9punkt - Die Debattenrundschau

Radikale Verbindungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2023. In vielen Medien steht heute linker Antisemitismus zur Debatte: "Das Bindeglied zwischen der radikalen Linken und fundamentalistischen Organisationen wie der Hamas ist der Glaube an absolute Gerechtigkeit", schreibt Yuval Noah Harari in der SZ. Der Antisemitismus gehört von Anfang an zur Linken, sagt der Historiker Michael Brenner im Gespräch mit der Zeit. In Berlin wird heftig über Integration debattiert: Die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial fürchtet im Tagesspiegel, "dass die aktuelle Debatte ein Verstärker für den antimuslimischen Rassismus ist". Ihre Neuköllner Kollegin Güner Balci fordert ein "Ende des Empowerments reaktionärer und demokratiefeindlicher Imame". Unterdessen teilt Seyran Ates mit, das sie ihre liberale Ibn-Rushd-Gothe-Moschee wegen Terrordrohungen schließt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.10.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Hamas hatte bei ihren Angriffen auf Israel nur eines im Sinn: "Frieden zu verhindern", ruft uns Yuval Noah Harari in der SZ zu. Der Historiker blickt dabei verständnislos auf die Linke, die sich auf die Seite der Hamas stellt. "Das Bindeglied zwischen der radikalen Linken und fundamentalistischen Organisationen wie der Hamas ist der Glaube an absolute Gerechtigkeit, der dazu führt, dass man sich weigert, die Komplexität der Realitäten in dieser Welt anzuerkennen. Gerechtigkeit ist ein hehres Anliegen, aber die Forderung nach absoluter Gerechtigkeit führt unweigerlich zu endlosem Krieg. In der Geschichte der Welt ist noch nie ein Friedensvertrag zustande gekommen, der keine Kompromisse erforderte oder für absolute Gerechtigkeit sorgte." Harari fügt außerdem hinzu: "Die Juden haben nie absolute Gerechtigkeit in Sachen Holocaust bekommen - wie sollten sie auch? Könnte irgendjemand die Schmerzensschreie in ihre Kehlen zurückholen, den Rauch zurück in die Schornsteine von Auschwitz leiten und die Toten aus den Krematorien zurückbringen?"

Der Antisemitismus gehört von Anfang zur Linken wie ein lästiger Schönheitsfehler, den sie lieber nicht reflektiert. Es fängt an mit den utopischen Sozialisten wie Charles Fourier und Alphonse Toussenel, sagt der Historiker Michael Brenner im Gespräch mit Carlotta Wald in der Zeit und hört nie auf. Während die gemäßigtere Sozialdemokratie einigermaßen frei von dem Symptom ist, mobilisieren Stalinismus und die DDR die alten Reflexe, und auch in der Bundesrepublik geht es weiter: "Die deutschen Linksradikalen sehen seither in den Palästinensern Verbündete. Nach 1967 entstehen radikale Verbindungen. Linksradikale Terrorgruppen wie die RAF lassen sich im Libanon durch palästinensische Terroristen an der Waffe ausbilden. Anschläge auf ein jüdisches Gemeindehaus in Berlin am 9. November 1969, dem Jahrestag der Pogromnacht, und im Februar 1970 auf ein Altenheim der jüdischen Gemeinde in München folgen. Und natürlich sieht man diese Zusammenarbeit, wenn man so will, auch in dem Anschlag auf die israelischen Sportler der Olympiade 1972." Für die aktuelle Linke trifft der Vorwurf des Antisemitismus erst recht, wie diese Tage ja offengelegt haben: "Ich würde schon meinen, es ist im Kern antisemitisch, wenn Israel das Existenzrecht abgesprochen wird. Denn man darf nicht übersehen: Die Hälfte aller Juden weltweit leben heute in Israel. Sie haben keinen anderen Staat, in den sie auswandern könnten."

Die Israelkritiker "wollen nur kontextualisieren", behaupten sie, aber Peter Neumann nimmt ihnen das im Aufmacher des Zeit-Feuilletons nicht ab: "Wer dieses 'absolut Böse' nicht mit aller Macht in die Schranken weist, sondern glaubt, es jetzt mit den Wunderwaffen der kommunikativen Vernunft zähmen zu können, wird bald selbst in seine Fänge geraten. Der wird bald nichts mehr verurteilen können. Nur weil der Westen Schuld auf sich geladen hat, heißt das nicht, dass er sich jetzt kleinlaut in die Ecke verziehen muss. Der Westen hat seine Bereitschaft und Fähigkeit gezeigt, aus historischen Fehlern zu lernen. Auch das gehört heute zum Erbe der europäischen Aufklärung."

