9punkt - Die Debattenrundschau

Potenzial zu einer globalen Eskalation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2023. In der Zeit verzweifelt die Autorin Laura Cwiertnia angesichts der Ereignisse in Bergkarabach: Die Erinnerung an die dort lebenden Armenier wird systematisch ausgelöscht - so wie schon einmal in der Türkei. In der FAZ blickt der russische Soziologe Lew Gudkow deprimiert auf den Zustand der Russen im allgemeinen und der Opposition im besonderen: Ohne eine Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit werde sich nie etwas ändern, bescheinigt er beiden. In der taz ermuntert der Sozialwissenschaftler Tim Engartner zu mehr Investitionen in die Bahn: Dann klappt das Bahnfahren so gut wie in der Schweiz!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.10.2023 finden Sie hier

Europa

In der Zeit verzweifelt die Autorin Laura Cwiertnia beim Blick auf die Ereignisse in Bergkarabach: Die Erinnerung an die dort lebenden Armenier wird in Windeseile systematisch ausgelöscht, schreibt sie. Es ist nicht das erste Mal: "Meine armenische Familie stammt nicht aus Bergkarabach, ja nicht mal aus Armenien. Sie stammt aus Istanbul. Aber wer weiß heute eigentlich noch, dass auf dem Gebiet der heutigen Türkei mehrere Tausend Jahre lang ein riesiges armenisches Siedlungsgebiet lag? Dass es armenische Städte gab, armenische Schulen, armenische Lyriker und Komponisten, armenische Feministinnen? Mit dem Völkermord ist nicht nur die Mehrheit der Westarmenier, wie sie genannt werden, vernichtet oder vertrieben worden. Es verschwanden auch die armenischen Namen und die armenische Sprache aus der türkischen Öffentlichkeit. Sogar die Erinnerung an sie wurde ausgelöscht. ...  So ähnlich wird es wohl den Armeniern aus Bergkarabach gehen. In einigen Jahrzehnten wird sich kaum jemand erinnern, dass ihre Familien dort Tausende Jahre lang gelebt haben. Dass die Region als die Wiege der armenischen Kultur gilt, dass dort die erste armenische Schule gegründet wurde."

Die slowakische Autorin Monika Kompanikowa analysiert im Guardian die Gründe für den Wahlerfolg des Linkspopulisten Robert Fico in der Slowakei, und es stellt sich mal wieder raus, dass ein Rezept des Populismus - von den Muslimbrüdern, über Kaczynski bis eben hin zu Fico - Sozialpolitik ist, und natürlich Ausländerfeindlichkeit: "Ficos 'Law-and-Order'-Rhetorik...  sowie die Versprechen höherer Renten und eines Stopps des Zustroms imaginärer Migranten kamen zweifellos bei vielen älteren Wählern und Menschen, die mit den Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben, gut an. Selbst die zentristischen und pro-europäischen Parteien sprangen auf den Anti-Migranten-Zug auf. Die Hlas-Partei, die von einem ehemaligen Fico-Verbündeten angeführt wird und jetzt den Ton angibt, stellte Plakate auf, auf denen zu lesen war: 'Stoppt die illegale Migration'. Wir brauchen mehr Migranten, um freie Stellen in der Industrie und im Gesundheitswesen zu besetzen, aber im Moment sind wir hauptsächlich ein Transitland für Migranten auf dem Weg nach Deutschland."

Während in Deutschland über die Sendung von Taurus-Marschflugkörpern gestritten wird (die jetzt wohl doch nicht geschickt werden), bereitet man sich in der Ukraine auf den Winter vor, erzählt Juri Konkewitsch in der taz. "Bereits im September stand der Energiesektor unter starkem Beschuss: Heizkraftwerke, Stromnetze und Stromübertragungsstellen wurden gezielt angegriffen, iranische Kamikaze-Drohnen eingesetzt. ... Vor dem russischen Angriffskrieg dauerte die Reparatursaison für die Einrichtungen der Energieversorgung von Mai bis September. Nun, so schätzen Experten, würden alle nötigen Reparaturen erst im Jahr 2029 abgeschlossen."

Im Interview mit der Zeit warnt Katja Kallas, Premierministerin von Estland, die Europäer, in ihrer Unterstützung für die Ukraine zu ermüden: "Mein Plädoyer lautet nur: Bitte gebt alles, was ihr geben könnt! Denn es ist in unser aller Interesse, die Ukraine so auszustatten, dass sie den Krieg so schnell wie möglich beenden kann. Mit jedem Zögern und jeder Verspätung steigt nur der Preis, den die Ukraine für einen Sieg zahlen muss. Wie gesagt: Deutschland entscheidet selbst. Aber wenn ich das zu entscheiden hätte, würde ich die Taurus-Marschflugkörper liefern."

