9punkt - Die Debattenrundschau

Schützengrabenkerzen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2024. In der Welt fragt Henryk Broder die Kontextualisierer: "Wie viele deutsche Menschen dürfte ein jüdisches Waisenkind umbringen, dessen Eltern oder Großeltern in einem deutschen Lager ermordet wurden?" In der FAZ erzählt der russische Schriftsteller Igor Saweljew, wie schon Schulkinder in die Kriegspropaganda eingespannt werden. Der Rücktritt der Harvard-Präsidentin Claudine Gay beschäftigt die Medien immer noch: Plagiat ist Plagiat, insistiert The Atlantic. Postkolonialismus ist differenziert, nur in den sozialen Medien nicht, beteuert der Postkolonialist Aram Ziai in der FR. Der Buchreport ist pleite, teilt er in seiner letzten Meldung mit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.01.2024 finden Sie hier

Kulturmarkt

Zwei Insolvenzen senden ungute Zeichen in den Buchmarkt zu Beginn des Jahres. Der Harenberg-Verlag, einst ein stolzes Haus, hat Insolvenz angemeldet. Dem Haus gehört auch der Buchreport, das wichtigste Branchenblatt neben dem vom Börsenverein betriebenen Börsenblatt. Und der Buchreport meldet in eigener Sache: "Eine Gesamtlösung für den Verlag im Rahmen einer übertragenden Sanierung konnte bislang nicht erzielt werden. Der Geschäftsbetrieb in Redaktion und Verlag musste daher zum Jahresende 2023 eingestellt werden. Den Mitarbeitern muss nun gekündigt werden. Rechtsanwalt Conrads sagt: 'Eine Fortführung des Betriebs ist aufgrund der finanziellen Lage nicht möglich.' Der Dienstleistungsvertrag mit dem Spiegel zur Vermarktung der Spiegel-Bestsellerliste kann nicht erfüllt werden. Mit dem gerade erschienenen buchreport-Sonderheft zu den Jahresbestsellern 2023 verabschiedet sich Harenberg damit aus der Veröffentlichung der renommierten Publikation." Auch die legendäre Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg) hat Insolvenz angemeldet. Teile des Hauses werden jetzt von Herder übernommen, meldet das Börsenblatt.

Im Buchreport bleibt Lena Scherer und Thomas Wilking nur mehr übrig, "danke für Ihr Interesse und Ihre Wertschätzung" zu sagen. Gemeldet wird noch, dass die Spiegel-Bestsellerliste künftig von der dritten Branchenzeitschrift Buchmarkt betreut wird, mehr im Buchmarkt selbst.
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Buchmarkt

Politik

In der Welt antwortet Henryk M. Broder zornig auf den ägyptisch-australischen Soziologen Amro Ali, der bei Spon dem Konflikt mit Israel die Schuld am Autoritarismus der arabischen Staaten gegeben hatte (Unser Resümee) und die Hamas als Vertretung traumatisierter junger Menschen dargestellt hatte: "'Die Hamas rekrutiert viele ihrer Mitglieder unter Waisenkindern, die mitansehen mussten, wie ihre Eltern von Israel getötet wurden. Die palästinensischen Terroristen der Organisation 'Schwarzer September', die 1972 das Massaker an israelischen Sportlern bei den Olympischen Spielen in München verübten, waren Waisen früherer israelischer Kriege. Jetzt schafft Israel eine neue Generation von Waisenkindern' - und übernimmt die Verantwortung nicht nur für das Blutbad am 7. Oktober, sondern für alle kommenden Blutbäder, in Gaza, in Israel und überall dort, wo Juden leben. Es sind Worte, die einen erschauern lassen, die heute schon die Massaker von morgen rechtfertigen, begangen von verzweifelten Waisenkindern, die sich anders nicht zu helfen wissen, nicht einmal dann, wenn sie in Doha, Dubai oder Istanbul in Luxusresorts leben und aus sicherer Distanz die Strippen in Gaza ziehen. Die Idee verdient es, zu Ende gedacht zu werden. Wie viele deutsche Menschen dürfte ein jüdisches Waisenkind umbringen, dessen Eltern oder Großeltern in einem deutschen Lager ermordet wurden?"