Scharfer Wind weht auf Twitter dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, entgegen, der im Heute Journal von einer "Hamas-Aktion" gesprochen hat, die nicht im Vakuum stattgefunden habe, und Israel mehr oder weniger zum sofortigen Einlenken aufforderte.


Inzwischen rudert Heusgen in einem Interview, hier zitiert im Kölner Stadtanzeiger, zurück: "natürlich liegt mir nichts ferner, als diesen Zivilisationsbruch, wie man den barbarischen Überfall der Hamas-Kämpfer auf die Zivilisten bezeichnen kann, nicht klar zu benennen."

Eberhard Seidel erzählt in der taz die Geschichte der palästinensischen Immigration, die meist aus dem Libanon kam, in Berlin, besonders Neukölln. Probleme mit diesen Gruppen seien Folgen einer Politik der Marginalisierung seit den achtziger Jahren, vor der "linke Stimmen" schon immer gewarnt hätten, behauptet er: "Häufig werden der Islam und vorgebliche Besonderheiten der arabischen Mentalität für dieses sozial- und bildungspolitische Desaster verantwortlich gemacht. Diese Argumentation wird der Geschichte nicht gerecht. Vielmehr gilt: Als die Politik nach Jahrzehnten endlich den Weg zur Integration der Geduldeten ebnete, war es für viele zu spät. Alles, was wir heute unter den Chiffren Parallelgesellschaft, Clankriminalität, Intensivtäter und Islamismus diskutieren, sind Spätfolgen der Politik der Marginalisierung."

Berlins Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial fürchtet im Gespräch mit Anna Thewalt vom Tagesspiegel schon vorgestern, "dass die aktuelle Debatte ein Verstärker für den antimuslimischen Rassismus ist. Ich wünsche mir, dass man das Leid der zivilen Bevölkerung auf beiden Seiten anerkennt, auch auf der palästinensischen Seite. Wir dürfen uns als Gesellschaft nicht spalten lassen, auch vor dem Hintergrund der rund 45.000 Menschen palästinensischer Herkunft, die in Berlin leben." Erste Priorität hat für sie der Schutz der jüdischen Bevölkerung, aber für die Bekämpfung des Antisemitismus setzt sie auf die Zusammenarbeit mit Islamverbänden: "Wir haben Gremien wie das Islamforum oder Projekte wie den Rat der Imame. Hierauf müssen wir aufbauen. Die Zusammenarbeit ist nicht immer einfach, gerade medial steht sie häufig in der Kritik. Aber wir brauchen diese Gesprächskanäle, mehr denn je."

In diesen Gremien befinden sich durchaus auch Personen, die den Muslimbrüdern nahestehen, konstatiert Frederik Schindler in der Welt. Er hat auch die Integrationsbeauftragte des Bezirks Neukölln, Güner Balci, zur Position Niewiedzials befragt, die sich sehr kritisch äußert: "Wer wie Frau Niewiedzial fordert, mit Islamisten zu kooperieren, um Antisemitismus zu bekämpfen, trägt Mitverantwortung daran, dass Juden in Deutschland nicht sicher sind. Frau Niewiedzial stößt damit auch alle liberalen Muslime vor den Kopf, die sich dringend ein Ende des Empowerments reaktionärer und demokratiefeindlicher Imame und Organisationen wünschen. Eine Zusammenarbeit mit Islamisten produziert Muslimfeindlichkeit."

Außerdem: Berliner Schulen dürfen nach den antiisraelischen Protesten in der Stadt das sogenannte Palästinensertuch verbieten. Gut so, schreibt der Historiker Sven Felix Kellerhoff in der Welt, die Kufiya sei schon seit langer Zeit ein Symbol für Antisemitismus. Frederik Eikmanns stellt in der taz die Ergebnisse einer EU-Studie vor, wonach schwarze Menschen im europäischen Vergleich in Deutschland besonders häufig diskriminiert werden. 
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Ideen

