9punkt - Die Debattenrundschau

Zögern und Taktieren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.01.2024. Zeit und SZ lernen in Polen, wie schwierig es ist, ein illiberales System mit legalen Mitteln zurückzu bauen. Bei Spon warnt Sascha Lobo davor, Rechte und Konservative in einen Topf zu werfen. Die Linke braucht einen Plan, erkennt der Journalist Vincent Bevins, der über erfolgreiche Demonstrationen hinaus reicht. Im Tagesspiegel begrüßt Meron Mendel das vorzeitige Aus für die Berliner Antidiskriminierungsklausel, fordert aber mehr Widerstand gegen BDS in den Kulturinstitutionen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.01.2024 finden Sie hier

Europa

Heinrich Wefing besucht für die Zeit Adam Bodnar, den neuen Justizminister in Polen, der vor der Herkulesaufgabe steht, das illiberale System, das die PiS in den letzten Jahren aufgebaut hat, zu reformieren: also "die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen, die Staatsanwaltschaften zu entpolitisieren, korrupte Richter zur Verantwortung zu ziehen". Bodnar versucht es mit Geduld und kleinen Schritten, doch selbst dabei "trifft er auf brutalen Widerstand. Zwei Gegenspieler hat er im Moment vor allem: Staatspräsident Andrzej Duda, der weitreichende Befugnisse hat, viel mehr als etwa der deutsche Bundespräsident. Und das Verfassungstribunal, das höchste Gericht in Polen. Alle 15 Richterinnen und Richter wurden von der PiS gewählt. 'Niemand am polnischen Verfassungsgericht', sagt Bodnar, 'versucht überhaupt noch, so zu tun, als wären die Urteile unpolitisch. Das Gericht wird benutzt, um bestimmte politische Ziele durchzusetzen.'" Dem liberalen Richterverband geht das alles zu langsam. Sein Präsident Krystian Markiewicz "fordert im Gespräch mit der Zeit einen Parlamentsbeschluss, um mehrere Richter am Verfassungsgericht auf einen Schlag auszutauschen. Genau so hatte seinerzeit die PiS ihre ersten Richter im Verfassungstribunal installiert. Ob das damals rechtlich zulässig war, ist bis heute umstritten. Aber die Menschen hätten die neue Regierung gewählt, damit sich etwas ändert, nicht fürs Zögern und Taktieren. Muss man also doch mit denselben Mitteln operieren wie die Feinde des Rechtsstaats, um den Rechtsstaat wiederherzustellen?"

Auch in der Kulturpolitik kann die neue polnische Regierung in den Kulturinstitutionen kaum die PiS-Anhänger ablösen, ohne gegen die von der PiS verabschiedeten Gesetze zu verstoßen, konstatiert der polnische Journalist Konstanty Gebert in der SZ. "Wenn man sich das Ausmaß der Zerstörung in den vergangenen acht Jahren vor Augen führt, waren die Eingriffe der neuen Behörden bislang erstaunlich zahm. Die großen Reformen konzentrieren sich auf die öffentlichen Medien. Kultureinrichtungen, die zum Imperium von Pater Tadeusz Rydzyk, dem Gründer des fundamentalistischen katholischen Radio Maryja, gehören, haben einen Teil ihrer staatlichen Unterstützung verloren. Ein Spielfilm des verstorbenen großen Regisseurs Andrzej Wajda über den Solidarność-Führer Lech Wałęsa wurde im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt, woraufhin aus den Reihen der PiS empörte Proteste wegen der 'Politisierung' des Mediums laut wurden. Einige Kultureinrichtungen wurden fusioniert, was personelle Veränderungen ermöglicht. 'Das sind Höhlenmenschen. Die Deutschen werden sich freuen', kommentierte der ehemalige Kulturminister Piotr Gliński."

Im NZZ-Gespräch mit Lucien Scherrer sieht der französisch-marokkanische Historiker Georges Bensoussan eine große Gefahr für die französische Demokratie, die von der Linken ausgehe. Diese sehe nicht, dass der islamistische Antisemitismus viel tödlicher als der Rechten sei und unterstützte vorbehaltlos propalästinensische Kundgebungen. "Diese Demonstrationen sind letztlich ein oberflächliches Phänomen. Die tiefere Realität ist schwieriger zu erkennen, denn die große Mehrheit in diesem Land demonstriert nicht. Sie geht nicht auf die Straße. Ich bin davon überzeugt, dass diese Mehrheit zutiefst antiislamistisch eingestellt ist, aber nicht gehört wird. Sie spürt, dass Frankreich der gleichen Gefahr ausgesetzt ist wie Israel: dem Islamismus, der im 'Bataclan' getötet hat, der einen Priester enthauptet hat, der 86 Menschen in Nizza und die Redaktion von 'Charlie Hebdo' getötet hat. Die Medien spiegeln dieses Frankreich oft nicht wider, sie sind von einer kulturellen, intellektuell verarmten Linken geprägt. Diese Linke erkennt in den Muslimen, angefangen mit denen in Gaza, die neuen Verdammten dieser Erde."
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Gesellschaft

