9punkt - Die Debattenrundschau

Denkt komplex, nicht in einem Narrativ

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2024. In der FAZ betrachtet der Historiker Stephan Malinowski eine Urszene des Postkolonialismus: die Verteidigung des Nazi-Schlächters Klaus Barbie durch den linken französischen Anwalt Jacques Vergès: auch damals schon tobte die Manie des Vergleichs, stellt er fest. In der FR demonstriert Naomi Klein in der Spur Masha Gessens, wie das geht. Leander Scholz fürchtet in der NZZ, dass die von den "psychotischen Assassinen" in die Welt gesetzten Snuff Movies des 7. Oktober einen globalen Bürgerkrieg auslösen können. Einen Trost gibt es: Russland ist schwächer als es scheint, konstatieren taz und NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.01.2024 finden Sie hier

Ideen

Mit Staunen muss die interessierte Öffentlichkeit angesichts jüngster Debatten nachvollziehen, welche Macht das "postkoloniale" Narrativ über Institutionen wie Universitäten und in der Politik längst entfaltet hat. Der Historiker Stephan Malinowski, bekannt geworden durch seine Forschungen über die Rolle der Hohenzollern, beschäftigt sich schon seit langem mit dem Thema und hat schon im Jahr 2007 eine wichtige Antwort auf postkoloniale Holocaustrelativierer wie A. Dirk Moses geschrieben (mehr hier). Heute kommt Malinowski in der FAZ auf eine Urszene des Postkolonialismus zurück: die Verteidigung des Gestapo-Chefs von Lyon, Klaus Barbie, in dem berühmten Lyoner Prozess von 1987. Anwalt war damals die linke Ikone Jacques Vergès, der in den fünfziger Jahren durch seine Vertretung von FLN-Bombenlegerinnen berühmt geworden war. Er verteidigte Barbie in einem internationalen Team, zu dem auch der kongolesische Anwalt Jean-Martin Mbemba gehörte. Die Manie der zuletzt von Masha Gessen lustvoll zelebrierten Vergleiche trat schon hier - übrigens zeitgleich mit dem ersten Historikerstreit - zutage: "Das 'in den Farben des menschlichen Regenbogens' leuchtende Anwaltsteam, wie es sich selbst bezeichnet, kommentiert im Saal die Ermordung von vierundvierzig jüdischen Waisenkindern, die 1944 aus der Nähe von Lyon nach Auschwitz deportiert worden waren, mit dem Hinweis, dass in den palästinensischen Flüchtlingslagern im libanesischen Sabra und Schatila unter Verantwortung der israelischen Armee 1982 ungleich mehr Menschen ermordet worden seien. Ein 'israelisches Babyn Jar' habe sich in diesen Lagern abgespielt."

Immer wieder empfehlenswert ist Barbet Schroeders Dokumentarfilm "L'avocat de la terreur" über die böse schillernde Figur des Jacques Vergès. Hier der Trailer:



Wie eine Illustration zu Malinowskis Beobachtung liest sich der groteske Geschichtscocktail, den die eigentlich als Globalisierungskritikerin bekannt gewordene Naomi Klein im FR-Gespräch mit Hanno Hauenstein anrichtet. "Die Leitfrage, die in der Luft liegt, lautet, ob wir den europäischen Faschismus als radikalen Bruch verstehen oder als Kontinuität. Also entweder als Bruch, der eine Art ursprüngliche Unschuld wiederherstellt. Oder eben als etwas, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des europäischen Kolonialismus zieht. Etwas, das sich bis zur Geburt der modernen Welt zurückverfolgen lässt, zur Inquisition, den Kreuzzügen, zum Ringen um Afrika, zum transatlantischen Handel mit versklavten Menschen. Eine Kontinuität, die in Form des Holocausts gewissermaßen nach Europa zurückkehrte." Die Gleichsetzung von Israelis mit Nazis gehört für Naomi Klein darum zum selbstverständlichen Handwerkszeug solcher Geschichtsschreibung: "Für Hannah Arendt war es in den 1950er Jahren normal zu sagen, dass israelische Politiker sich wie Faschisten verhalten. Wenn Masha Gessen 2023 etwas Ähnliches sagt, heben Leute den Zeigefinger und sagen: 'Wie können Sie es wagen?'"