Buch in der Debatte

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Es gibt ein Erstarken der politischen Ränder, jedoch keine generelle Polarisierung der Gesellschaft, erklären die Soziologen Steffen Mau und Thomas Lux im Tagesspiegel-Gespräch mit Hans Monath. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft bestimmte "Triggerpunkte": "Das sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, bei denen sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen und sich die Menschen anders positionieren, als sie es zuvor getan haben", führt Mau aus. "Viele Menschen haben aus unterschiedlichen Gründen Vorbehalte gegen Gendersternchen, befürworten in ihrer großen Mehrheit aber die Gleichberechtigung und gleiche Bezahlung von Frauen und Männer. Ein Triggerpunkt, also Auslöser von politischer Emotionalisierung, sind in diesem Zusammenhang etwa Verhaltensvorschriften. Wenn bestimmte Akteure sagen, du musst dich grundsätzlich verändern, in der Art, wie du sprichst, und das auch in deinem privaten Raum, dann provoziert das Reaktanz, also Abwehr, und viele sagen: Das mache ich jetzt nicht mehr mit."

Außerdem: Auf die Shortlist des NDR-Sachbuchpreis 2023 haben es neben Teresa Bückers "Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit", Michael Thumanns "Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat" und Eva von Redeckers "Bleibefreiheit" auch Wolfgang Kraushaars "Keine falsche Toleranz. Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss" (unser Vorgeblättert) geschafft.
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Geschichte

"Wenn die Vergangenheit ein fremdes Land wäre, würden die Ukrainer nicht für sie kämpfen", schreibt die Archäologin Esther Widmann in der NZZ und blickt auf die Zerstörung von historischen Bauwerken in der Ukraine. Die Vergangenheit ermögliche es nämlich erst, eine Identität für sich zu beanspruchen: "In der Ukraine stammen der Name der Währung, Hrywna, und sogar das Staatswappen, der Dreizack, aus der Kiewer Rus, einem mittelalterlichen Großreich. Das ist keine Nostalgie, sondern eine politische Aussage. Die Kiewer Rus war der erste Staat auf ukrainischem Boden, eigenständig, zu einer Zeit, als Moskau noch ein Dorf war. Die Vergangenheit der Ukraine ist der Beweis ihrer Unabhängigkeit."
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Europa

Die britische Regierung will Gemeinden verbieten, selbsttätig Israelboykotte zu beschließen, berichtet Dominic Johnson in der taz: "Man wolle 'klarstellen, dass britische Außenpolitik die Sache der britischen Regierung ist', hatte im Juni der zuständige Minister Michael Gove im Parlament erklärt. Außerdem gehe es um 'Schutz für Minderheiten, insbesondere die jüdische Gemeinschaft, gegen Kampagnen, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schaden und Antisemitismus befördern'. Die regierenden Konservativen hatten ein solches Gesetz versprochen, nachdem mehrere britische Gemeinden vor Gericht das Recht für einen Boykott von Produkten aus illegalen israelischen Siedlungen in der besetzten palästinensischen Gebieten erstritten hatten."
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Stichwörter: BDS, Israelboykott

Religion

Die liberale, von Seyran Ates gegründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit soll demnächst geschlossen werden, berichtet Lea Becker im Tagesspiegel. Die Moschee hat das in ihrem Newsletter mitgeteilt: "In einem Onlinemagazin des IS sei die Moschee demnach als 'Ort der Teufelsanbetung' bezeichnet worden. 'An dieser Stelle möchten wir unseren aufrichtigen Dank den deutschen Sicherheitsbehörden aussprechen, die trotz hoher Belastung die Dschihadisten ausfindig machten und verhafteten', heißt es in dem am Mittwoch veröffentlichten Newsletter."

Tayyip Erdogan richtet die Türkei wirtschaftlich zugrunde und korrumpiert das Rechtssystem. Dafür wird das Land aber immer religiöser, konstatiert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Die Menschen leiden Hunger, aber das Budget der staatlichen Religionsbehörde Diyanet etwa, das im laufenden Jahr bereits 1,2 Milliarden Euro betrug, wird 2024 auf 3,1 Milliarden Euro erhöht. Die Zahl der Korankurse für Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren hat die Zahl der staatlichen Vorschulen überholt. Die vorhandenen Vorschulen werden mit einem neuen Beschluss nachgerade in Korankurse umgewandelt. Künftig sind Gebetsräume in allen Vor- und Grundschulen Pflicht." Auch den Antisemitismus fördert Erdogan nach Kräften, so Mumay.
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