9punkt - Die Debattenrundschau

Die Mykologische Gesellschaft schlug Alarm

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.09.2023. Am 16. September jährt sich der Todestag Dschina Mahsa Aminis. Und die taz verrät, woran die Mullahs am wenigsten glaubten: an den Märtyrerkult. Die einfachsten Akte werden im Iran zu Freiheitsbeweisen, führt die Autorin Fariba Vafi im Tagesspiegel aus: Führt jemand seinen Hund spazieren, so fordert er Respekt für sein Haustier. Wo die Angst wächst, da wächst, äh, die Esoterik auch, schreibt Tillmann Bendikowski in der SZ. Wie populistisch ist die Entgegensetzung von "Volk" und "Eliten" fragen FAZ und Ruhrbarone.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.09.2023 finden Sie hier

Politik

Am 16. September jährt sich der Todestag Dschina Mahsa Aminis, die im Iran von der Polizei zu Tode geprügelt wurde, weil sie das Kopftuch nicht trug. Die Mullahs haben große Angst vor dem Jahrestag und nehmen vor allem Journalistinnen fest, berichtet Teseo La Marca in der taz, und zwar aus einem Grund, der zutiefst in der iranischen Kultur verankert ist: "Dass über die Opfer der staatlichen Unterdrückung etwas bekannt wird, will das Regime um jeden Preis verhindern. Getötete Demonstranten werden in Iran wie Nationalhelden verehrt, an ihren Geburtstagen wird gefeiert, an ihren Todestagen getrauert, den Familienangehörigen folgen in den sozialen Medien Hunderttausende Iranerinnen und Iraner. Das hat mit dem Märtyrerkult zu tun, der bei schiitischen Muslimen und mittlerweile auch bei säkularen Iranerinnen und Iranern eine große Rolle einnimmt. Menschen, die für ein gerechtes Ideal sterben, werden zu Vorbildern. Ihr Tod schreckt manche ab, er motiviert aber mindestens genauso viele zum Nachahmen. Das Mobilisierungspotenzial der Angehörigen ist entsprechend riesig."

Die taz sammelt auch Stimmen von Iranerinnen zum Jahrestag, etwa die von Mona, einer dreißigjährigen Lehrerin: "Wenn wir ohne den Zwangshidschab in unseren Autos sitzen, konfisziert die Regierung der Islamischen Republik die Autos, annulliert unsere Führerscheine und verbietet uns die Ausreise aus dem Land. Dennoch ist die Stadt voller Frauen, die ohne Zwangshidschab in ihren Autos fahren. Frauen, die keinen Hidschab tragen, werden entlassen, und öffentliche Orte, die Frauen ohne Hidschab Eintritt gewähren, werden geschlossen und versiegelt. Die Sittenpolizei hat ihre Aktivitäten wieder aufgenommen - und trotzdem verlassen Frauen ihr Zuhause jeden Tag ohne Hidschab."

Seitdem die größte Protestwelle im Iran abgeflaut ist, verlagert sich der Widerstand in die kleinsten alltäglichen Handlungen, schreibt die iranische Schriftstellerin Fariba Vafi im Tagesspiegel. Jede in der Öffentlichkeit ausgeführte Handlung wird zum Politikum: "Reißt eine Frau sich wutentbrannt ihr Tuch vom Kopf und trampelt hasserfüllt darauf herum, so vermittelt sie der ganzen Welt eine unverhohlene Botschaft. Springt eine Frau plötzlich mitten in eine kleine Ansammlung von Menschen und tanzt, so fordert sie ihr Recht zu tanzen ein. Singt eine Frau auf einem Wochenmarkt plötzlich aus voller Kehle, so pocht sie auf ihr Recht, zu singen. Führt jemand seinen Hund spazieren, so fordert er Respekt für sein Haustier. Eine Frau, die ohne Kopftuch aus dem Haus geht, übt sich im Mutigsein. Sie übt ihre Freiheit ein. Sie stärkt die Solidarität."

