9punkt - Die Debattenrundschau

Ungeheuerliche Botschaft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2023. "Sich für Juden von sich aus einzusetzen, kommt bei der Bevölkerung eigentlich nicht an", kritisiert C. Bernd Sucher auf ZeitOnline. Die taz ist indes entsetzt, dass Frauenrechtsorganisationen und insbesondere die UN zu der Gewalt der Hamas an Jüdinnen schweigen. In der FAS fordert die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk einen Prozess wie in Nürnberg für Putin und seine Gefolgsleute. Und in der FAZ stutzt Bülent Mumay, dass Erdogan Israel zwar als "terroristischen Staat" bezeichnet, aber die Wirtschaftsbeziehungen gern aufrecht erhält.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.11.2023 finden Sie hier

Europa

Buch in der Debatte

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Gerade erst ist das Buch "Unsichere Heimat - Jüdisches Leben in Deutschland von 1945 bis heute" des ehemaligen SZ-Theaterkritikers C. Bernd Sucher erschienen. "Judenhass gab es immer und es wird ihn auch weiterhin geben", sagt er im ZeitOnline-Gespräch: "Auffallend ist aber, dass es so wenige gibt, die sich dagegenstellen." Auch die deutsche Politik kritisiert er: "Der Hinweis, den die meisten Politiker formulieren - wir müssen an der Seite von Israel stehen -, erweist sich durch das Verb 'müssen' als verdächtig. Denn das heißt: Wir wollen nicht, sondern wir sind verpflichtet, weil hier unter der Naziherrschaft gemordet wurde. Sich für Juden von sich aus einzusetzen, kommt bei der Bevölkerung eigentlich nicht an. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde vor Opernaufführungen die ukrainische Hymne gespielt. Nichts dergleichen passierte nach dem Überfall der Hamas auf Israel. Wenn man sich demgegenüber ansieht, wie selbstverständlich sich Menschen propalästinensisch positionieren, ist das bedenklich."

Im Tagesspiegel berichtet der jüdische Psychologe und Autor Louis Lewitan derweil von dem Antisemitismus, der ihm auch aus der Mitte der Gesellschaft entgegenschlägt: "Besonders nervig sind Fragen, die eine Aufforderung beinhalten: 'Wie können Sie als Jude noch in Deutschland leben? An Ihrer Stelle würde ich gleich auswandern'. Ab und an erhalte ich Hinweise in Form von Mahnungen, die sich wie Drohungen anhören: 'Warum müssen Juden unbedingt mit einer Kippa herumlaufen? Das ist doch pure Provokation!'"

Die SPD feierte diese Woche 50 Jahre Grundwertekommission, auch die Philosophin und SPD-Mitglied Susan Neiman hielt eine Rede, die der Schriftsteller Ralf Bönt lieber nicht gehört hätte, wie er in der SZ schreibt. Denn Neiman behauptete zunächst, dass in Deutschland "verordneter Philosemitismus" herrsche, ging dann über zur Kritik an der israelischen Regierung, um schließlich mit einem Zitat Albert Einsteins aus einem Brief an den israelischen Politiker Chaim Weizmann zu schließen: "Wenn wir keinen Weg zu ehrlicher Zusammenarbeit und zu ehrlichen Verhandlungen mit den Arabern finden, dann haben wir nichts aus unserer zweitausendjährigen Leidensgeschichte gelernt, und wir verdienen das Schicksal, das uns ereilen wird." "Nicht, dass das Wort Einsteins falsch wäre, bewahre", schreibt Bönt: "Aber es so zu zitieren, ist, als würde man den Eltern der jungen Frau, die am 7. Oktober halbnackt mit verdrehten Gliedmaßen auf einem Wagen von Terroristen zur Schau gestellt und bespuckt wurde, den Eltern jener Frau, die später starb, sagen: Na ja, wegen Netanjahu halt. Wegen der Siedler im Westjordanland. Und jetzt halt dieser deutsche Philosemitismus wegen des Holocaust, weißte?"

