9punkt - Die Debattenrundschau

Der sogenannte Binnenkonsens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2024. Die SZ denkt nach den neuesten Enthüllungen nochmal über ein AfD-Verbot nach. Wie antisemitisch müssen Feministinnen sein, die die Verbrechen der Hamas an Israelinnen leugnen, fragt Deborah Lipstadt im Guardian. Ein Bekenntnis gegen Antisemitismus, wie es in der Berliner Antidiskriminierungsklausel gefordert wird, könnte zur Provinzialisierung der deutschen Kulturszene führen, fürchtet die SZ. Bernd Stegemann ist kein Linker mehr, bekennt er in der Welt. Und: FAZ und taz begrüßen das Ende des Placebo-Effekts auf Krankenschein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.01.2024 finden Sie hier

Politik

Die bestialische Gewalt der Hamas-Terroristen richtete sich in erster Linie auch gegen Frauen. In Dutzenden von Zeugenaussagen wird über grauenhafte Verbrechen berichtet. Die UN-Frauenorganisation brauchte zwei Monate, um diese Verbrechen mit spitzen Lippen zu benennen, andere feministische Organisationen blieben stumm oder leugneten die Verbrechen. "Diese Reaktion steht in krassem Gegensatz zu der für die weltweite Bewegung gegen geschlechtsspezifische Gewalt typischen Forderung, den Berichten der Überlebenden zuzuhören und ihnen zu glauben", kritisieren Bidens Antisemitismusbeauftragte Deborah Lipstadt und die Diplomatin Michèle Taylor im Guardian. Das Schweigen deute auf ein Problem hin, "das erkannt und angegangen werden muss. Dieser offensichtliche Widerwille, den Berichten jüdischer Frauen Glauben zu schenken... entspricht den Mustern der Holocaust-Leugnung. Eine solche Verleugnung der Erfahrungen jüdischer Frauen ist eine signifikante Anomalie und muss als das bezeichnet werden, was sie ist: eine deutliche Manifestation eines tief verwurzelten Antisemitismus."

Auch Franca Wittenbrink kommt im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ auf das Thema zurück und schreibt: "Es ist zutiefst empörend, dass eine solche Haltung gerade von denjenigen vertreten wird, die sich ansonsten zu Recht mit den Opfern sexueller Gewalt solidarisieren und sich dafür einsetzen, dass man ihnen glaubt und Gehör schenkt."

Der israelisch-amerikanische Politikwissenschafter Ron Hassner hatte im Wall Street Journal eine Studie veröffentlicht, in der er darlegt, wie wenig Wissen über den Nahost-Konflikt bei den linken amerikanischen Studenten vorherrscht. Die Mehrheit kannte nicht mal den Namen Yasir Arafat, erzählt er im NZZ-Gespräch mit Eva Burri, in dem er auch die israelische Kriegsführung verteidigt und Hoffnung auf eine Auslöschung der Hamas macht: "Die etwas älteren unter uns sollten sich erinnern: Die Rote-Armee-Fraktion der siebziger Jahre gibt es nicht mehr. Die irische Freiheitsbewegung IRA - weg. Die al-Kaida - zumindest so weit zerstört, dass ein zweites 9/11 nicht mehr möglich wäre. (...) Politiker wie Biden verstehen, dass die Forderung nach einer Waffenruhe hauptsächlich das Überleben der Hamas sichert. Die wichtigen Gespräche finden sowieso nicht vor den Fernsehkameras statt. Wenn Biden Israel kritisiert, spricht er zu Ihnen, zu mir und zu seinen Wählern. Zum ersten Mal in der Geschichte sind amerikanische Truppen in Israel. Sie tauschen mit Israel Informationen aus, sie fliegen zusammen Drohnen und suchen gemeinsam nach Geiseln, weil einige der Geiseln Amerikaner sind. Vermutlich intervenieren die Amerikaner stark hinter den Kulissen auf der taktischen Ebene."

Viel retweetet wird die Karikatur eines israelischen Zeichners, die sowohl die Gewalt gegen Frauen als auch der von Südafrika angestrengten Haager Prozess gegen Israel thematisiert, das des Genozids bezichtigt wird:


Wenig Aufsehen erregte in den Medien eine Rede des Hamas-Führers Ismail Haniyeh in Doha, Katar, in der er den 7. Oktober nochmals feiert und die arabische Welt zur Finanzierung der Hamas aufruft.

