins Schule für das Leben war und dass er danach mit Hotdog-Buden zu Geld kam: "Unserer TV-Serie würden nun zwei Episoden über das Privatleben folgen, die psychologische Vertiefung, damit man auch das kommende Delirium verstehen kann: Der Junge, dem seine kriminellen Freunde vertrauten, die es ihm ermöglichten, sein Hotdog-Geschäft auszuweiten, war von Alkohol- und Drogensucht beherrscht, mehr aber noch von der Scham über ein diskretes Handicap, das ein Mädchen irgendwann der internationalen Presse verriet: der Schmach, nur einen winzigen Penis zu haben. Prigoschin hat panische Angst vor Geschlechtskrankheiten und lässt sich aus diesem Grund von seinen Zuhälter-Freunden Jungfrauen beschaffen, für viele Hunderttausend Rubel. Die Mädchen berichten später von Metallkugeln, die er sich in die Eichel implantieren ließ, damit man beim Geschlechtsakt mehr von ihm 'fühlen' könne."

Die Deutschen wollen nicht mehr nach Frankreich, konstatiert der Journalist Alexander Pschera in der NZZ. Selbstfindung findet jetzt weiter weg statt, Frankreich liegt bei den Reisezielen, "hinter der Türkei, Skandinavien und Luxemburg". Das ist ein großer Fehler, warnt Pschera. "Ist es wirklich so schlimm, wenn die Deutschen für Frankreichs Geist und Frankreichs Sinne nicht mehr empfänglich sind? Ja. Denn Frankophilie ist nicht nur eine Vorschule für den Umgang mit einer fremden Kultur, die den eigenen Blick erweitert. Das deutsch-französische Verhältnis stellt darüber hinaus seit Karl dem Großen (oder, wie die Franzosen sagen: Charlemagne) den zentralen Ankerpunkt europäischer Kultur und Politik dar, um den sich dann in konzentrischen Kreisen immer weitere Schichten angelagert haben."
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Politik

Die Welt reagierte erstaunlich desinteressiert auf Berichte, dass Saudi Arabien Flüchtlinge, die meist aus Äthiopien kommen, lieber totschießt als sie ins Land zu lassen (unser Resümee). Andrea Böhm hat für die Zeit etwas mehr herausgefunden und notiert auch die sehr leise Reaktion westlicher Regierungen, von Äthiopien ganz zu schweigen. Gewalt "richtet sich also gegen jene, die als rechtlos und entbehrlich gelten - und für die sich, so das mutmaßliche saudische Kalkül, niemand starkmachen wird. Nicht einmal die äthiopische Regierung, die in einer Stellungnahme zu dem HRW-Bericht vor 'unnötigen Spekulationen' warnte und die exzellenten Beziehungen zwischen den beiden Ländern betonte: Man werde die Vorwürfe gemeinsam mit saudischen Behörden untersuchen. Doch Äthiopien ist auf Saudi-Arabien angewiesen - als Auffangbecken für Arbeitskräfte und als Geldgeber. Viel Kritisches sollte man von einer gemeinsamen Untersuchung also nicht erwarten, zumal beide Länder gerade in die Gruppe der Brics-Staaten aufgenommen worden sind. Da will man sich nicht gegenseitig schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigen."

Schon wieder ein Putsch in Afrika, diesmal in Gabun. Aber hier wurde keine demokratische Regierung aus dem Amt gejagt, schreibt Dominic Johnson in der taz, der sich eher an den arabischen Frühling erinnert fühlt: "In Gabun wurde nun der amtierende Herrscher der mächtigsten und reichsten Familie des Landes, wenn nicht ganz Zentralafrikas, abgesetzt, nachdem diese Familie das Land seit nunmehr 56 Jahren regiert. Der Bongo-Clan ist eine zentrale Säule des korrupten neokolonialen französisch-afrikanischen Interessengeflechts, gegen das unzufriedene Jugendliche quer durch das ehemalige Kolonialreich auf die Straße gehen. Sein Sturz ist ein Putsch nicht bloß gegen einen Präsidenten, sondern gegen ein System." Hier der taz-Bericht zum Putsch und ein Hintergrund zum Bongo-Clan.
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