Die CDU mit der AfD in einen Topf zu werfen, wie es viele Demonstranten in den vergangenen Tage getan haben, ist falsch und total kontraproduktiv, findet Sascha Lobo bei Spon. "Die toxische Erzählung, es gäbe eigentlich keinen Unterschied zwischen AfD und Union, kann sich in öffentlichen Debatten leicht verselbstständigen und schließlich bei manchen Menschen eine Scheu verringern, rechtsextrem zu wählen. Weil ja, wie manche Linke behaupten, eh kein Unterschied bestehe. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass eine begriffliche Verschiebung in Deutschland die Diskussion erschwert. Wenn man die Debatte präzise und ernsthaft führen möchte, ist das Gegenteil von links nicht etwa rechts - sondern konservativ. Das lässt sich leicht belegen. Es stehen sich nach Selbstbezeichnung meist Linke und Konservative gegenüber. Wer von sich selbst als 'rechts' spricht, gehört nur selten noch zu den Konservativen, weil in 'rechts' viel zu viel 'rechtsradikal' mitschwingt." Die Konservativen haben "schon vor längerer Zeit die Gleichwertigkeit aller Menschen als Basis einer liberalen Demokratie akzeptiert und inzwischen verinnerlicht", meint Lobo. Das sollte man anerkennen, sonst beschädigt man die Demokratie, die man doch verteidigen will, meint Lobo.

In der taz sieht Lukas Franke den Faschismus in Deutschland wachsen, woran auch die Demonstrationen nichts ändern würden, "sie werden das Problem nicht an der Wurzel packen. Wohlstandschauvinismus und Weiter-so sind keine Option. Es braucht eine Erzählung, die Zukunftsängste übersetzt in Herausforderungen, die zu schaffen sind."

Die Linke braucht einen Plan, meint auch der Journalist Vincent Bevins, der im Interview mit der taz über sein Buch "If We Burn" spricht, das die Protestbewegungen der 2010er-Jahre untersucht. Viele dieser Bewegungen - in Nordafrika, der Türkei oder Lateinamerika - blieben erfolglos oder schlimmer, wandelten sich in rechte Bewegungen, weil die Aktivisten keine Vorstellung von der Zeit danach hatten: "Ich hörte solche Sätze von vielen Menschen, nicht nur in Brasilien. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens, wie ich schon sagte, glaubten viele Linke, dass Massenproteste automatisch positiven Wandel bringen. Zweitens glaubten viele nicht an ihren eigenen Erfolg. Die Protestbewegung in Ägypten hoffte, viele Menschen auf die Straße zu bekommen, auf eine starke Reaktion gegen Polizeigewalt. Aber sie waren nicht darauf vorbereitet, die Hauptstadt zu übernehmen. In Brasilien wollten sie die Erhöhung der Busfahrpreise rückgängig machen, aber sie rechneten nicht mit so einer massiven Explosion auf der Straße. Was wir davon lernen können: Man braucht nicht unbedingt einen strikten Plan, an den man sich dogmatisch halten muss. Es wird viele Unberechenbarkeiten im Laufe des Prozesses geben. Man braucht aber eine generelle Vorstellung davon, was man erreichen will und wie man dort hinkommt. Außerdem benötigt man demokratische Organisationen, die flexibel genug sind, um auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren zu können.
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel-Interview mit Katrin Sohns begrüßt Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, das vorzeitige Aus für die Berliner Antidiskriminierungsklausel, die gegen viele BDS-nahe Organisationen gegriffen hätte: "Der Versuch, einen Teil der Szene durch solche Klauseln zu 'erziehen', führt eher dazu, dass hier von 'Zensur' gesprochen wird." Dennoch seien Boykott-Bewegungen wie "Strike Germany" zu verurteilen. "Sie vertreten eine totalitäre Ideologie, die sie mit allen Mitteln durchsetzen wollen. Sie sind auch nicht an einem Gespräch und einem Weiterkommen interessiert. Aber das ist nur ein Teil. Ein großer Teil der Kunst- und Kulturwelt hat bestimmte Einstellungen eher fraglos übernommen. Dann gehört es halt dazu, dass man Israelis boykottiert oder Israel als Kolonialstaat bezeichnet. Dieser Rhetorik und diesem Weltbild etwas entgegenzusetzen, das sehe ich als eine sehr wichtige Aufgabe. Und ich sehe hier eine ganz große Verantwortung bei Museumsleitungen, Festivalleitungen, Kuratoren, Theaterintendanten. Sie müssen die Expertise haben, sie müssen den Dialog suchen, sie sind die Gatekeeper."
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Politik