Archiv: Politik

Kulturpolitik

"Bekenntniszwänge gehören in Systeme mit Staatskunst", schreibt auf ZeitOnline der Rechtswissenschaftler Ralf Michaels, einer der Wortführer postkolonialen Denkens in Deutschland, der allerdings vor allem rechtliche Einwände gegen die Antidiskriminierungsklausel hat. Er erinnert an die vor über einem Jahr von  Ex-Bundesfamilienministerin Kristina Schröder verabschiedete und bald zurückgenommene "Extremismusklausel" genannte Selbstverpflichtung, die Förderungsempfänger vor Abruf von Mitteln zu unterzeichnen hatten und die auch heutige Befürworter der Berliner Antidiskriminierungsklausel kritisierten. Auch das Verwaltungsgericht Dresden hielt die Klausel für rechtswidrig: "Das Gericht sah einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot. Gemeint ist: Wenn Antragstellerinnen zu etwas verpflichtet sein sollen, muss der Inhalt ihrer Verpflichtung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein, dass Verpflichtete ihr Verhalten danach richten können." Kritik gab es auch an der "Verpflichtung, ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzugeben. Bedenklich sind solche Bekenntnispflichten nicht etwa deshalb, weil an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung etwas problematisch wäre. Vielmehr greift sogar der Zwang, sich zu Grundwerten des Staates zu bekennen, in die sogenannte negative Meinungsfreiheit ein, die Freiheit also, sich einer bestimmten Meinung nicht anzuschließen, eine bestimmte Meinung nicht zu äußern - und das ist rechtfertigungsbedürftig."

"Die deutsche Kulturlandschaft dürfte homogener werden, selbstzentrierter, auch: provinzieller", befürchtet indes Sonja Zekri in der SZ: "Denn so rigoros ist das Vorgehen im Namen der Antisemitismusbekämpfung, so akribisch werden Aussagen durchleuchtet, die manchmal Jahrzehnte zurückliegen, so kalt werden Künstler trotz jahrelanger Zusammenarbeit verabschiedet, dass vielen auch außerhalb Deutschlands der Atem stockt. New York Times und Washington Post, Guardian und Economist berichten alarmiert über das Vorgehen vor allem gegen jüdische Künstler - nicht, weil die Nahost-Debatte in ihren Ländern weniger polarisiert verliefe, sondern weil Deutschland doch als 'Hafen künstlerischer Freiheit' (New York Times) galt."
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

Buch in der Debatte

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Bernd Stegemann, der im vergangenen Jahr ein übrigens in den überregionalen Medien nicht einmal besprochenes Buch über Identitätspolitik veröffentlicht hat, möchte kein Linker mehr sein, bekennt er in der Welt. Nicht nur im Hinblick auf Migrations- und Klimapolitik attestiert er der Linken "Realitätsverweigerung" und "Sprachregulierung": "Diese Selbstverdummung führt inzwischen zu den verrücktesten Kapriolen: So behauptet der Postkolonialismus, er sei ein linkes Projekt und darum könne seine Kritik an Israel gar nicht antisemitisch sein. So behauptet der Pazifismus, er sei immer und überall gut, deswegen könne seine Forderung, keine Waffen in die Ukraine zu liefern, gar keine schlimmen Folgen haben. So behaupten die Klimaschützer, sie müssten den Weltuntergang aufhalten, deswegen können ihre Proteste gar nicht falsch sein. So behaupten die Anti-Diskriminierungsstellen, sie kämpften gegen das Böse, und darum könnten ihre Aufrufe zur Denunziation nicht böse sein. So behaupten die woken Tugendwächter, sie stünden rund um die Uhr im Kampf gegen Rassismus, darum könne ihre Einteilung der Menschen nach Hautfarbe, Alter und Geschlecht gar nicht rassistisch sein. (...) Und als Höhepunkt linker Selbstverblendung gelten noch immer die Vertreter der offenen Grenzen, die sich als Inkarnation des Guten verstehen, weswegen es gar nicht sein kann, dass illegale Migration zu Problemen führt."

Das Humanitäre Völkerrecht muss reformiert werden, fordert im Tagesspiegel der auf Völkerrecht spezialisierte Anwalt Daniel Soudry nicht nur, aber vor allem mit Blick auf den asymmetrischen Krieg zwischen Israel und Gaza: "Für Konflikte, in denen seine Regeln gezielt gebrochen und sein Schutz bewusst missbraucht werden, ist es … nicht geschaffen. Sein Ziel, eine Ausgleich zwischen humanitären und militärischen Interessen herzustellen, kann es hier nur noch bedingt erreichen. Bei den notwendigen Abwägungen muss die Asymmetrie der Kriegsführung berücksichtigt werden. (…) Wer dagegen vorschnell fordert, Israel müsse die Kampfhandlungen einstellen, vertauscht Angreifer und Angegriffene, spricht dem Land den Schutzauftrag gegenüber der eigenen Bevölkerung ab und ignoriert dabei, dass die Hamas seit über drei Monaten fast täglich Raketen auf die Ballungszentren Israels abfeuert, die letzte Feuerpause selbst aufgekündigt hat und noch immer über 130 Geiseln unter grausamen Bedingungen gefangen hält. Ohne deren Freilassung rückt ein Ende der Gewalt in weite Ferne."

