9punkt - Die Debattenrundschau

Der Terror setzt das Denken aus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.10.2023. Warum schweigen palästinensische Intellektuelle zum Terror der Hamas? Es liegt an den deutschen Rederegeln, glaubt die Zeit, die jede Sympathie für Palästinenser verbiete. Wenn es um Demokratie im Nahen Osten geht, setzt in der FR Navid Kermani lieber auf die iranische Öffentlichkeit. Frieden beginnt mit der Ausschaltung der Hamas, antwortet Bernard-Henri Lévy all jenen, die um die Palästinenser fürchten. Im Guardian beklagt die bosnische Autorin Lana Bastašić eine einseitige Israelunterstützung der Deutschen. In Frankreich stehen die Antisemiten heute links, staunt die FAZ. Auch die Hamas schöpft gern aus dem Reservoir der Nazi-Ideen, meint Paul Berman in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.10.2023 finden Sie hier

Politik

Journalisten beim Betrachten von Hamas-Videos. Wir entnehmen das Bild diesem Twitter-Post.


Die Leugnung des Massakers begann schon einige Tage danach. In diesen Tagen werden eher Israel genozidale Absichten unterstellt als den Tätern der Hamas. Die israelische Armee hat sich darum entschieden, Journalisten der Weltpresse einen 45-minütigen Film mit Videos zu zeigen, die bisher noch nicht zu sehen waren, und die sie den Bodycams der islamistischen Täter entnahmen. Die Journalisten sollen berichten, sie durften selbst, aus Respekt vor den Opfern, keine Aufnahmen machen. Das Foto oben wurde von den Journalisten während der Projektion aufgenommen, wir entnehmen es einem Post bei Twitter.

Viele Berichte gibt es in den deutschen Zeitungen heute nicht. Der Journalist David Patrikarakos, der auch schon aus der Ukraine berichtete (unsere Resümees) protokolliert in einem Twitter-Thread: "Ein Mann in Unterhosen und seine beiden Kinder, ebenfalls in Unterhosen, rennen schreiend davon. Die Hamas kommen herein, werfen eine Granate und töten den Vater. Sie nehmen die zwei Kinder - bedeckt mit dem Blut ihres Vaters - in einen Raum mit. 'Daddy ist tot', schreit eines. 'Ich mache keinen Spaß. Er ist wirklich tot. 'Ich wünschte, ich wäre tot, ich wünschte, ich wäre tot!', schreit das Kind."

"Offenbar hat der Vater sich schützend vor seine Kinder gestellt, den Großteil der Explosion mit seinem Körper abgefangen", ergänzen Björn Stritzel und Til Biermann in der Bild-Zeitung. "Einer der Terroristen schickt die verletzten und völlig verängstigen Jungen in die Küche ihres Hauses, dort brechen beide in Tränen aus. Einer der Jungen hat durch die Explosion ein Auge verloren, man hört sie weinen." Was aus den Kindern geworden ist, erfährt man aus dem Film nicht, so die Reporter.

"Angesichts dessen, was die Menschen gerade in Israel erlitten haben, verbietet sich das 'Aber'", sagt Navid Kermani im FR-Gespräch, ergänzt aber: "Wenn man das Wort nur öffentlich ausspricht, sitzt man schon im Boot der Relativierer und Rechtfertiger. Das heißt: Der Terror setzt das Denken aus - und genau das wollen die Terroristen erreichen. Sie wollen, dass die Angegriffenen ihre Rationalität, ihre Humanität verlieren. Angreifer und Angegriffene gleichen sich so in einer wechselseitigen Dynamik immer mehr an." Vor allem aber hofft er, dass sich die palästinensische Zivilgesellschaft gegen die Hamas positioniert, setzt aber größere Hoffnung in die iranische: "Wo gab es denn in Nahost Proteste gegen die Palästina-Politik der eigenen Regierung? In Iran! Der Widerstand kommt aus der iranischen Zivilgesellschaft selbst. Überlegen Sie einmal, was sich in der gesamten Nahost-Region alles ändern würde, wenn die Politik Irans auch nur im Ansatz dem Willen des iranischen Volks entspräche. Iran ist ein Schlüssel für die Befriedung der gesamten Region. (…) Es ist nicht Sache des Westens, das Regime zu beseitigen. Das können nur die Iraner selbst." Aber: "Durch lediglich symbolische Sanktionen, durch anhaltenden Geldfluss, durch die Bereitschaft zu Zugeständnissen, weil man von Iran etwas will", habe Deutschland und die EU das iranische Regime stabilisiert, meint er.