"Wir wollen ein Gericht wie in Nürnberg, in dem Putin, die politische Führung Russlands und die wichtigsten militärischen Befehlshaber wegen des Verbrechens der Aggression angeklagt werden könnten", fordert die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk, die bereits seit 2014 russische Kriegsverbrechen dokumentiert, im FAS-Gespräch. Besonders schwer sei das Jahr 2018 für sie gewesen: "Damals hatte die Welt den Krieg bei uns vergessen. Wir aber machten weiter und dokumentierten Verbrechen in den besetzten Gebieten. Illegale Festnahmen, Entführungen, sexuelle Gewalt, Folter und Morde an Zivilpersonen. Ich selbst habe damals Hunderte von Überlebenden russischer Haft interviewt. Sie erzählten mir, wie man sie geschlagen und vergewaltigt hatte, wie man sie in Holzkisten packte und ihnen Stromschläge an die Genitalien gab. Wie man ihnen die Nägel ausriss und Löcher in die Knie schlug. Wir schickten Berichte an die Vereinten Nationen, an den Europarat, an die OSZE und die EU - aber nichts geschah. Damals begann ich schon am Sinn meiner Arbeit zu zweifeln. Ich hatte von so vielen Menschen so viele entsetzliche Details gehört - und ich wusste genau: In derselben Sekunde geht das alles an 143 dokumentierten Orten weiter, und du kannst nichts tun."

Vieles, was Erdogan von sich gibt, sollte man nicht allzu ernst nehmen, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Erdogans jüngste Vergangenheit strotze vor 180-Grad-Wendungen: "Bekanntermaßen erklärt Erdogan Widersacher zu Terroristen und lässt Personen, die er hinter Gitter bringen will, wegen 'Terrorismusunterstützung' anklagen. Er selbst aber findet nichts dabei, einem Staat, den er persönlich zum 'Terroristen' erklärte, ökonomisch zur Seite zu stehen. Ungeachtet Erdogans Salven ist Israel nach den USA und Deutschland weiter unser drittwichtigster Handelspartner. In den letzten Wochen nannte Erdogan Israel einen 'terroristischen Staat', lieferte aber seit dem Anschlag vom 7. Oktober über 300 Schiffsladungen Waren wie Nahrungsmittel und Stahl dorthin. Das Palastregime setzt seine Wirtschaftsbeziehungen zu Israel fort, unterstützt aber unter der Hand antiisraelische Kundgebungen."
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Politik

In der FR antwortet der Philosoph Rainer Forst, einer der Unterzeichner des Habermas-Briefes, auf die Kritik des im Guardian veröffentlichten Briefes (Unser Resümee): "Die Kritik, die an uns gerichtet wird, leidet an der Einseitigkeit, die sie uns vorwirft. Wir drücken klar unsere Sorge um die palästinensische Bevölkerung im Lichte der von uns genannten Prinzipien, zu denen Verhältnismäßigkeit und die Vermeidung ziviler Opfer gehören, aus. Falsch ist es zumal, wie die Erwiderung auf uns es tut, diese Prinzipien nicht als Grundsätze des humanitären Völkerrechts anzusehen. Ebenso falsch ist es, mit der fatalen Logik zu operieren, dass, wer Antisemitismus kritisiert, damit Muslimfeindlichkeit ignoriert oder toleriert. Wir machen klar, dass die Rechte auf Freiheit vor Diskriminierung für alle gelten, und wir schreiben schon gar nicht den Antisemitismus pauschal Muslimen zu."

In der Welt kommentiert Andreas Rosenfelder: "Dass führende Geisteswissenschaftler, darunter auch Deutsche wie Diedrich Diederichsen und die Philosophin Beate Roessler, sich nun dafür einsetzen, den auch von der Hamas propagierten Genozid-Vorwurf gegen Israel salonfähig und damit die Opfer zu Tätern zu machen, und das nur wenige Wochen nach dem schlimmsten Massenmord an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg - es wird immer unfassbarer, je öfter man diesen beschämenden, ja sogar schändlichen Brief liest. Denn hinter seiner scheinbar besorgten Rhetorik versteckt sich die ungeheuerliche Botschaft, dass es die Juden selbst sind, die einen neuen Holocaust planen."

Und in der FAZ sekundiert Miguel de la Riva: "Mit dem Statement berühmter Intellektueller wird sich eine antisemitische Propaganda schmücken können, die hart daran arbeitet, die Opfer der Schoa als Akteure eines neuen Genozids darzustellen und so perverserweise den Staat Israel zum Nachfolger des nationalsozialistischen Gewaltregimes umzudeuten. Vor diesem Hintergrund trägt das Statement nicht bloß zur weiteren Verwässerung, sondern zur Verkehrung der Bedeutung eines Begriffs bei, der bis heute eine unverzichtbare Orientierungsfunktion ausübt."