Der 7. Oktober bedeutet eine Globalisierung des Nahostkonflikts, der sich in den migrantischen Diasporas in den westlichen Ländern fortpflanzen könnte, meint der Autor Leander Scholz unter dem Titel "Der kommende Bürgerkrieg " in der NZZ: "Im globalen Strom der Affekte besteht die Macht der Terroristen nicht allein in ihrer militärischen Stärke, in ihren Raketen des Hasses, die längst ganze Städte ausgelöscht hätten, wäre Israel technologisch nicht so deutlich überlegen. Viel weiter als diese Geschosse, die meistens noch vor ihrer Explosion abgefangen werden können, reicht die Infektion der Vorstellungswelt mit den Bildern psychotischer Assassinen, die unter Drogen und wie im Wahn vergewaltigen, foltern und töten. Die dadurch in Umlauf gebrachte Menge an Hass und Angst hat das Potenzial zu einem globalen Bürgerkrieg drastisch gesteigert."

Susannah Heschel
lehrt am Dartmouth College in New Hampshire und und nimmt für sich in Anspruch, die postkoloniale Theorie in die Judaistik eingeführt zu haben. Im Gespräch mit Ulrich Gutmair von der taz stellt sie allerdings Forderungen auf, die im krassen Gegensatz zu den meisten Lehren der Postkolonialisten stehen: "Denkt komplex, nicht in einem Narrativ. Sucht nicht nach dem Schurken. Nur Kinder brauchen das - hier die Märchenfee, dort die böse Hexe. Wir müssen stattdessen darüber nachdenken, wie wir denken." Sie erinnert an die vielen deutsch-jüdischen Orientalisten, die die Wissenschaft im 19. Jahrhundert mit begründeten: "In Deutschland schauten sie vor allem auf Kant. Sie verfochten die Idee, dass Menschsein etwas Universelles ist. Unser Problem ist, dass wir die Ideen der Aufklärung verworfen haben. Heute sagen Leute, Vergewaltigung als Kriegswaffe ist schrecklich, aber wenn die Hamas Jüdinnen vergewaltigt, ist das okay. Wenn so argumentiert wird, gibt es keine universellen Menschenrechte mehr."

So sieht es der aus Togo stammende, heute in Deutschland lehrende Germanist Messan Tossa gerade nicht. Er forscht über das Phänomen des "Hofmohren". Und er fordert im Gespräch mit Susanne Memarnia von der taz eine kritische Auseinandersetzung mit Kant. "Ich war schockiert, dass uns nicht beigebracht worden war, was zum Beispiel Kant über Schwarze geschrieben hat: dass die 'Race' der Weißen angeblich die 'größte Vollkommenheit' hat und die Schwarzen 'weit tiefer' stünden. Dieses Denken zu analysieren ist, glaube ich, eine wichtige Arbeit, die man angehen muss, wenn man die Grundlagen des heutigen Rassismus verstehen muss. Ich habe drei Söhne und finde es hochdringend, dass ich ihnen erklären kann, warum diese oder jene Leute dieses oder jenes über sie denken."