Sowohl die Nakba als auch der aktuelle Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza würden in Deutschland und der Schweiz ausgeblendet, dies führe zu einer fortwirkenden Traumatisierung innerhalb der palästinensischen Diaspora, meint die Kulturwissenschaftlerin Sarah El-Bubeisi in der NZZ: "Aufgrund der Rechtfertigung des Vernichtungskriegs gegen die Zivilbevölkerung in Gaza als Selbstverteidigungskrieg gegen die Hamas und der gleichzeitigen Nicht-Kontextualisierung des Angriffs der Hamas in der europäischen Öffentlichkeit beschäftigen sich viele Palästinenser nicht mit der Frage, inwiefern die Hamas mit dem schockierenden Ausmaß der Gewalt seitens Israels in Gaza gerechnet, dieses bewusst in Kauf genommen hatte und dadurch eine mögliche Mitverantwortung trägt. Die moralische und militärische Unterstützung der israelischen Offensive, die unreflektierte Übernahme des israelischen Narrativs der Selbstverteidigung angesichts des Ausmaßes der Not der Menschen in Gaza, aber auch die Abwesenheit eines Willens, diese Not durch politischen Druck zu lindern, hat viele Palästinenser zutiefst von Deutschland und der Schweiz entfremdet."

Der Iran hat natürlich zuerst Israel angeschwärzt, aber das wollte der Islamische Staat nicht auf sich beruhen lassen und hat sich zu dem Attentat im iranischen Kerman bekannt, das 84 Menschenleben kostete. Friederike Böge stellt in der FAZ den Kontext her: "Die Terrormiliz hat zweifellos ein Motiv, Iran anzugreifen und dafür die Trauerfeier zum vierten Todestag des früheren Quds-Kommandeurs Qassem Soleimani auszuwählen. Soleimani ist für den IS eine noch bedeutendere Hassfigur als Revolutionsführer Khamenei. Unter Soleimanis Führung hatten die iranischen Quds-Brigaden und proiranische Schiiten-Milizen einen großen Anteil an der Eindämmung der Terrormiliz im Irak und in Syrien. Unter Schiiten in den Ländern verhalf ihm das zu einem Heldenstatus. In der Hochphase des IS betrachtete Iran die Terrormiliz als existenzielle Bedrohung."
Archiv: Politik

Europa

Die ukrainische Bevölkerung zerfällt inzwischen in drei Teile, einen apathischen, einen kriegsmüden, der auf Waffenstillstand entlang der Frontlinie drängt, und einen, der durchhalten will, bis die Grenzen von 1991 wiederhergestellt sind, konstatieren in der Welt der russische Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw L. Inosemzew und der ukrainische Politologe Mykola Vorobyov. Sie halten die Kriegsmüdigkeit für "sehr viel gefährlicher für das Land als Korruption, Missmanagement und die ausbleibende Hilfe aus dem Westen zusammengenommen". Daher fordern sie, dem ukrainischen Volk nicht länger vorzutäuschen, "der Krieg könne schon bald oder sogar 'im nächsten Jahr' gewonnen werden. Genau das war allerdings lange Zeit die Taktik des Präsidenten. (...) Man sollte also nicht nur die Wahrheit sagen, sondern die Regierung außerdem noch umbilden, mit einem Kriegskabinett, in dem sehr viel mehr erfahrene Militärkommandeure vertreten sind, und zwar solche, die nie mit Russland zusammenarbeiten würden. Die westlichen Verbündeten müssen diese Veränderung unterstützen, statt kluge Ratschläge zu erteilen, wie man eine Präsidentschaftswahl während des Krieges zu führen hat. Zudem sollten die Korruptionsprobleme der Ukraine als zweitrangig angesehen werden, solange sie die Versorgung der Truppen nicht maßgeblich beeinträchtigen. Die Unterstützung aus dem Westen sollte erheblich umfangreicher und eingefrorene russische Konten so bald als möglich zur Finanzierung der Kriegsausgaben verwendet werden."

Dass der Krieg für Putin eine ideologische Herzensangelegenheit ist, zeigt der Artikel des russischen Schriftstellers Igor Saweljew in der heutigen FAZ. Er erzählt, wie Schulkinder für die Propaganda eingespannt werden: "Viele Schulen halten die Kinder dazu an, Blech- und Glasgefäße mitzubringen, um im Werkunterricht 'Schützengrabenkerzen' herzustellen und sie an die Front zu schicken. Schulkinder stricken Fäustlinge und warme Socken für Soldaten oder weben Tarnnetze. Ich weiß nicht, ob diese Dinge wirklich an die Front geliefert werden, sie haben vor allem einen erzieherischen und propagandistischen Wert - in der Provinz berichten Medien begeistert über solche Aktionen."