Der Angriff der Hamas "war nicht nur ein antisemitischer, sondern auch ein frauenfeindlicher, der sich gegen sexuelle Freiheit, Emanzipation und das Leben richtete", schreibt Erica Zingher in der taz: "Israelische Frauen wurden vergewaltigt, missbraucht, verbrannt, enthauptet, ermordet - zum Teil vor ihren Kindern". Und doch schweigen Frauenrechtsorganisationen weltweit und UN Women im Besonderen, notiert Zingher: "Dass sich UN Women nur selektiv für Frauenrechte einsetzt, offenbart, dass ihr bestimmte Frauen egal sind: israelische Frauen und Jüdinnen zählen nicht. Angesichts der israelfeindlichen Positionierung der Vereinten Nationen, die Alex Feuerherdt und Florian Markl in ihrem Buch 'Vereinte Nationen gegen Israel' bereits 2019 dargelegt haben, überrascht das kaum. Schon 2015 wurde Israel als einziger Staat als weltweit größter Frauenrechtsverletzer verurteilt. Nicht etwa Länder wie Afghanistan, der Iran, Pakistan oder Saudi-Arabien. Israelische Frauen wurden durch die Hamas entmenschlicht. Wer es nicht schafft, diesen geschlechtsspezifischen Terror zu skandalisieren, macht sich unglaubwürdig und lässt Betroffene im Stich."

Im taz-Feuilleton sendet Julia Hubernagel eine vom European Jewish Congress unterstützte Reportage aus Israel. Einig scheinen die Israelis in ihrer Kritik an Netanjahu, schreibt sie. Aber: "Was auf den Krieg gegen die Hamas folgt, da gehen die Meinungen auseinander. Es gibt Vorschläge, Gaza zu entmilitarisieren und eine Art Marshall-Plan unter Führung Saudi-Arabiens oder der Vereinigten Arabischen Emirate aufzustellen. Unter den Liberalen in Israel ist die Zweistaatenlösung dieser Tage wieder in aller Munde. Palästinenser und Israelis gemeinsam unter einer Flagge leben zu lassen, hält der Journalist Dan Perry für unrealistisch. Aufgrund der Bevölkerungszusammensetzung wäre es dann kein jüdischer Staat mehr, sagt er. Für die 600.000 jüdischen Siedler, die im Westjordanland leben, hat er kein Verständnis."

Der Deal mit der Hamas ist schlecht, meint Alan Posener auf ZeitOnline: "Er ist ein Sieg für die Terroristen der Hamas und ihre Hinterleute im Iran und in Katar. Er ist eine Niederlage für Israel. Die Deals, die ihm folgen sollen, werden den Krieg um Gaza verlängern, um Wochen, Monate, vielleicht Jahre, möglicherweise auf unbestimmte Zeit. Er signalisiert allen Judenhassern in der Region, und nicht nur dort, dass die israelische Regierung durch Geiselnahme erpressbar ist; Israelis sind nun in ihrem eigenen Land - etwa in Jerusalem, oder in Galiläa, an der Grenze zum Libanon - und in der ganzen Welt noch unsicherer, als sie es schon vor dem 7. Oktober waren." Wenn alle Geiseln frei sind, müsse, "so schwer das sein wird, und gegen den zu erwartenden Aufschrei in aller Welt und vielleicht im kriegsmüden Israel selbst, der Krieg wiederaufgenommen und bis zum Sieg weitergeführt werden."

"Es ist ein Fehler, in Javier Mileis Erfolg den Sieg der Ultrarechten zu sehen, das Aufbegehren antidemokratischer Kräfte, die aus den dunkelsten Zeiten hervorkriechen", meint die argentinische Schriftstellerin Pola Oloixarac, die in der FAS das Versagen der Peronistischen Partei nachzeichnet: "Die progressiven Kräfte täten gut daran, wenn sie der Niederlage ins Auge blicken würden, anstatt sich als Opfer darzustellen. Oder sie vor Europas Unverständnis zu verstecken, vor einem Europa, das unfähig ist, sich die argentinische Armut vorzustellen, das Massa auf einen virtuosen Führer der linken Mitte reduziert und Milei für einen Éric Zemmour mit Perücke hält. Was bedeutet der Progressivismus, wenn er nicht mehr tut, als noch mehr Arme zu produzieren und diesen zudem ihre Würde zu nehmen? Was bedeutet es, Rechte zu wahren, wenn diese Rechte unerreichbare Abstraktionen bleiben? Wie klingt es für jemanden, der arbeitet und der gerade genug verdient, um im Land mit der größten Steuerlast des Planeten zu überleben? Was bedeutet die Aussicht, alles zu verlieren, für jene, die ohnehin nichts mehr haben? Der argentinische Wähler denunziert mit seiner Stimme das brutale Debakel des Kirchnerismus. In einem Land mit 143 Prozent Inflation und mehr als 40 Prozent Armut ist die Litanei von der Verteidigung der Bürgerrechte und dem Schatten einer Diktatur, die fünf Jahrzehnte zurückliegt: ein Luxusproblem."
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Internet