"Der öffentliche Diskurs ist verwildert, der Schall ist schneller als das Licht", beobachtet FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in einigen jüngeren Debatten. Beispiel: "Die Anglistin Aleida Assmann hat mehrfach behauptet, und die Redaktion des Merkur hat es nicht korrigiert, der Philosoph Achille Mbembe sei seiner israelkritischen und BDS-nahen Haltung wegen von der Ruhrtriennale ausgeladen worden... Die anderen lancieren 'Fake News', man selbst schreibt im Dienste der Wahrheit."
Archiv: Ideen

Europa

Aus Anlass der aktuellen Correctiv-Recherche zur AfD (Unser Resümee) denkt Wolfgang Janisch in der SZ nochmal über ein AfD-Verbot nach. Verfassungsfeindliche Aussagen gebe es genug, aber: "Christian Waldhoff, der vor zehn Jahren mit Christoph Möllers den NPD-Verbotsantrag geschrieben hat, warnt davor, die Verbotsfrage allein anhand medial kolportierter Zitate beantworten zu wollen. Nur eine umfassende Prüfung des vom Verfassungsschutz gesammelten Materials mache eine seriöse Prognose über Erfolgsaussichten möglich. … Es wäre Sache der Regierung, eine solche verfassungsrechtliche Prüfung überhaupt erst einmal in die Wege zu leiten. Eine Tiefenbohrung ist auch deshalb nötig, weil es einen entscheidenden Unterschied zur NPD gibt: Die Extremistenpartei, die sich inzwischen 'Die Heimat' nennt, hatte ihre Verfassungsfeindlichkeit in großen Teilen im offiziellen Parteiprogramm dokumentiert. Das Programm der AfD ist vergleichsweise harmlos - die harten völkischen Thesen werden auf anderen Kanälen verbreitet. Ein Verbotsantrag müsste mithin aus der Summe der Hetzparolen und Pamphlete eine geschlossene, der Partei zurechenbare Ideologie kondensieren. Ein gigantischer Indizienprozess, wenn man so will."

Die Wochen nach dem 7. Oktober haben den tief sitzenden Antisemitismus in so manchen politischen Parteien Europas offen gelegt - etwa in Spanien, Irland, Frankreich oder - wie bei der sozialdemokratischen Ministerin Caroline Gennez  - in Belgien. Gennez hatte ein Argument aufgegriffen, das in der ganzen Welt zu kursieren scheint, und Deutschland vorgeworfen, zum zweiten Mal "auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen", weil es Israel unterstützt. Auf der Hand liegt, dass sie also Israel als das heutige Nazi-Deutschland sieht. Michael Thaidigsmann berichtet in der Jüdischen Allgemeinen. Die Äußerungen Gennez' haben viele Reaktionen ausgelöst. Martin Kotthaus, der deutsche Botschafter in Brüssel, antwortete mit einem Twitter-Thread. Aber für die die belgischen Sozialdemokraten besonders schmerzhaft dürfte ein Twitter-Post von Joël Rubinfeld, Präsident der Ligue belge contre l'antisémitisme, sein. Er antwortet mit einer historischen Reminszenz: "Wenn man wie Frau Gennez der politischen Familie angehört, deren damaliger Vorsitzender Henri de Man am 28. Juni 1940 die Kollaboration mit den Nazis mit folgenden Worten befürwortete: 'Glauben Sie nicht, dass Sie dem Besatzer Widerstand leisten müssen, akzeptieren Sie die Tatsache, dass er siegreich ist (...). Für die arbeitenden Klassen und für den Sozialismus ist dieser Zusammenbruch einer verkommenen Welt (...) eine Erlösung', wäre es ratsam, zweimal nachzudenken, bevor man die Geschichte heranzieht."
Archiv: Europa

Gesellschaft

taz-Autorin Barbara Dribbusch will sich zwar nicht ganz aus der "ganzheitlichen" Medizin verabschieden, aber dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Finanzierung  homöopahischer und anthroposophischer Medikamente durch den Kassen streichen  will, findet sie richtig: "Diese Bezuschussung dient als Marketinginstrument, um Mitglieder aus den gebildeten Mittelschichten heranzuziehen. In diesen auch ökologisch orientierten Milieus besteht häufig Interesse an einer ergänzenden Medizin, was auch aus einer Kritik an der Schulmedizin erwächst. Dass die physiologische Wirksamkeit von Globuli, Echinaceatropfen und Arnikasalbe nicht erwiesen ist, tritt dabei in den Hintergrund. Auch schulmedizinisch orientierte Hausärzte raten bei Schlafproblemen zu - selbstbezahlten - Baldriantropfen und bei Altersbeschwerden zu Ginseng, obwohl deren Wirksamkeit nicht nachgewiesen ist." Hier der Bericht von Manuela Heim zum Thema.

"Die Summen, um die es hierbei geht, sind im Vergleich zu den sonstigen Ausgaben im Gesundheitswesen vernachlässigbar", ergänzt Hinnerk Feldwisch-Drentrup in der FAZ: "Das viel größere zu bohrende Brett ist der sogenannte Binnenkonsens: Homöopathische und anthroposophische Mittel brauchen anders als andere Medikamente keinen Nachweis ihrer Wirkung. Trotzdem dürfen sie als Arzneimittel bezeichnet und exklusiv über Apotheken verkauft werden. Dies trägt neben der Kassenerstattung zum guten Image bei."

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