Es sind spürbar historische Tage in Israel. Das Oberste Gericht muss sich mit sich selbst befassen, soll Gesetze prüfen, die seine eigenen Kompetenzen einschränken - und alle wissen, dass die Zukunft Israels davon abhängt. Die atemlose Erregung ist mit Händen zu greifen, erzählt Steffi Hentschke, die für Zeit online das Verfahren begleitet: "Alle Plätze im Saal sind besetzt. Journalistinnen, Aktivisten, Wissenschaftlerinnen, dazwischen der deutsche Botschafter Steffen Seibert und einer seiner Mitarbeiter. Und überall im Saal Kameras, die Anhörung wird live übertragen. Die israelischen TV-Sender schalten auf Sonderprogramm um, im Gericht herrscht ein Gefühl wie beim Public Viewing: Es hat einen weiteren Saal geöffnet, in dem Interessierte das Event über einen Fernseher verfolgen können. Ein Vater hat seine Kinder im Grundschulalter dabei, eine Frau mit Sonnenhut macht Fotos, bis eine Gerichtsdienerin sie ermahnt."

Pierrre Haski erinnert in seiner Radio-France-Kolumne an eine kaum wahrgenommene Koinzidenz: Vor genau dreißig Jahren schien mit dem Osloer Abkommen Frieden möglich zu sein: "Als Korrespondent in Jerusalem zu dieser Zeit kann ich bezeugen, dass eine echte Mehrheit in beiden Völkern glaubte, dass der Frieden gekommen war." Und heute? "Inmitten des erbitterten politischen Kampfes in Israel fragt sich ein Teil der Israelis, wie sie den Weg zu einem unauffindbaren Frieden zurückfinden können, während der andere Teil von Apokalypse und Annexion träumt. Gibt es Raum für einen neu erfundenen Prozess und Akteure für ein solches Szenario? Es bleibt die Erinnerung an jenen 13. September 1993, der eines bewiesen hat: Es gibt keine Fatalität der Konfrontation."

Mehrere Tausend Menschen sind beim Erdbeben in Marokko umgekommen. Vielerorts warten die Menschen auf Hilfe. König Mohammed VI. hat sich bisher nicht blicken lassen. "Senden Sie Ihre Spenden an einen der reichsten Könige der Welt", kommentiert Charlie Hebdo.

Archiv: Politik

Gesellschaft

"Krisenzeiten sind magische Zeiten", erklärt der Sachbuchautor Tillmann Bendikowski in der SZ und meint damit, dass vor allem in Phasen kollektiver Angst der Glaube an übernatürliche Phänomene und der Hang zur Esoterik zunimmt. Historisch lässt sich das gut beobachten, zeigt Bendikowski. In den letzten Jahrzehnten galt Esoterik eher "als so etwas wie Folklore, ein fröhlicher spiritueller Zierrat in einer kalten Welt", die Gefahren, die von diesen Denkmustern ausgehen, wurden lange unterschätzt: "Dabei ist der Ausspruch 'Nichts ist, wie es scheint' längst zu einem politisch gefährlichen Hebel geworden. Das ist nicht nur ein Angriff auf die Realität. Damit gehen zugleich die Ablehnung moderner Wissenschaftlichkeit (die Esoterik fühlte sich von jeher der Religion wie der Wissenschaft überlegen) sowie ein tief sitzender Antiintellektualismus einher (der 'verkopfte' Mensch war schon immer ein Feindbild des 'fühlenden' esoterischen Milieus). Weil der magisch denkende Mensch in einer eigenen Welt lebt, besitzt er eine prinzipielle Offenheit für Verschwörungsfantasien. Zu diesem Ergebnis kam auch die Leipziger Autoritarismus-Studie aus dem Jahr 2020."