Der Guardian konnte sich seit dem 7. Oktober nicht dazu durchringen, auch nur einen einzigen Kommentar zu veröffentlichen, der sich nicht mit einem Halbsatz begnügt hätte, das Massaker der Hamas zu verurteilen, um dann ein fettes ja, aber hinterherzusetzen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kommentar der bosnischen Autorin Lana Bastašić: Umstandslos leitet sie von den Berliner Stolpersteinen für die jüdischen Opfern des NS-Terrors zum Leid der bosnischen Muslime, die von Serben massakriert wurden hin zu den Palästinensern (ohne auch nur eine Sekunde zu bedenken, dass Muslime in Bosnien angegriffen wurden, in Israel aber die Angreifer waren): "Schon die Erwähnung des Wortes 'Palästina' in Deutschland birgt die Gefahr, dass man des Antisemitismus bezichtigt wird. Jeder Versuch, einen Zusammenhang herzustellen und Fakten über den historischen Hintergrund des Konflikts zu vermitteln, wird als plumpe Rechtfertigung des Terrors der Hamas angesehen. ... Da ich in Deutschland lebe, sehe ich es als meine menschliche Verantwortung an, seine Einseitigkeit, seine Heuchelei und seine Duldung der ethnischen Säuberung des Gazastreifens anzuprangern. Wenn ich jeden Tag an Lucies Stolperstein vorbeigehe, werde ich an diese Verantwortung erinnert. Ich werde daran erinnert, was Schweigen anrichten kann und wie lange es einen Ort und ein Volk heimsuchen kann. Ich komme von einem stillen Ort, der mit Blut getränkt ist. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Stille auch in Deutschland spüren würde."

In der FAZ ist Ahmad Mansour entsetzt von dem Antisemitismus, der sich nach dem Hamas-Massaker an israelischen Zivilisten in Deutschland zeigte: "Dass mehr als 1400 Menschen ermordet wurden, allein, weil sie jüdische Israelis waren, lässt die Demonstranten nicht nur kalt, es ist ein Anlass zum Feiern. So heftig war das Entsetzen über diese Kundgebungen, dass Bundeskanzler Scholz das Verbot der Betätigung von Hamas-Anhängern ankündigte, und das Verbot von Gruppen wie 'Samidoun', Teil der Terrororganisation 'Volksfront zur Befreiung Palästinas'." Gezeigt habe sich vor allem eins: "Für eine erhebliche Anzahl der Menschen arabischer Herkunft und muslimischen Glaubens ist der Hass auf Israel und jüdische Menschen selbstverständlich. Er ist so 'normal', dass sie ohne Scham und Scheu, aggressiv und auftrumpfend einen Massenmord auch an Babys, Kindern und Frauen bejubeln."

All jene, die dieser Tage die Aktionen der Hamas feiern, geben einen Teil ihrer Humanität auf, schreibt Detlef Esslinger in der SZ: "Der deutsch-israelische Historiker Meron Mendel weist zu Recht darauf hin, dass die Massaker dieses Tages in eine Reihe gehören mit Srebrenica, 9/11 und Butscha. So monströs sind sie. Sie haben nichts mit Befreiungskampf zu tun, so wenig wie die Massaker von Butscha mit Sicherheitsinteressen Russlands. Wer versucht, die Morde in Israel mit dem Kontext und der Kontinuität des israelisch-palästinensischen Konflikts zu begründen, bedient nur die Interessen der Mörder. Darin bestand ja auch das Missverständnis des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek bei der Frankfurter Buchmesse: dass er nach der 'uneingeschränkten Verurteilung' der Hamas viel zu schnell bei der Analyse des 'komplexen Hintergrunds der Situation' angelangt war - derlei hat nach Butscha oder Srebrenica ja auch kaum jemand für geboten gehalten."