Bülent Mumay setzt in seiner FAZ-Kolumne seine Chronik des türkischen Niedergangs fort. Immer mehr Studenten haben kaum noch angemessene Berufsaussichten: "Angesichts dieses Tableaus verlassen zahlreiche junge Leute die Hochschulen, an denen sie eh unter etlichen Schwierigkeiten studieren, und bemühen sich um Jobs für geringer Qualifizierte. Und wem spielt es in die Karten, wenn Hochqualifizierte weniger verdienen und das Interesse am Studium abnimmt? Natürlich dem Palastregime. Als Beleg dafür lassen Sie mich anführen, was ein AKP-Minister einmal in dieser Angelegenheit sagte: 'Bei steigender Bildung verringern sich die Stimmen für die AKP.'"
Archiv: Europa

Gesellschaft

Der Rücktritt der Harvard-Präsidentin Claudine Gay beschäftigt die Medien immer noch. Gay ist zurückgetreten, nachdem sie sich in einer Kongress-Befragung kaum von Antisemitismus an ihrer Uni distanzieren wollte und außerdem in ihren Schriften erhebliche Plagiate festgestellt wurden. In Wirklichkeit betrifft der Skandal um Gay nicht einfach eine Harvard-Präsidentin und ihr Plagiat, meint der Ökologe Tyler Austin Harper in Atlantic. "Der wahre Skandal ist, dass so viele Journalisten und Akademiker bereit waren und immer noch bereit sind, Plagiate so umzudefinieren, dass sie ihrer Agenda entsprechen. Gays Befürworter haben immer wieder auf Orwellschen Doppelsprech zurückgegriffen - es habe 'Unklarheiten', akademische 'Schlamperei' und 'technische Zuordnungsprobleme' gegeben - in dem verzweifelten Bemühen, die Übernahme ganzer Absätze aus der Arbeit eines anderen Wissenschaftlers, fast wortwörtlich, ohne Zitat oder Anführung, nicht als ein Plagiat dastehen zu lassen."

Dass der Skandal von dem konservativen Aktivisten Christopher Rufo und der trumpistischen Politikerin Elise Stefanik ausgelöst wurde, ändert nichts daran, dass die Äußerungen der Unipräsidentinnen vor dem amerikanischen Kongress problematisch waren, meint Sofia Dreisbach in der FAZ. Der Fall sei in mehrerer Hinsicht fatal: "Er ist fatal, weil jüdische Studenten sich damit noch mehr als ohnehin von Universitätsleitungen und Professoren verlassen fühlen. Er ist fatal, weil die drei Frauen, anstatt Mitgefühl, gesunden Menschenverstand und Rückgrat zu zeigen, verklausulierte, vermeintlich juristisch korrekte Antworten gaben. Und der Fall ist fatal, weil er das ohnehin vergiftete gesellschaftliche Klima noch weiter zersetzt."

Unsere Landschaften sind Kulturlandschaften und darum auch anfällig für Überschwemmungen wie in den letzten Tagen, sagt der Umweltwissenschaftler Mathias Scholz im Gespräch mit Eiken Bruhn von der taz. Das gilt aber teilweise seit Jahrhunderten, denn Flussauen sind extrem fruchtbar und wurden früh kultiviert. Einfach die Deiche an den Flüssen zurückverlegen, wäre nicht möglich: "Dann würden wir die meisten Großstädte in Deutschland unter Wasser setzen, weil fast alle an großen Flüssen liegen und sich in Auen entwickelt haben, auch die Metropolen Köln, Frankfurt, München, Berlin. Hochwasserschutz ist eine Kulturleistung, um überhaupt in diesen Räumen siedeln zu können. Es geht ja nicht darum, wieder auf einen Urzustand zurückzukommen. Stattdessen müssen wir dort, wo es Potenziale gibt, Deiche zurückverlegen oder den Fluss wieder an die normalen Talränder mäandrieren lassen. Zum Teil sind solche Flussauen zehn oder zwanzig Kilometer breit."