FAZ-Redakteur Claudius Seidl ist die die populistische Entgegensetzung von "Volk" und "Eliten" höchst verdächtig, zumal diejenigen, die sie betreiben, selbst meist zu den Eliten gehörten: "Wenn Politiker und Meinungsproduzenten sich aber nicht mehr auf die Schlüssigkeit ihrer Argumente, die Legitimität ihrer Interessen, die Plausibilität ihrer Annahmen berufen; wenn sie stattdessen verkünden, aus ihnen oder durch sie hindurch spreche das Volk: Dann ist Widerspruch nicht möglich. Dann ist schon die Rhetorik autoritär."


Buch im Gespräch

Bestellen Sie bei eichendorff21.de
Nun wird der "Woke-grüne Komplex" nicht nur von rechts in Frage gestellt. Gerade hat Bernd Stegemann ein Buch gegen Identitätspolitik veröffentlicht und findet laut Stefan Laurin von den Ruhrbaronen durchaus triftige Argumente. Die Kämpfe der Identitätspolitik handelten vor allem von Macht in den Institutionen: "Wer in dieser Atmosphäre des Irrsinns gegen die sich ständig ändernden und willkürlichen Regeln verstößt, riskiert öffentlich bloßgestellt und angegriffen zu werden. Vor allem in Bereichen wie Medien, Wissenschaft und Kultur ist auch der Job gefährdet. Andere, klassische linke, Themen wie soziale Ungerechtigkeit kippen dabei schnell hinten rüber. Klassenzugehörigkeit wird so zu Klassismus, einer Frage der Identität und nicht der sozialen und wirtschaftlichen Stellung in der Gesellschaft."
Archiv: Gesellschaft

Internet

Auf Amazon kann man mittlerweile eine Menge Bücher finden, die von KI verfasst wurden, weiß Adrian Lobe in der NZZ. Professionell gestaltet sind sie, der Inhalt ist allerdings oft höchst fragwürdig, so Lobe. Die Bücher erscheinen oft unter dem Namen von Ghostwritern, deren Profile kompletter Fake sind - mittlerweile bedienen sich die Fälscher aber auch der Namen berühmter Autoren: "Amazon hat einige Fake-Titel entfernt. Doch gegen die Zweckentfremdung ihrer Werke und Namen haben Autoren kaum eine Handhabe. Die amerikanische Autorengewerkschaft Authors Guild und die Buchhändlervereinigung American Booksellers Association haben deshalb die amerikanische Verbraucherschutzbehörde FTC aufgefordert, die Praktiken zu untersuchen. Die Mykologische Gesellschaft in New York schlug Alarm, weil Pseudoratgeber falsche und womöglich tödliche Tipps zum Pilzesammeln geben."
Archiv: Internet
Stichwörter: Künstliche Intelligenz

Europa

Der Schriftsteller Roberto Saviano kann nicht einfach aufhören, sich mit der Mafia zu beschäftigen, wie er im NZZ-Gespräch mit Luzi Bernet sagt. Und das, obwohl er massiv bedroht wird. Giorgia Melonis Anti-Mafia-Politik ist nur heiße Luft, meint er, die Pseudo-Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen spielen diesem in die Hände: "Faktisch geschieht nichts. Sie unternimmt nichts gegen die Mechanismen der Geldwäscherei. Dafür lanciert sie, wie alle Vorgängerregierungen auch, ein paar Polizeioperationen, die nichts bringen... Die Beziehungen zwischen Politik und Mafia sind heute etwas komplexer geworden. Es ist die Mafia selbst, die sich wünscht, dass sich die Regierung ein Anti-Mafia-Kleid überzieht. Die Mafia möchte niemals einen Ansprechpartner in der Regierung, der öffentlich sagt, dass die Mafia existiere und sie in Ordnung sei. Nein, sie will, dass man von ihr sagt, sie existiere nicht. Deshalb passiert auch nichts. Der Status quo wird bewahrt. Darüber hinaus ist Meloni schlau: In Brüssel gibt sie sich moderat-liberalkonservativ, zu Hause spricht sie eine populistisch-reaktionäre Sprache. Ich halte sie für eine beunruhigende Frau."

 

Archiv: Europa