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel fragen sich in der FAZ, wie sich ein Gespräch zwischen jüdischen und muslimischen Deutschen noch führen lässt. Vielleicht muss man beim Dialog aus seiner Komfortzone raus und feste Regeln aufstellen? "Weder das Existenzrecht des Staates Israel noch das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat sollen infrage gestellt werden. Die Gesamtschuld für den hundertjährigen Konflikt auf die Schultern nur einer Partei zu legen ist falsch. Jegliche NS-Vergleiche verbieten sich genauso wie jede andere Form von Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit. Über alles andere kann gestritten werden. Unserer Erfahrung nach sind schon diese Grundvoraussetzungen für viele unüberwindbar. So fällt es zum Teil sogar in unserem Bekanntenkreis einigen Muslimen schwer, das Wort 'Israel' auch nur auszusprechen."

Deutliche Worte findet Michel Friedman im SZ-Gespräch mit Peter Laudenbach, in dem er bekennt, aktuell wieder Angst in Deutschland zu haben und sich in deutschen Kultureinrichtungen neben ukrainischen auch Israelfahnen wünschen würde: "Wir kennen den linksextremen Judenhass, in dem die Juden für 'das Weltkapital' stehen. Ich erinnere mich, wie 1967 während des Sechstagekriegs Veranstaltungen mit dem israelischen Botschafter von linken Studenten gestürmt worden sind. Schon damals gab es den Antizionismus, der den Staat Israel als eine imperialistische Macht im Nahen Osten gesehen hat und als eine Marionette der Amerikaner. Das setzt sich heute im linken postkolonialen Diskurs fort. Das ist entweder naiv oder eine Ausrede für Antisemitismus. In den letzten Jahren verbindet sich das mit einem islamistischen Antisemitismus. Darum hören wir jetzt auf deutschen Straßen die Parole: Tötet die Israelis, tötet die Juden. In den letzten Tagen wurde in Deutschland nicht die israelische Botschaft attackiert, sondern eine Synagoge. Es geht nicht um eine Kritik an der israelischen Regierung, sondern um antisemitischen Hass, um die Vernichtung des Judentums."

Frieden beginnt mit der Ausschaltung der Hamas, schreibt Bernard-Henri Lévy in seinem Blog auch an die Adresse all jener "Kontextualisierer", die Israel die Schuld an den sadistischen Morden der Hamas in die Schuhe schieben wollen. Auch die toten Palästinenser gehen aufs Konto der Hamas. "Generell sollte man aufhören zu glauben oder glauben zu machen, dass der Hamas, die diesen Albtraum geplant und bezweckt hat, Leben, Leiden oder Hoffnungen eines Volkes am Herzen liegen, das ihre geringste Sorge ist und das sie nur als Werkzeug sieht, um das 'zionistische Gebilde' zu schwächen und eines Tages zu zerstören. 'Palästina wird leben'? Nein, 'Israel soll sterben'. Das ist ihr ganzes Programm. Ein 'Gefängnis unter freiem Himmel'? Ja. Dieser Landstreifen, der zehnmal so groß wie Dubai ist, ist, wenn man so will, ein Freiluftgefängnis. Aber sie, die Hamas, hat den Schlüssel."

