9punkt - Die Debattenrundschau

Weder Autorität noch Heiligkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2023. Die Deutschen sind die Gewinner von gestern und darum die Verlierer von heute, sagt Ivan Krastev in einem Gespräch mit Robert Habeck im Spiegel. Das in Dänemark geplante Gesetz gegen Koran-Verbrennungen geht über das vor wenigen Jahren abgeschaffte Blasphemiegesetz sogar noch hinaus, fürchtet die NZZ. Die Ruhrbarone untersuchen das segensreiche Wirken der Mercator-Stiftung. In Ravensbrück waren nicht nur Frauen eingesperrt, sondern auch Männer, darunter viele Homosexuelle. Eine Ausstellung erinnert daran - die taz rät zum Besuch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.10.2023 finden Sie hier

Europa

Der Spiegel inszeniert ein Streitgespräch zwischen dem Politologen Ivan Krastev und Robert Habeck, aber die beiden ergänzen sich eher. Krastev sieht Deutschland in einer Identitätskrise: Der Gewinner von gestern sei der Verlierer von heute: "Die letzten dreißig Jahre waren so gut, dass die Menschen sich wünschen, dass das Gestern nicht enden soll. Das ist verständlich. Doch die Welt hat sich plötzlich radikal verändert: Durch einen Krieg, obwohl man doch zuvor geglaubt hat, dass so etwas mitten in Europa niemals wieder passieren würde. Und dann ist das russische Gas auf einmal weg, mit dem man doch eigentlich die grüne Transformation der Wirtschaft gestalten wollte. In den Jahren des Friedens und Wohlstands hat sich eine Mentalität ausgebildet, die man vielleicht so auf den Punkt bringen könnte: Verändert ruhig die Welt, aber nicht meinen Lebensstil." Krastev gibt den Grünen nicht die Schuld am Aufstieg der Rechtsextremen, denn die seien ein internationales Phänomen, da stimmt Habeck natürlich zu: "Die Polarisierung durch die Rechtsautoritären ist eine aggressive Reaktion auf die Schattenseiten der Globalisierung, auf die vielen Krisen und eine Leistungsgesellschaft, die den Misserfolg individualisiert hat."

Bei dem slowakischen Wahlsieger Robert Fico "ist die Einordnung als Linkspopulist für mich mittlerweile fraglich, weil er in seinem Wahlkampf massiv rechte Positionen eingenommen hat", sagt der Osteuropahistoriker Philipp Ther im Gespräch mit der Berliner Zeitung, in dem er auch skizziert, wie Fico aus wahlkampftaktischen Gründen die Unterstützung für die Ukraine in Frage stellte: "Das ist verachtenswert. Aber es könnte Putin wirklich den Sieg bringen. Wenn dieser Krieg schlecht ausgeht, auch für die EU, dann wird man sich irgendwann fragen, wann das angefangen hat, nämlich genau in diesem Augenblick, als diverse westliche Populisten - und die Slowakei zählt zum Westen - angefangen haben, auf der Ukraine herumzuhacken. Natürlich ist das Argument, dass direkte Waffenhilfe Kosten verursacht, nicht von der Hand zu weisen und gerade kleinere Länder wie die Slowakei, Tschechien und die baltischen Staaten leisten sehr viel. Proportional leisten sie mehr als größere Länder wie Deutschland. Und sie wissen auch, warum: weil sie berechtigte Angst haben, als Nächstes an der Reihe zu sein. Aber die Ukrainer und der ukrainische Staat können nichts für die gestiegene Inflation und andere Nebeneffekte des Krieges, den notabene Putin angefangen hat. Da findet jetzt eine Schuldumkehr statt."