Auf ZeitOnline zeichnen Götz Hamann und Karsten Polke-Majewski die antiisraelischen Reaktionen im Netz nach: "Die übergroße Mehrheit in der digitalen Öffentlichkeit stand trotz der Morde von Beginn an auf der Seite der Palästinenser. Darin spiegeln sich zweifellos 70 Jahre Nahostkonflikt, eine Distanz oder auch offene Feindschaft gegenüber Israel in weiten Teilen der muslimischen Welt - und die internationale Kritik an der israelischen Siedlungspolitik. Gefühlt ist das klar, aber die Wucht war trotzdem überraschend, und sie lässt sich recht gut an zwei Zahlen ermessen. Videos mit dem englischen Hashtag #freepalestine hatten auf TikTok seither rund 27,8 Milliarden Aufrufe. Videos mit #standwithisrael nur einen Bruchteil davon: 497 Millionen. Solidarität mit Palästinensern verband sich in den Videos und Beiträgen mitunter mit antiisraelischen und antisemitischen Motiven."
Archiv: Internet
Stichwörter: Nahostkonflikt, Tiktok

Ideen

Für die SZ trifft sich Jörg Häntzschel mit dem Autor David van Reybrouck, der unter anderem Bücher über die Geschichte Kongos und Indonesiens geschrieben hat. Die Debatte um Kolonialismus sei zu eng, sagt er: "'Im 21. Jahrhundert betrachten wir den Kolonialismus des 20. Jahrhunderts durch die Linse des Nationalstaats des 19. Jahrhunderts.' (…) Und auch die heutige postkoloniale Bewegung ist ihm, bei aller Sympathie, ein wenig fremd. Schon bei seiner Schilderung der Unabhängigkeitskämpfe in den Kolonien interessierten ihn die Macher der Dekolonisierung mehr als deren Vordenker, die historischen Ereignisse mehr als die Theorie. Und so wundert er sich, dass viele Aktivisten all ihre Energie in die Entfernung von Denkmälern, die Umbenennung von Straßen und die Überarbeitung von Schulbüchern stecken. 'Man muss unterscheiden zwischen Intentionen und Systemen, Strukturen und Symbolen', sagt er. 'Viele tun so, als sei der Kolonialismus vorbei, und wenn er nicht vorbei ist, lebt er als Rassismus weiter.' So als sei die Dekolonisierung des Denkens die letzte unerledigte Aufgabe, bevor zwischen Nord und Süd Gerechtigkeit herrscht."
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Geschichte

Die Historikerin Benedetta Tobagi hat den Frauen der Resistenza ein (bislang leider nur auf Italienisch vorliegendes) Buch gewidmet. Im taz-Gespräch erinnert sie an deren viel zu lange unterschätzte Bedeutung: "Nach dem Waffenstillstand im September 1943 wurde ein großer Teil des Landes - insbesondere der Norden, wo der Faschistenführer Mussolini die Republik von Salò ausgerufen hatte - von den deutschen Nazi-Truppen besetzt. Während die Männer hier gejagt und an die Front geschickt wurden, konnten sich die Frauen weiter frei bewegen, da sie keine militärische Verpflichtung hatten. In diesem Kontext wurden viele zu Partisaninnen. Frauen halfen, den Männern sich zu verstecken, dem Krieg zu entkommen und somit den Widerstandskampf überhaupt zu beginnen. Danach begannen die Frauen mit dem Aufbau eines logistischen Netzwerks, wie es für jeden Widerstand unerlässlich ist. Frauen schmuggelten Waffen, transportierten Mitteilungen und Nachrichten und trugen mit anderen Arten von Unterstützung dazu bei, dass ein Widerstandskampf überhaupt erst möglich wurde. Das Innovative ist aber, dass Frauen immer mehr Fähigkeiten erwarben und Verantwortung übernahmen. Viele von ihnen - laut Schätzungen 35.000 - wurden zu Partisanen-Kämpferinnen. Und mindestens 500 Frauen wurden Kommandantinnen einer Partisanenformation."
Archiv: Geschichte