Während sich die israelischen Stimmen mehren, die ihre Regierung kritisieren, schweigen die palästinensischen Intellektuellen in der Öffentlichkeit, konstatiert Elisabeth von Thadden auf ZeitOnline und macht dafür "spezifische deutsche Rederegeln" verantwortlich, die Palästinenser ihrer Meinung nach behindern: "Der deutsche Staat hat sich der Solidarität mit Israel verpflichtet, der Deutsche Bundestag hat die Israel-Boykott-Bewegung BDS als antisemitisch gelabelt und gemeinsam mit der westlichen Staatenwelt stuft Deutschland die Hamas als Terrororganisation ein. Und wenn die jüngsten Verbrechen der Hamas ankündigen, was Israels Bürger künftig zu fürchten haben sollen, dann ist es zweifellos eine zwingende Aufgabe, die Sicherheit Israels zu gewährleisten. Es liegt zugleich auf der Hand: Wer sich mit dem palästinensischen Volk solidarisch weiß, wer den Boykott für ein geeignetes Mittel des Protests gegen Israels Besatzungspolitik hält und gar in der Hamas nicht nur den Terror, sondern auch die regionale Verwaltung des Gazastreifens mit ihren Hilfswerken sieht, der bekommt es in Deutschland beim Reden innerhalb seiner Regeln schnell mit Widrigkeiten zu tun."

Für den Tagesspiegel hat Tilman Schröter bei den Militärexperten Carlo Masala, Kobi Michael und Peter Lintl nachgefragt, weshalb Israel bisher mit der Bodenoffensive wartet. "'Es ist eine Frage von Tagen', sagt Kobi Michael. Peter Lintl rechnet ebenfalls mit einem baldigen Beginn. 'Wann genau, hängt mit der Geiselfrage zusammen", sagt Lintl. "Auch die Hoffnung der Israelis, dass noch mehr Zivilisten den nördlichen Gaza-Streifen verlassen, spielt eine Rolle'." Lintl hält es nicht für unmöglich, dass Israel einen Mehrfrontenkrieg gewinnen könnte: "'Der Krieg gegen Hisbollah wird per Luftwaffe geführt werden, das haben die Israelis jahrelang in Szenarien durchgespielt', sagt Lintl. Aber natürlich stelle sich die Frage, sollte es zu massiven Unruhen im Westjordanland kommen, ob weiterhin eine Bodenoffensive in Gaza stattfinden könne. 'Ein solcher Großkonflikt an mehreren Fronten wäre die existenziellste Situation des Landes seit dem Jom-Kippur-Krieg.'"
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Medien

Vor einigen Tagen behauptete die Hamas, Israel habe ein Krankenhaus in Gaza beschossen, und es habe 500 Tote gegeben. Viele Medien übernehmen die Behauptung mehr oder weniger ungeprüft und korrigierten sie nur zögerlich, obwohl schnell Zweifel laut wurden. Die New York Times brachte gestern eine Art Entschuldigung: "In Anbetracht der heiklen Natur der Nachricht in einem sich ausweitenden Konflikt und der großen Reichweite, die sie erhielt, hätten die Times-Redakteure bei der anfänglichen Präsentation mehr Sorgfalt walten lassen und deutlicher darauf hinweisen sollen, welche Informationen überprüft werden konnten." Von der "Tagesschau" und anderen deutschen Medien sind bislang keine selbstkritischen Reflexionen überliefert. (Nachtrag: das stimmt nicht ganz, der dlf hat seinen Fehler deutlich benannt.)
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Stichwörter: New York Times, Hamas

