9punkt - Die Debattenrundschau

Erklären, kontextualisieren, differenziert betrachten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2023. In der Jungle World blickt Steffen Klävers nochmal auf den "Historikerstreit 2.0" zurück. In der taz fragt der israelische Konfliktforscher Yuval Kremnitzer, ob ein "Conflict Management" nach dem 7. Oktober überhaupt noch denkbar ist. In der NZZ erinnert Boris Schumatsky an den  Antisemitismus in der Sowjetunion, dessen Traditionslinien bis in die Gegenwart reichen. Die taz erzählt, warum die iranische Aktivistin Masih Alinejad ein Gespräch im Auswärtigen Amt abbrach.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.12.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Es ist eine Sebstverständlichkeit, aber vielleicht nicht für Guardian-Leser oder #MeToo-Aktivistinnen: Vergewaltigungen sind Vergewaltigungen, auch wenn sie Israelinnen angetan werden, erinnert Gaby Hinsliff in eben diesem Guardian. Mit Abscheu schreibt sie über Relativierungen in sozialen Netzwerken, wo nach Beweisen gerufen wurde: "Für diejenigen, die mit der kognitiven Dissonanz nicht umgehen können, ist es am einfachsten zu entscheiden, dass es einfach nicht passiert ist. Die Überlebenden müssen Lügner sein, ebenso wie die Ersthelfer, die berichteten, halbnackte Leichen mit Verletzungen gefunden zu haben, die ich hier nicht beschreiben werde, und die Pathologen und Frauenrechtsaktivisten und Nachrichtenagenturen, die behaupten, Fotos gezeigt bekommen zu haben, und die Botschafter, die sagen, dass sie glauben, was sie von Leichenschauhausmitarbeitern gehört haben; Lügner, allesamt. Denn wenn sie es nicht sind, was bin ich dann?"

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel sind als Paar sowohl ExpertInnen für "antimuslimischen Rassismus" als auch für Antisemitismus. So klingt ihre aktuelle FAZ-Kolumne auch: "Die einen beklagen Antisemitismus und fehlende Empathie mit Juden, die anderen vermissen das Mitgefühl mit den Palästinensern und verurteilen eine antimuslimische Stimmung. Und alle haben auf eine Weise recht - und unrecht zugleich." Unter anderem kritisieren sie aber auch die Bestsellerautorin Deborah Feldman, die mit der Behauptung, ihre israelkritische Position werde ausgegrenzt, durch sämtliche Talkshows der Republik tingelt: "Was in dem Ruf 'free gaza from german guilt' zum Ausdruck kommt, bekommt durch Feldman den Koscher-Stempel."

Der Medienforscher Wolfgang Schulz, Inhaber des Unesco-Lehrstuhls für die Freiheit der Information und Kommunikation, fürchtet in der FAZ, dass in Deutschland eine Art proisraelischer Bekenntniszwang entsteht: "Ich persönlich bekenne mich jederzeit ohne Zögern zum Existenzrecht Israels und seinem Recht, sich zu verteidigen. Ich möchte aber nicht in einer Gesellschaft leben, in der von meinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen erwartet wird, dasselbe zu tun. Bekenntniszwang ist immer eine Zumutung."
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Ideen

Buch in der Debatte

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Der Historiker Steffen Klävers hat vor zwei Jahren die Studie "Decolonizing Auschwitz?" veröffentlicht und dürfte einer der besten Experten für Antisemitismus in der postkolonialen Schule sein. In der Jungle World bespricht er (leider nicht online) den von Jürgen Zimmerer herausgegebenen Band "Erinnerungskämpfe - Neues deutsches Geschichtsbewusstsein", in dem der "Historikerstreit 2.0" aus Sicht der postkolonialen Denkschule resümiert wird. Der Perlentaucher hatte bereits im Juni 2021 einen Überblick einige der wichtigsten Artikel der Debatte gegeben. Zimmerers Sammelband ist genau einen Monat vor dem Blutkarneval der Hamas erschienen und wiederholt die Positionen der postkolonialen Schule in heute obszön wirkender Unschuld. Auch Dirk Moses, eine der prominentesten Figuren der Schule schreibt, und Klävers deckt die Fehlstellen in dessen Artikel mit großer Nüchternheit auf: "Die Hamas oder der Islamische Jihad scheinen für Moses nicht zu existieren, jedenfalls findet sich in seinem Text kein Hinweis auf islamistischen Terror. Gleichzeitig relativiert er Antisemitismus unter Muslimen mit dem Hinweis, dass der Polizeistatistik zufolge der Antisemitismus in Deutschland zu 90 Prozent von rechts komme. Dass diese Zahlen bekanntermaßen seit Jahren hinsichtlich ihrer Aussagekraft kritisch diskutiert werden und es auch Studien mit anderen Zahlen gibt, ignoriert er ebenfalls. Das Thema muslimischer Antisemitismus kommt auch in den anderen Texten nicht vor, dafür wird sehr viel über 'Islamophobie' gesprochen."