Immer noch unterstützen 70 bis 75 Prozent aller Russen die Kampfhandlungen in der Ukraine. Im Interview mit der FAZ hat der russische Soziologe Lew Gudkow wenig Hoffnung, dass sich daran etwas ändert. Zu eingefahren sind die Muster der "negativen Konsolidierung" im Laufe der russischen Geschichte: "Man überträgt die eigene Unzulänglichkeit auf eine Person, die moralisches Betragen einfordert. ... Besonders bedrückt mich die intellektuelle Verfassung unserer Opposition. Diese Unfähigkeit zu verstehen, worauf die Unterstützung für das Regime beruht. Das zu verstehen, was Hannah Arendt als 'Banalität des Bösen' beschrieben hat: eines Bösen, das sich reproduziert, weil man sich nicht aus dem Bann der Vergangenheit befreit hat. Diese Gespräche darüber, man habe es mit einem Besatzungsregime zu tun, das zusammenbreche, wenn Putin stirbt oder sonst etwas geschieht, eine militärische Niederlage, eine wirtschaftliche Krise, dann wende sich schon alles zum Besseren, zur Demokratie, diese epigonenhaften Reden über 'elektoralen Autoritarismus' deprimieren mich fast so sehr wie der massenhafte Amoralismus. Ohne eine Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit wird sich die Situation nicht ändern."
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Politik

Im Interview mit der FAZ erklärt der deutsch-senegalesische Autor, Schauspieler und ehemalige CDU-Abgeordnete Charles M. Huber, der aus einer der ersten Familien Senegals stammt und dort heute Politiker berät, was im Verhältnis Europas zu Afrika schief läuft: "Wenn dieser rohstoffreiche Kontinent noch nicht einmal von seinen Rohstoffen leben kann, sondern Budgethilfe braucht und damit in einem Abhängigkeitsverhältnis bleibt, dann läuft etwas falsch", meint er. Und von gut gemeinten Gesetzen wie dem Lieferkettengesetz oder dem Verbot der Kinderarbeit hält er auch nichts: "Durch ein Gesetz der USA aus dem Jahre 2010, das die EU als Blaupause gegen den Handel mit Konfliktmineralien noch verschärft hat, haben circa 700.000 Menschen ihre Arbeit verloren. Die Standards dieser Gesetze können zum Beispiel von den Betreibern kleiner Minen gar nicht erfüllt werden. Jugendliche verlieren ihre Arbeit und schließen sich kriminellen und terroristischen Gruppierungen an, in Afrika hauptsächlich, weil man auch so seinen Lebensunterhalt sichern kann, weniger aus Gründen religiöser Überzeugung. Was nützen in Afrika die sogenannten ILO-Kernarbeitsnormen, wenn es keine Arbeit gibt?"
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Stichwörter: Senegal

Geschichte

In der taz erinnert der Antisemitismusforscher Stephan Grigat an den Jom-Kippur-Krieg vor fünfzig Jahren, als mehrere arabische Armeen Israel gleichzeitig überfielen. Israel gewann, aber nur mit Hilfe massiver amerikanischer Waffenlieferungen (die Gegenseite war von den Sowjets ausgerüstet worden). "Den Weltmächten hatte der Krieg vor Augen geführt, dass der Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn das Potenzial zu einer globalen Eskalation besaß. Die Sowjetunion hatte während des Krieges sieben Luftlande-Divisionen in Einsatzbereitschaft versetzt, woraufhin die USA für ihre Nuklearwaffeneinheiten die Alarmbereitschaft erklärten. Als Reaktion darauf gibt es seither ein Interesse der Großmächte, eine Annäherung zwischen Israel und Ägypten zu unterstützen.... Israel räumte - schon damals gegen massiven Widerstand der nationalreligiösen Siedlerbewegung - den 1967 eroberten Sinai. Innenpolitisch führte der Jom-Kippur-Krieg zum Rücktritt der israelischen Premierministerin Golda Meir" und bei den anschließenden Wahlen zum Sieg des des rechtskonservativen Likud unter Menachem Begin. "Insofern markiert der Krieg von 1973 den Anfang vom Ende der Vorherrschaft der zionistischen Linken in Israel, welche das Land in den ersten drei Jahrzehnten seiner Existenz geprägt hatte.
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Gesellschaft