Geschichte

"Die Hamas hat sich offen einer Ideologie des Rassismus und des Genozids verschrieben", sagt der amerikanische Autor Paul Berman im NZZ-Gespräch: "Die Hamas-Idee hat sich einiges abgeschaut von der Nazi-Idee. (…) Die Hamas sind ein Ableger von den Muslimbrüdern in Ägypten. Die Muslimbrüder, die in den 1930er Jahren als islamische fundamentalistische Erneuerungsbewegung entstanden, wurden zu einer Massenbewegung, die eine Reihe von europäischen Ideen aufnahm. Mussolini und Hitler wollten die Gesellschaft 'säubern' und auf ihre Weise das Römische Reich auferstehen lassen. Hassan al-Banna, der Gründer der Muslimbrüder, hatte ähnliche Säuberungsfantasien und wollte seinerseits das islamische Reich des Propheten Mohammed wiedererwecken. (…) Hassan al-Banna bewunderte insbesondere Hitler und förderte im Stil Hitlers einen Todeskult. 'Der Märtyrertod auf dem Pfad Gottes ist unsere größte Hoffnung', war Bannas Slogan. Der größte Theoretiker der Muslimbrüder war dann aber Sayyid Qutb, der zufällig auch ein Gelehrter der englischen Romantik war. Qutb vertiefte die Ideen der Bruderschaft kulturell und psychologisch. Und er brachte all dies in seinem Denken über die Juden zusammen."
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Ideen

In der FR kritisieren Max Beck und Nicholas Coomann vom Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena die Schulenbildung in der akademischen Philosophie. "Es gilt das Motto: Homogenisierung nach innen, Heterogenisierung nach außen. Auch der Streit der Schüler lässt den Identitätskern einer Denkschule zumeist unangetastet. Die Anhängerschaft ist dabei nicht nur auf Zeitgenossen beschränkt. Noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte später finden sich Vertreter, die den Fortbestand 'ihrer' Denktradition verteidigen. Die geteilte Gruppenzugehörigkeit und die Pflege der eigenen Tradition führen häufig dazu, dass Grundprämissen nicht mehr hinterfragt werden und sich Konflikte allenfalls um hermeneutische Detailfragen drehen. An die Stelle einer sachorientierten Argumentation tritt somit oftmals die Akzentuierung im Sinne des theoretischen Profils." Dennoch wollen sie das Schulwesen nicht verwerfen: "Vielmehr muss es darum gehen, das Schulwesen von innen zu verflüssigen, ohne den Wert von Schulen zu bestreiten. Die Aufgabe besteht darin, durch die Widersprüche der unterschiedlichen Sichtweisen hindurchzugehen, ohne sich blind von den Argumenten der Meister oder der eigenen akademischen Peergroup mitreißen zu lassen."
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Gesellschaft

Alice Schwarzer irrt, wenn sie glaubt, junge Menschen seien heute lieber trans als homosexuell, meint der in Berlin lebende französische Autor Jayrôme C. Robinet in der taz. Die Fakten geben das seiner Meinung nach nicht her: "Erstens ist es in Deutschland nach wie vor einfacher, schwul oder lesbisch zu leben als trans. Rechtlich sind homosexuelle Menschen gleichgestellt, und gesellschaftlich ist Homosexualität akzeptierter als Transgeschlechtlichkeit. Zweitens leben viele trans Menschen nicht heterosexuell. Homosexuelles Begehren ist eine sexuelle Orientierung für sich, und das ändert sich nach der Transition manchmal gar nicht: Manche Menschen haben vorher lesbisch gelebt, danach stehen sie auf Männer. Die Transidentität als Ausweg aus einer verinnerlichten Homophobie ist auf den zweiten Blick nicht sehr nahe an der Realität. Aber, so Schwarzer, trans Menschen würden die Heteronormativität verfestigen, gegen die Schwule und Lesben ein Jahrhundert lang gekämpft haben. Bei allem Respekt: Trans Menschen sollten das Recht haben, heterosexuell zu sein."
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Europa