Auf Seite 1 der FAZ gibt Jürgen Kaube den Bankrott der "intellektuellen und ästhetischen Linken" bekannt, die sich in der Figur des von den Israelis verfolgten Palästinensers einen Ersatz für das Proletariat geschaffen habe. Nach einigen Millionen Toten hatte sie einsehen müssen, dass dieses Proletariat die in es gesetzten messianischen Hoffnungen nicht erfüllte. So werden nun die Palästinenser "zu Opfern des Kapitalismus, des Kolonialismus, der Amerikaner und Israels stilisiert. Das ganze Unheil der Welt konzentriert sich in ihrem Schicksal. Ihr Leid ist maßlos, und weil der Maßstab des Maßlosen der Holocaust ist, muss alles darangesetzt werden, einen Genozid an den Palästinensern für wahrscheinlich, für kurz bevorstehend und jedenfalls beabsichtigt zu erklären. Entsprechend erscheinen die Palästinenser selbst als völlig unschuldig an ihrer Lage."
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Politik

Seit Israel - äh, die Hamas - vor drei Monaten den Krieg angefangen hat, schweigt die deutsche Politik zur israelischen Kriegsführung, trotz der vielen toten palästinensischen Kinder, kritisiert Daniel Bax in der taz: "Hier empört man sich eher über Greta und Masha Gessen als über den Krieg in Gaza. Denn viele Journalistinnen und Journalisten hierzulande verstehen sich vor allem als Hüter der Staatsraison. Sie sind mehr damit beschäftigt, abweichende Meinungen zu verurteilen, als den deutschen Schulterschluss mit Israel zu hinterfragen."
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Stichwörter: Hamas, Gessen, Masha

Urheberrecht

Detlef Diederichsen blickt in der taz mit Sorge darauf, dass die Broadcasting Music Inc. (BMI) - quasi das Pendant zur deutschen Gema - vom Hedgefonds New Mountain geschluckt wurde und künftig nicht nur Geld eintreiben und ausschütten, sondern selbst profitabel werden soll - zu Lasten der Musiker, die jetzt schon höhere Bearbeitungsgebühren von ihren Tantiemen abdrücken müssen. "New Mountain stemmt den Deal allerdings nicht alleine, sondern im Verbund mit anderen Investoren. Darunter befindet sich auch CapitalG, eine Venture-Capital-Tochterfirma der Google-Mutter Alphabet. 'Nach zwanzig Jahren des Kampfes gegen den größten Copyrightverletzer der Geschichte hat BMI ihn jetzt zum Familienmitglied gemacht', kommentierte der Blogger Chris Castle im 'MTP - Music Technology Policy Blog'. Und in Bezug auf ein Pressefoto, das die BMI- und die New-Mountain-Geschäftsführung in fröhlicher Verbundenheit zeigt, fügt er hinzu: 'All diese lächelnden Menschen haben einen Grund für ihr Lächeln. Es geht ihnen nicht um Songs, Songwriter*innen oder Künstler*innenbeziehungen. Es geht ihnen um Data, Tech und all die haarsträubenden Vorstellungen, wie das Musikgeschäft in ihrem Utopia funktionieren sollte.'"
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Kulturpolitik

Die neuen Förderrichtlinien für Kultur in Berlin beinhalten seit Anfang des Jahres eine "Klausel gegen Diskriminierung und Antisemitismus", berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. Schaper ist besorgt, dass damit der "Kulturbetrieb unter Generalverdacht" gestellt wird. Und Katrin Budde (SPD), Vorsitzende des Kulturausschusses im Bundestag, fürchtet um den Kulturaustausch, erklärt er. "Man müsse sich auf die Probleme einlassen, 'damit am Ende nicht ein Abbruch von internationalen Kulturbeziehungen droht für Goethe Institut, Humboldt Forum, Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder Kulturstiftung des Bundes.' Man dürfe diese 'klassischen Institutionen wirklich keines Antisemitismus verdächtigen, die aber sagen: Zusammenarbeit muss machbar sein.' Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste Berlin, spricht sich gegen 'Gesinnungsprüfungen' aus und verteidigt die Entscheidungsfreiheit der Einrichtungen." Freude, dass damit Antisemitismus nicht mehr mit öffentlichen Mitteln gefördert werden kann, scheint in dem Artikel nicht auf. Inzwischen protestieren auch "Hunderte Kulturschaffende" in einem Offenen Brief gegen die Regelung, berichtet monopol. Ihnen stößt besonders auf, dass sich die Regelung auf die Antisemitismus-Definition der IHRA bezieht, die auch israelbezogenen Antisemitismus einschließt.
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Europa