Dass die israelische Armee das Völkerrecht beachten muss, versteht sich von selbst. Aber in der Zeit fordert der in den USA lehrende israelische Philosoph Omri Boehm eine geradezu heiligenmäßige Verfassung der Armee, wenn er an seiner Idee der Einstaatenlösung festhält und mit den Philosophen Avishai Margalit und Michael Walzer verlangt: "'Führt euren Krieg bei Anwesenheit von Nichtkombattanten auf der anderen Seite mit derselben Vorsicht, als wären die Nichtkombattanten eure Bürger.' Dies ist der grundlegende Gedanke derer, die eine föderative Republik jenseits der Zweistaatenlösung anstreben, wie auch ich.  ... Es lohnt sich, das Argument zu entfalten, das hinter diesem Grundsatz steckt. Erstens muss die kategorische Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten um jeden Preis aufrechterhalten werden, wenn man einen unbegrenzten Krieg zwischen Völkern verhindern will. Während Terrororganisationen wie die Hamas dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen, dass sie diese Unterscheidung aushebeln, indem sie Zivilisten angreifen und sich selbst hinter der palästinensischen Bevölkerung verschanzen, enthebt das doch Israel nicht seiner Verantwortung, die gesamte Zivilbevölkerung zu schützen. Walzer und Margalit machen deutlich, dass es im Prinzip keinen Unterschied für die israelischen Streitkräfte bedeuten sollte, ob die menschlichen Schutzschilde israelische Bürger oder Palästinenser sind."
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Geschichte

Auf vielen Demonstrationen ist jetzt das Schild "AfD wählen ist so 1933" zu lesen, schreibt Moritz Eichhorn in der Berliner Zeitung. Dies sei historisch falsch: "Wer sich die historischen Parallelen genau anschaut, kommt zu einer anderen Zeitrechnung als diese Demonstranten. Wir haben nicht so sehr 1933. Wir haben viel eher 1923. Nach dem Putschversuch der NSDAP am 9. November 1923 wurde die Partei im gesamten Deutschen Reich verboten, zuvor war das schon in Preußen, Hamburg, Baden und anderen Ländern geschehen. Adolf Hitler kam ins Gefängnis, das Parteivermögen wurde gepfändet, die Parteizentrale geschlossen, die Zeitung der Nazis - Stichwort Social Media - verboten." Das tat dem Erfolg der NSDAP keinen Abbruch und ein Verbot der AfD wird diese auch nicht stoppen, so Eichhorn. "Der Schlüssel zur Abwehr der AfD ist die Union. Sie zieht nicht nur die Brandmauer. Sie ist die Brandmauer."
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Stichwörter: AfD

Religion

Die Zeit unterhält sich mit den Betroffenenvertreter Katharina Kracht und Henning Stein über die jetzt veröffentlichte Studie zum Umgang mit sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche. Kracht selbst hat "viel Abwehr" erlebt, als sie die zuständigen Stellen über den an ihr begangenen Missbrauch informierte. "Es gab zwar immer Einzelne, die mir halfen. Aber niemand ging meinem Verdacht nach, dass es noch andere Betroffene 'meines' Täters gab. Ich habe dann allein geforscht und mehrere andere Opfer desselben Pfarrers gefunden. Nachdem die Kirche dem Fall endlich nachging, wissen wir von mindestens zwölf Betroffenen. Über den Pfarrer, der mich Ende der Achtzigerjahre zu missbrauchen begann, gab es schon in den Siebzigerjahren Beschwerden, doch niemand reagierte. Das ist der Grund, warum ich nicht aufgebe: Die Kirche muss Verantwortung übernehmen für ihre Serientäter, denn sie hat sie geschützt. Es gab zu viele solche Täter."
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