Klävers' grundlegendes Buch "Decolonizing Auschwitz?" ist seinerzeit als Dissertation nur in einer unbezahlbaren Ausgabe erschienen und wurde von den Feuilletons so gut wie gar nicht wahrgenommen. Nun annonciert der Verlag aber eine Taschenbuchausgabe.

"Kann der zerstörte Status quo zu einem friedlichen 'Danach' führen", fragt der israelische Konfliktforscher Yuval Kremnitzer in einem kleinen taz-Essay. Die Idee des "conflict management" ging allerdings von der israelischen Linken aus, die einerseits von den Anschlägen besonders hart getroffen wurden (in den Kibbutzim lebten viele Anhänger der Friedensbewegung) und deren Ideen natürlich auch von den Hamas-Pogromen in krasser Weise dementiert wurden: "Während die Trauer noch in den Anfängen steckt, werden wir weltweit mit entsetzlichen Reaktionen konfrontiert - viele davon von selbsternannten Progressiven -, die von der Leugnung der an israelischen Zivilisten begangenen Gräueltaten bis hin zu deren Rechtfertigung reichen." Auch Kremnitzer kritisiert die "postkoloniale Unterstützung" für die Palästinenser, die "nicht nur Gewalt gegen Israelis und Juden weltweit, sondern auch die Ängste der Israelis und ihr Gefühl der Isolation befördert - was wiederum dazu führt, die Palästinenser einer unerbittlichen Gewalt und Wut von israelischer Seite auszusetzen". Und er fordert: "Sowohl aus moralischen als auch aus praktischen politischen Gründen kann die Unterstützung der Palästinenser nur mit einer absoluten Ablehnung der von der Hamas begangenen Gräueltaten einhergehen."

"Bilder und Zeiten", die virtuelle Print-Beilage der FAZ, übernimmt einen Aufsatz des Philosophen Raphael Zagury-Orly aus dem französischen Online-Forum Tenou'a. Auch er beklagt die kriminelle Naivität jener postkolonialen Aktivisten, die etwa den Artforum-Aufruf (unsere Resümees) unterschrieben und die vom Nahostkonflikt zumeist nicht die geringste Ahnung haben, wie Zagury-Orly in persönlichen Gesprächen herausfand. Das Irre am Postkolonialismus ist für ihn auch, dass er Israel, ein Staatenprojekt, das von Flüchtlingen gegründet wurde, zum Inbegriff de Kolonialismus macht: "Manche scheinen zu glauben, wir Israelis kämen aus allerlei Orten außerhalb Israels wie Polen, Algerien, Tunesien. Für wie groß halten sie die Wahrscheinlichkeit, dass wir jemals in eines dieser Länder emigrierten? Glauben sie wirklich, wir 'gehörten' zu diesen Ländern? Dass die Dinge so einfach wären? Dass Polen, Algerien und all die Länder, die als Durchgangsstationen für Juden dienten, uns als ihresgleichen wahrnehmen? Als echte Mitglieder der Gesellschaft?"

Der Schauspieler und Autor Edgar Selge denkt in der SZ über das Schweigen in Deutschland nach, das von den Eltern an die Kinder weitergegeben worden sei: "Die Geschichte meiner Eltern ist von ihren Fehlentscheidungen während der Nazizeit und dem anschließenden Schweigen darüber geprägt. Allerdings schließt meine Liebe zu ihnen dieses Schweigen mit ein, das sie an mich weitergegeben haben. Ich habe dabei lange etwas verwechselt: Sie waren nicht unfähig zu trauern, sondern sie waren unfähig, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, und dadurch war die Trauer in ihnen selbst nicht als humane, tröstliche Form vorhanden, sondern als ein selbstzerstörerischer, bitterer Schmerz."
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Medien

Viele Bilder, die wir aus dem Gaza-Streifen sehen, stammen vom katarischen Sender Al Jazeera. Aber Katar ist auch Unterstützer der Hamas, und das ist spürbar, schreibt  Mohamed Amjahid in der taz: "Al Jazeera ist pro-palästinensisch, oft gegen die alten Regime im Nahen Osten und Nordafrika gerichtet, die teilweise eng mit dem Westen kooperieren wie beim Thema Abwehr von Flüchtenden. Der Sender zeigt sich kritisch gegenüber Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, reiche Länder, zu denen Katar in direkter, teils feindseliger Konkurrenz steht. Bei Al Jazeera sucht man vergeblich Berichte zur Rolle des Emirats in der Welt oder zu seiner politischen Nähe zur Hamas."