Jetzt den Ukrainekrieg "einfrieren", wie manche fordern, wäre eine Kapitulation vor einem Scheinriesen, meint Dominic Johnson in der taz - denn Russland ist nicht so stark, wie es scheint: "Konnte Moskau zu Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs noch jeweils in kürzester Zeit fünf Millionen Mann gegen Deutschland mobilisieren, tut es sich heute schwer damit, auch nur seine aktuelle Truppenstärke von 340.000 Mann in der Ukraine aufrechtzuerhalten. Heute ist Russland der Angreifer, nicht der Angegriffene, eine Generalmobilisierung ist vor den Wahlen ausgeschlossen. In verlustreichen Offensiven verpulvert die russische Armee ihre Reserven für die Eroberung von gerade mal einer mittelgroßen ukrainischen Stadt pro Jahr - letztes Jahr Bachmut, dieses Jahr vielleicht Awdijiwka. Russland verfeuerte in der ersten Woche dieses Jahres so viele Raketen, wie es im Monat produziert. Das ist nicht lange durchzuhalten, es ist ein kurzlebiges Putin-Wahlkampffeuerwerk."

Ähnlich klingt die mit viel Karten aufgemachte Analyse von Andreas Rüesch, Adina Renner, Simon Huwiler in der NZZ: "Der Donbass nimmt in Moskaus Kriegsplänen eine zentrale Stellung ein. Um dereinst einen 'Sieg' ausrufen zu können, muss Präsident Putin sein Minimalziel erreichen, die vollständige Eroberung der beiden Donbass-Provinzen Luhansk und Donezk. Auf diesem Weg ist der Kreml während eines ganzen Jahres kaum weitergekommen. Noch immer kontrollieren die Truppen Kiews etwa 22 Prozent des Donbass."

Bei den Drohnen- und Raketenangriffe des Jahreswechsel sind in der Ukraine allerdings über sechzig Menschen ums Leben gekommen, ergänzt Anastasia Magazowa in der taz: "Die Ukrainer sind überzeugt, dass solche Angriffe Russland keinen militärischen Vorteil bringen, da sie vor allem Zivilisten und zivile Infrastruktur treffen. Vielmehr würden solche Angriffe darauf abzielen, die Moral der Ukrainer vor dem Hintergrund einer kriegsmüden Armee, Wirtschaft und Gesellschaft zu brechen. Die wird durch die schwindende Unterstützung der westlichen Partner noch verstärkt."

Ganz nebenbei und vom Westen fast unbemerkt schafft Putin neue Oligarchen, indem er Aktiva westlicher Firmen, die aus Russland weggegangen sind, etwa an Neffen des tschetschenischen Herrschers Ramsan Kadyrow und ähnlich qualifiziertes Personal verteilt, erzählt die emigrierte russische Bänkerin Alexandra Prokopenko im Interview mit Katharina Wagner auf den Wirtschaftsseiten der FAZ: "Putin weiß genau, dass die alten Oligarchen ihren Reichtum in den Neunzigerjahren aufgebaut haben, also vor seiner Zeit an der Macht. Manche von ihnen haben das auch in Interviews angedeutet. Putin braucht aber eine Basis aus reichen Leuten, die sich ihm persönlich verpflichtet fühlen. Deshalb belohnt er jetzt Leute, die bisher völlig unbedeutend waren, mit Aktiva. So werden diese Leute plötzlich reich, und Putin ist der Garant ihres neuen Status. Denn ohne Putin kann dieser gesamte Besitz wieder weg sein, da sie ihn nicht auf korrektem Wege erhalten haben."
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Stichwörter: Donezk