Das in Dänemark geplante Gesetz gegen Koran-Verbrennungen (Unsere Resümees) geht im Grunde über das vor wenigen Jahren abgeschaffte Blasphemiegesetz hinaus, schreibt Kacem El Ghazzali, der in der NZZ nicht nur die Meinungs- und Kunstfreiheit bedroht sieht: "Bei genauerem Hinsehen ist das Verbrennen des Korans ... nicht in jedem Fall mit dem Verbrennen von Büchern durch die Kirche oder die Nazis zu vergleichen. Sicher, den Rechtsextremen geht es auch heute darum, Muslime zu provozieren und zu demütigen. Dissidenten, die aus islamischen Ländern geflohen sind, geht es um etwas anderes. Ihnen geht es nicht um das Buch als solches, sondern um seine Heiligkeit und die politische Macht, die es repräsentiert. Dieser Akt kommt dem Verbrennen eines politischen Manifests näher. Wer den Koran verbrennt, drückt damit aus, dass dieses Buch für ihn weder Autorität noch Heiligkeit besitzt. Er will den Koran weder zensieren noch verbieten, sondern einen Protest gegen den Heiligkeitsanspruch deklarieren."

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"Was geht in den Köpfen und Herzen der Frauen vor, die den Krieg unterstützen?", fragt die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa, deren "Tagebuch vom Ende der Welt" gerade erschienen ist, in der Welt. Sie porträtiert drei Russinnen, die plötzlich zu glühenden Kriegsunterstützerinnen wurden. Darunter Valentina, die Schülern ein Leben lang russische Literatur nahebrachte, dann - alt, krank und allein - nur noch russisches Propaganda-Fernsehen schauen konnte: "Im Grunde scheint es nur auf den ersten Blick so, als hätte Valentina von einem Weltbild zum direkten Gegenteil gewechselt. Ja, die klassische russische Literatur steht für humanistische Werte, ist dabei aber durchdrungen von (kolonialem) Großmachtpathos. Fast jeder Autor, der in der Schule gelesen wird, sagt etwas wie: 'Russland geht einen besonderen Weg, und es ist unsere Mission, den anderen Völkern zu zeigen, wie man richtig lebt.' Die gleiche Sprache benutzt auch die heutige Propaganda. Jemand, der von der klassischen russischen Literatur geprägt ist, kann sehr leicht in die Falle geraten zu denken: 'Wir wissen, was richtig ist'."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Buch in der Debatte

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Die Gesellschaft ist nicht polarisiert, viel mehr haben sich die Ränder radikalisiert, sagt der Soziologe Steffen Mau, dessen zusammen mit Thomas Laux und Linus Westheuser verfasstes Buch "Triggerpunkte" kommende Woche erscheint, im SZ-Gespräch mit Jens-Christian Rabe. Schuld daran sei die zunehmende "Affektpolitik", erklärt er: "Die gemäßigteren politischen Akteure haben dabei immer weniger Möglichkeiten, den öffentlichen Kommunikationsprozess selbst zu steuern. Sie sind getriebener. (...) Die Mitte ist akustisch abgedimmt, und die Ränder, vor allem der rechte, sind lauter geworden. Eine beunruhigende Erkenntnis ist in diesem Zusammenhang übrigens - aus den USA gibt es dazu inzwischen gute Forschung -, dass die gefühlte Polarisierung eine Antriebskraft für echte Polarisierung sein kann. Wenn wir alle glauben, dass die Welt in zwei Lager gespalten ist, dann verhalten wir uns politisch auch so - und es wird real. Soll heißen: Bei jedem Sachproblem geht es nicht mehr um die Sache. Jeder will nur noch wissen, auf welcher Seite die eigenen Leute sind und wo die Gegner."

Stefan Laurin geht bei den Ruhrbaronen dem segensreichen, aber nicht sehr transparenten Wirken der Mercator-Stiftung nach, die sich vor allem für die Energiewende einsetzt, aber auch journalistische Initiativen unterstützt. Das Geld der politisch sehr einflussreichen Stiftung kommt unter anderem aus der Meridian-Stiftung, die wiederum von der Metro-Gründerfamilie ins Leben gerufen wurde. "Doch die Frage, ob auch Mittel aus den Gewinnen der Metro in die Projekte fließen, beantworten auf Anfrage weder die Mercator- noch die Meridian Stiftung. Gegenüber dem Lobbyregister des Bundestages verweigerte sie Angaben zu diesem Thema. Heikel ist es trotzdem, denn kein anderer deutscher Konzern ist bis heute geschäftlich in Russland so aktiv wie die Metro. Auf Anfrage teilte der Handelskonzern mit, auch mehr als ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine 93 Märkte in Russland zu betreiben und bestätigte, dort zehn Prozent seines Umsatzes von weltweit über 29 Milliarden Euro und 13 bis 14 Prozent des operativen Gewinns vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen zu erzielen. Ob auch Geld aus Putins Verbrecherreich die Stiftungen mitfinanziert, ist also offen."
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Politik