In der SZ denkt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp darüber nach, was die Hamas und andere Terroristen mit den Bildern von ihren brutalen Attacken erreichen wollen. Die Strategie dahinter, erklärt er, "folgt dem 2006 von Abu Bakr Naji veröffentlichten Manifest 'Die Organisation der Barbarei'. Der al-Qaida-Führer Mohammad Hasan Khalil al-Hakim, der sich wohl hinter dem Pseudonym verbarg, gab darin das Ziel aus, nicht etwa Werbung für die eigene Seite zu machen, sondern eine weltweite Fassungslosigkeit bei den Gegnern und Widersachern zu erzeugen" und den "hypostasierten Feind erstarren zu lassen. Nach dem Modell des Blickes der Medusa ist, was die Hamas produziert, ein versteinernder, petrifizierender Bildakt. Es gibt keine Gegenwehr außer dem Gebot, das Ansehen der Bilder des Terrors unter Strafe zu stellen. Im Fall von Kinderpornografie ist dies der Fall. Umso mehr muss dies für Morde, Vergewaltigungen und Geiselnahmen gelten, deren Zweck darin liegt, gesehen zu werden. Das Ansehen dieser Bilder ist Komplizenschaft."
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Politik

Die iranische Frauenaktivistin Masih Alinejad war in Deutschland unterwegs, um Unterstützung für die iranische Frauenbewegung einzuwerben. Im Auswärtigen Amt traf sie die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, und verließ das Treffen, weil diese darauf beharrte, das Treffen geheimzuhalten, berichtet Tanja Tricarico in der taz. Sie stehe für Transparenz, sagt Alinejad, während Amtsberg darauf beharrt, dass Vertraulichkeit vereinbart worden sei. Alinejad "bezeichnete es als Ironie, wenn die deutsche Regierung, mit ihrem Ansatz der feministischen Außenpolitik, sich mit Feminist:innen nur im Geheimen treffen wolle. 'Die deutsche Regierung hilft der Islamischen Republik, Dissidenten zum Schweigen zu bringen. Ich weigere mich, dieses Spiel mitzuspielen.' Auch in der Vergangenheit hatten Politiker:innen, unter anderem in den USA, Alinejad aufgefordert, sich im Geheimen zu treffen. Laut der Aktivistin wäre es ihr aber gelungen, die Vertreter:innen dort zu überzeugen, dass Menschenrechte so wichtig sind, dass sie öffentlich diskutiert werden müssen."

In der FR macht Susan Neiman den "Hamas-Unterstützer" Benjamin Netanjahu für den 7. Oktober mitverantwortlich und fordert: "Deutschland ist Israels zweitwichtigster Partner. Vor dem Hintergrund seiner Nazi-Vergangenheit wäre eine deutsche Forderung nach einer politischen Lösung die einzig richtige."
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Europa

Der deutsch-russisch-jüdische Autor Boris Schumatsky erzählt in der NZZ, wie Antisemitismus in der Sowjetunion funktionierte, auch ganz praktisch: "In unseren sowjetischen Ausweisen stand nämlich, welcher Ethnie wir angehörten, ob wir Ukrainer, Tschetschenen oder ganz normale Russen waren, und der Eintrag 'Jude' war einer der schlimmsten. Mein Vater konnte mir das bestätigen, er trug seinen 'Juden' überall mit sich herum, in seiner Geburtsurkunde, in meiner, denn in den Geburtsurkunden der Kinder stand die 'nationalnost' der Eltern. Vater musste es in seinen Bewerbungen angeben, für Studienplätze, für Jobs, für Auslandsreisen. Fast alle wurden abgelehnt." Schumatsky spricht auch einen anderen "Kontext" des 7. Oktober an, der es den Hamas-Mördern so leicht machte, ihre Videos von ihren Tagen zu veröffentlichen. "Die Terroristen wissen: Es gibt keine Brutalität, die ihre Unterstützer und Versteher nicht erklären, kontextualisieren, differenziert betrachten können."
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