Alle sollen Bahn fahren, aber die Züge fahren oft mit großer Verspätung oder fallen gleich ganz aus. So wird das nichts mit der Verkehrswende, es sei denn, die DB investiert endlich großzügig in ihre Infrastruktur, erklärt der Sozialwissenschaftler Tim Engartner in der taz. Vorbild ist für ihn die Schweizer Bahn SBB: "Während hierzulande gerade im Osten der Republik immer mehr Strecken stillgelegt wurden und werden, beherzigt die SBB mit dem Ausbau des Regionalverkehrs ein ehernes Gesetz der Verkehrswissenschaft: Angebot schafft Nachfrage. An Knotenpunkten wie Basel, Bern, Genf oder Zürich können Reisende im Stunden- oder Halbstundentakt umsteigen. Und obwohl das Schweizer Bahnsystem die höchste Auslastung in ganz Europa aufweist, erreichen 92,5 Prozent der Züge mit einer Abweichung von weniger als drei Minuten ihr Ziel. Dies ist das Ergebnis einer konsequenten Geschäftspolitik: Die Triebfahrzeuge werden in kurzen Intervallen gewartet, das Gleisnetz wird kontinuierlich ausgebessert, und mehr als die Hälfte der Trassenkilometer verlaufen mehrgleisig, sodass es auch in Ballungszentren kaum Nadelöhre gibt." Umsonst zu haben ist das nicht: Die Schweizer investieren auch deutlich mehr in ihre Bahn als die Deutschen, erinnert Engartner.
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Stichwörter: Bahn, Deutsche Bahn

Kulturpolitik

In Deutschland hat der Präsident der "Beratenden Kommission NS-Raubgut" Hans-Jürgen Papier mehr Rechte für seine Kommission eingefordert, die nach zwanzig Jahren gerade mal 23 Werke aus jüdischem Besitz zurück an ihre Besitzer bringen konnte (unsere Resümees). Aus den Fehlern der deutschen Kommission muss die Schweiz lernen, fordert der Historiker Julien Reitzenstein in der NZZ. Ein Kompetenzzentrum, vom Bund und den Kantonen finanziert, sei "wünschenswert". "Dort kann nach klar definierten Kriterien Aus- und Weiterbildung nebst Evaluation stattfinden. Sollte die Schweiz einer deutschen Diskussion zur Herauslösung der Provenienzforschung aus den Museen folgen, würde in einer weiteren Abteilung die eigenständige Untersuchung der relevanten Museumsbestände und Klärung der Provenienzen stattfinden. Bei Raubkunstverdacht würde dann fallbezogen durch spezialisiert zusammengestellte Expertenteams ermittelt. Eine solche neutrale Forschungsstelle mit Auskunftsrecht gegenüber den Museen würde auch die Kosten von Auseinandersetzungen um mögliche Raubkunst für die Beraubten senken."

Die stinkreiche Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung ist im letzten Jahr ins Gerede gekommen, weil sie ihren Chef Marcel Lepper feuerte, der wiederum ihre sehr sehr sehr rechte Geschichte aufarbeiten wollte (unsere Resümees). Nun gibt es eine neue Chefin, meldet Jörg Häntzschel in der SZ, die Juristin Isabel Pfeiffer-Poensgen, ehemals Ministerin für Kultur und Wissenschaft in NRW.
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Internet

Die Plattform Bluesky könnte zum Twitter-Ersatz werden, verhält sich im Moment aber immer noch wie ein elitärer Club (unser Resümee). Andrian Kreye wirft in der SZ einen genaueren Blick auf den Bluesky-Chef. Der heißt Jack Dorsey, seines Zeichens ehemaliger Chef von Twitter und vertritt nicht die gleichen Ideen wie Elon Musk, nutzt nicht seine Plattform zur Verbreitung seiner kruden Ideen. Oder? "Es wäre natürlich ein hübsches Happy End, wenn man da nun einfach rüber- und besten Gewissens auf Bluesky weitermachen könnte." Dorsey investiert allerdings, ähnlich wie Musk, in eine Blockchain-Technologie, die eine dezentrale Währung, unabhängig von Banken zum Ziel hat. "Das ist im Kern eine klassenkämpferische, antikapitalistische Grundhaltung, wären ihre Protagonisten nicht so beinharte Unternehmer (...). Die haben dann weniger das Allgemeinwohl im Sinne." Außerdem unterstützt Dorsey offen den Impfgegner und demokratischen Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy Jr., ist also doch nur Elon Musk in still, glaubt Kreye.
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Stichwörter: Musk, Elon