Für ganz ausgeschlossen hält der China-Experte Junhua Zhang einen Angriff Chinas auf Taiwan im Tagesspiegel nicht: "Chinas Volksbefreiungsarmee bemüht sich, Erkenntnisse aus dem Ukraine-Krieg zu gewinnen und die Taktiken und Strategien beider Seiten zu studieren, wie zum Beispiel die militärische Rolle von Elon Musks Starlink im Krieg. Zudem wurden chinesische Offiziere an die russische Militärakademie geschickt, um Moskaus Invasionsstrategie zu studieren. (…) Ob Xi Jinping zu härteren Methoden greifen wird, hängt vom Ausgang der Wahlen in Taiwan im Januar 2024 ab und ob die amtierende, chinakritische Demokratische Fortschrittspartei DPP weiterregiert. Schon jetzt ist Pekings Anwendung harter Methoden offensichtlich. Fast täglich dringen chinesische Militärjets in Taiwans Luftverteidigungszoneein, um Aufklärungsarbeit über die militärische Lage des Inselstaates zu leisten."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Claudia Roth verfolgt unter dem Titel "Green Culture" das Ziel, "Kultur und Nachhhaltigkeit zusammenzudenken, auch Konferenzen zum Thema haben bereits stattgefunden. In der Welt (und in seinem Blog) ärgert sich Thomas Schmid: "Warum, fragt man sich, 'Green Culture'? Das wirkt schon deswegen deplatziert, weil es sich eigentlich nicht gehört, dass eine Partei mit ihrem Namen gleich einen ganzen Kulturzweig für sich zu vereinnahmen versucht." Und: "Was bringt 'Green Culture' für die Kultur? Schnell merkt man, dass es nicht nur um Nachhaltigkeit, sondern mindestens ebenso um Politik, um Einflussnahme geht. Die Kultur soll vor den Wagen der ökologischen Transformation gespannt werden. Die Frage, was dieser Staatsinterventionismus der Kultur nützen könne, wird nicht einmal gestellt. (...) Es wäre ein Unding, die Kultur in den Dienst einer wie auch immer berechtigten politischen Vision zu stellen. Kultur reimt sich nicht auf gesellschaftliche Verantwortung."

Außerdem: Hierzulande war es nicht mehr als eine Meldung, in der französischen Presse und Politik war indes das Entsetzen groß: Das Goethe-Institut will neun Standorte schließen, darunter Bordeaux und Lille, schreibt Nils Minkmar, der das in der SZ ebenfalls für eine "kulturpolitische Katastrophe" hält.
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Geschichte

Wenig bekannt ist, dass auch Männer im Konzentrationslager Ravensbrück eingesperrt waren, das eigentlich Frauen vorbehalten war - Hunderte homosexuelle Männer, die eingesetzt wurden, um Uniformen zu nähen. Herausgefunden hat das der Architekt Helmuth Hanle, auf dessen Initiative hin nun eine Ausstellung dieser Männer gedenkt, berichtet Jan Feddersen in der taz. Der Künstler Piotr Nathan  und seine Studenten arbeiten exemplarisch Einzelschicksale auf, ein Beispiel: "Das Schicksal von Gustav Fritz Herzberg, geboren 1907 in Breitenstein, Harz, bekommt ein Bild, das mehr ist als eine Fotografie, festgenommen von der Kripo Berlin allein wegen des Verdachts, schwul (wie man heute sagen würde) zu sein. Als Mittdreißiger starb er nach Arbeit in einem Steinbruch. Seine Familie sprach nicht über ihn, besser: weshalb er im Nazivolksheim nicht genehm war. Erst seine Großnichte, die unerschrockene Xenia Trost, holte ihn aus der Sphäre des Beschweigens in selbstbewusst anmutende Sprechfähigkeit." Die Ausstellung läuft nur noch bis 13. Oktober!
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Ravensbrück