Dass die PiS in Polen endlich geschlagen werden konnte, ist auch den polnischen Frauen zu verdanken, meint die polnische Schriftstellerin Joanna Bator in der SZ: "Der PiS ist es nicht gelungen, den Aufstand zu ersticken. Die Regierungsgegner verstärkten ihre Aktivitäten außerparteilich, unabhängig und von unten - und in dem Aufbau von Solidarität und Widerstand vom Untergrund her können die Menschen in Polen auf eine lange Tradition zurückblicken. Diesmal aber waren es die Polinnen, die die Gesellschaft auf die Barrikaden führten. Ich denke, die polnischen Feministinnen haben einiges zum Wandel der politischen Stimmung und zur Aktivierung des bis dahin passiven Teils der Wählerschaft beigetragen. Die Verzweiflung verwandelte sich in Rebellion - von den polnischen Feministinnen mit dem schönen Wort wkurw bezeichnet, übersetzbar vielleicht mit, pardon, 'Fotzenfeuer'. Die Initialzündung des wkurw sorgte 2016 die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, und meiner Meinung nach hat dieser von unten gewachsene, immer mächtiger gewordene und hauptsächlich von Frauenbewegungen wie 'Strajk Kobiet' (Frauenstreik) befeuerte Widerstand zu einer ethischen Revolution geführt. Einer Revolution, die darin besteht, dass die Fähigkeit zu Empathie und gegenseitiger Fürsorge sich in der polnischen Gesellschaft zunehmend verbreitet."

Michaela Wiegel berichtet in der FAZ über eine interessante tektonische Verschiebung in der französischen Politik. Während sich Marine Le Pen vom ursprünglichen Antisemitismus des Front national mehr und mehr abwendet und sich nach den Pogromen der Hamas eindeutig auf die Seite Israels stellte, bleibt das französische Linksbündnis unter Jean-Luc Mélenchon bei seinem Antisemitismus. Zu einer pro-palästinensischen Demonstration in Paris schrieb Mélenchon auf Twitter: "Das hier ist Frankreich." Über die Präsidentin der Nationalversammlung Yaël Braun-Pivet, die nach Israel gefahren war, schrieb er: Sie , "campiere" in Tel Aviv, "um zu Massakern zu ermutigen". Sie dürfe nicht "im Namen des französischen Volkes" sprechen. Braun-Pivet ist jüdischer Herkunft. Das Wort "Camp" (Lager) habe Mélenchon bewusst benutzt, so Wiegel: "Antisemitische Wortspiele werden inzwischen im linken Milieu geduldet. Zuletzt luden die Grünen bei ihrer Tagung zum Ende der Sommerpause den Rapper Médine ein, der sich über die Essayistin Rachel Khan, Enkelin von Deportierten, als 'resKHANpée' ('Entkommene') mokierte. Die grüne Nationalsekretärin Marine Tondelier fand den Kalauer nur 'ungeschickt'." Matthias Krupa ergänzt in der Zeit-online-Kolumne "Fünf vor acht", dass dass Linksbündnis Mélenchons wegen seines Extremismus Risse zeigt.

In der taz ermuntert Joachim Wagner dazu, "die Haltung der AfD zum Rechtsstaat" etwas genauer zu inspizieren. Wie man die Verfassung demontiert, hätten Polen, Ungarn und Israel ja schon vorgeführt: Erst kommt "die Entmachtung der unabhängigen Justiz und ihre Politisierung durch gesteuerte Personalauswahl im Sinne der Regierungsmehrheiten. Dies wäre auch in Deutschland ohne Änderung des Grundgesetzes durch einfache Gesetze möglich. Neue Richterstellen könnten geschafft werden, die mit Parteigängern besetzt würden. Eine dritte Möglichkeit wäre, das Bundesverfassungsgerichts durch einen dritten Senat zu erweitern, in dem neue rechtslastige Robenträger über politische brisante Fälle befinden. Der Blick in die Zukunft scheint von der heutigen Realität der Bundesrepublik weit entfernt. Trotzdem: Ein Blick in europäische Nachbarländer mit Regierungsbeteiligungen rechtspopulistischer Parteien und auf die bundesweiten Umfragen, die die AfD als zweitstärkste Partei mit über 20 Prozent sehen, zeigen, wie schnell sich grundlegende Säulen der Gewaltenteilung abschaffen lassen und wie dringlich auch hierzulande das Problem ist."
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