Buch in der Debatte

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Der Politologe Armin Pfahl-Traughber liest bei hpd.de eine unter anderem von Andreas Zick herausgegebene Studie über Rechtsextremismus in Deutschland, in der er auf ein verblüffendes Detailergebnis stößt: "Danach ist bei Personen ein manifest rechtsextremes Weltbild zu 12,2 Prozent vorhanden, welche sich politisch selbst als 'links' verorteten (während es bei "eher links" nur 3,3 Prozent ausmacht, vgl. S. 72). Hier besteht für die Deutung offenkundig ein Problem, das von den Autoren nicht gelöst oder auch thematisiert wird. Möglicherweise gibt es dafür keine überzeugende Erklärung, gleichwohl sollten solche Gesichtspunkte schon für die Leser angesprochen werden."
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Ideen

Rainer Bieling greift bei literaturkritik.de nochmal die Debatte um Masha Gessen (unsere Resümees) auf. In der Argumentation der in der späten Sowjetunion aufgewachsenen Autorin erkennt er die Muster des klassischen Antizionismus betonsozialistischer Prägung wieder: "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands meinte nicht nur die erzwungene Gleichschaltung der ostdeutschen Sozialdemokraten, sondern auch die Selbstgleichschaltung der aus dem Exil in die SBZ/DDR zurückgekehrten jüdisch-kommunistischen Emigranten, die sich (mehrheitlich) gegen Israel positionierten und für den Befreiungskampf des palästinensischen Volkes engagierten. Es ist diese Ideologie, mit der Eltern und Lehrer des damals noch in Staatsgestalt real existierenden Sozialismus die Teenager in der DDR und in der UdSSR gleichermaßen indoktrinierten und instrumentalisierten."

Die postkolonialen Studien sind weitaus differenzierter als angenommen, beteuert in der FR Aram Ziai, der in Kassel Postkoloniale Studien lehrt und die Kritik an seinem Fachgebiet vor allem auf den "Vulgärpostkolonialisms" in den sozialen Medien schiebt. Stattdessen gelte es, von den Ambivalenzen, auf die der Postkolonialismus aufmerksam mache, zu lernen: "Dann können wir anerkennen, dass Israel sowohl die Zuflucht von Holocaust-Überlebenden und verfolgten Menschen jüdischen Glaubens als auch ein siedlungskoloniales Projekt des Zionismus ist, das zunehmend offen die Vertreibung palästinensischer Menschen und somit eine ethnische Säuberung verfolgt. Dass die Hamas gegen eine völkerrechtswidrige Besatzungssituation kämpft, aber das Massaker vom 7. Oktober ein genozidaler Akt war. Dass verschiedene Rechtsnormen für palästinensische und jüdische Menschen vor allem im Westjordanland den Tatbestand der Apartheid erfüllen, auch wenn palästinensische Menschen mit israelischem Pass innerhalb des Staatsgebiets annähernd (nicht vollständig) gleiche Rechte genießen und ihre Situation somit ganz anders ist als die der Schwarzen im Südafrika unter dem Apartheid-Regime."
Archiv: Ideen

Kulturpolitik

"Mehr als eine Million Käufe im Wert von mehr als 21 Millionen Euro wurden mit dem Kulturpass-Budget von 200 Euro pro Person getätigt - fast 650.000 Bücher, 260 000 Kinokarten, mehr als 110.000 Tickets für Konzerte und Theateraufführungen gekauft", weiß Kathleen Hildebrand in der SZ - und doch ist die Zukunft des Kulturpasses angesichts der unklaren Haushaltslage unsicher: "Beim Erhalt des Kulturpasses helfen könnten natürlich private Sponsoren. Der französische 'pass culture', den es bereits seit 2019 gibt, wird zu 80 Prozent aus Spenden von Unternehmen getragen. Die französischen Jugendlichen können dabei von ihrem 15. Geburtstag an gestaffelt auf ein Kulturpass-Budget von insgesamt 500 Euro pro Person zugreifen. So etwas wünscht sich Claudia Roth nun auch für Deutschland: 'Ich appelliere an die Digital- und Kulturwirtschaft, aber auch an alle Unternehmen und die philanthropischen Stiftungen in Deutschland: Engagieren Sie sich mit uns gemeinsam.'"
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Kulturpass, Roth, Claudia