9punkt - Die Debattenrundschau

Bei jeder Gelegenheit sabotiert

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2024. Im Guardian denkt Daniel Levin über eine Konföderation zwischen Israelis und Palästinensern nach. In der FR glaubt Frank Sieren an eine neue Ära in China, in der eine wirtschaftliche Bürgerbewegung mehr mitbestimmt. Es sind "Phantomschmerzen" über den Verlust von Großungarn, der die Ungarn weiter auf Viktor Orban setzen lässt, glaubt Richard Swartz in der NZZ. Bei muslimischem Antisemitismus schaut die Bundesregierung lieber weg, ärgert sich Güner Yasemin Balci, Integrationsbeauftragte in Neukölln, in der SZ. Und der Standard skizziert die Hetzjagd auf Alexandra Föderl-Schmid.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.02.2024 finden Sie hier

Politik

Im Guardian denkt Daniel Levin, Leiter der Liechtenstein Foundation for State Governance, über eine Kombination aus Zwei-Staaten- und Ein-Staaten-Lösung nach. Strikte Trennung von Israelis und Palästinensern, "aber Arbeits-, Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit im gesamten Territorium, vorbehaltlich strenger Sicherheitsbestimmungen, und einer koordinierten Finanz- und Wirtschaftspolitik. Eine Konföderation würde die tiefe Verbindung jeder Nation zum gesamten Land anerkennen, aber auch klarstellen, dass keines der beiden Länder alles besitzen kann. Die Bürger jeder Nation würden nur in ihrem eigenen Staat wählen, könnten aber den anderen Staat besuchen, dort wohnen, arbeiten oder studieren. (...)  Zunächst müsste es eine harte Trennung geben, mit einer Grenze, die das Territorium beider Seiten abgrenzt, möglicherweise mit einer entmilitarisierten Zone während einer Übergangszeit. Israelische Siedler, die derzeit illegal in den besetzten palästinensischen Gebieten leben, hätten die Wahl, mit großzügigen Wohn- und Umsiedlungspaketen nach Israel zurückzukehren oder Einwohner Palästinas zu werden und palästinensischem Recht zu unterliegen."

Laut einer Umfrage, die die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Zusammenarbeit mit dem Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) im Westjordanland und im Gazastreifen zwischen dem 22. November und dem 2. Dezember durchgeführt haben, ist die Popularität der Hamas gewachsen seit dem 7. Oktober, berichtet Maja El-Safadi, der in der FAZ allerdings von dem Politologen Khalil Shikaki erfährt, dass der Zuspruch in der Regel nach Kriegsende wieder sinke: "Im Sommer 2023 kam es zu Protesten und Versammlungen gegen die Hamas, die mit Polizeigewalt unterbunden wurden. Hier zeigt sich ein Dilemma, in dem die Hamas steckt. Einerseits will sie einen Widerstandskampf gegen Israel führen, andererseits muss sie den Gazastreifen regieren. Die Islamisten seien in dieser Hinsicht immer ambivalent gewesen, meint der Hamas-Fachmann Tareq Baconi. Sie betrachteten das Regieren als 'eine Last, als etwas, was die Widerstandsbewegung fesselte und ihre Handlungsfähigkeit einschränkte', sagte er der New York Times."

"An einem richtigen Krieg mit den USA und Israel sind Iran und seine Verbündeten in der Region nicht interessiert. Sie könnten ihn nicht gewinnen", glaubt der Politologe Renad Mansour im taz-Gespräch. Aber: "Iran spielt ein längeres Spiel, bei dem es seine Muskeln spielen lassen kann. Durch seine verschiedenen Netzwerke, bewaffnete und politische, gewinnt Iran immer mehr Einfluss in der gesamten Region. Der Einfluss der USA dagegen schwindet und sie kämpfen darum, ihren Einfluss zu erhalten. Deshalb wird eine direkte militärische Konfrontation von beiden Seiten nicht bevorzugt. Gleichzeitig werden sie in die Konfrontation hineingedrängt."

Derweil inszenieren sich die iranischen Führer "seit dem 7. Oktober noch offensiver als zuvor als 'Retter' des palästinensischen Volkes, auch wenn ihnen dessen Schicksal herzlich egal ist", schreibt Gilda Sahebi ebenfalls in der taz: "Die iranische Führung verkauft sich seinen Gefolgsleuten als die Anführerin für die 'muslimische Sache' weltweit. Das Zündeln des iranischen Regimes in der gesamten Region ist ein großes Ablenkungsmanöver von der wachsenden Repression und der immensen Wut der Menschen im Land. Der massive Anstieg an Hinrichtungen geschieht im Windschatten der außenpolitischen Aktivitäten des Regimes. Die innenpolitische Situation ist verheerend: Der Verfall der Währung, Arbeitslosigkeit und Armut, Streiks und Proteste von Arbeiter:innen wegen fehlender oder verspäteter Lohnauszahlungen, steigende Preise - und die Wut der Bevölkerung darüber, dass das Regime Millionen an Dollar in die Bewaffnung von Hisbollah, Hamas und anderen Gruppen steckt, während die eigene Bevölkerung sich nicht einmal mehr Brot leisten kann."

Von einem Angriff Chinas auf Taiwan geht der Journalist Frank Sieren, der aus seiner Begeisterung für China keinen Hehl macht, im FR-Gespräch nicht aus. Die Bevölkerung in China werde immer selbstbewusster, die Regierung gebe dem nach, glaubt er: "Die Geschichte aller Menschen zeigt: Ein autoritäres System, das auf Dauer versucht, gegen den Willen der Bevölkerung zu handeln, wird daran zerbrechen. Das ist auch der KP klar und deswegen gibt sie nach, wenn es nicht mehr anders geht: Also partiell Macht abgeben, um die Lufthoheit zu behalten. … In Chinas Wirtschaft entsteht gerade eine Art informelle wirtschaftliche Bürgerbewegung für mehr Mitbestimmung. Die Konsumenten und Investoren merken plötzlich: Der Staat kann uns ja nicht zwingen, zu konsumieren und investieren. Gleichzeitig ist der Erfolg von Pekings Wirtschaftspolitik davon abhängig, dass sie das tun. Nun sagen die selbstbewussten Konsumenten und Investoren: Wir haben das Geld, aber wir geben es nicht aus, weil uns die politischen Rahmenbedingungen nicht passen. Widerwillig und scheibchenweise gibt der Staat nach. Damit beginnt eine neue Ära in China. Denn die Menschen werden ihre neue Macht für mehr Mitbestimmung nie wieder vergessen und es wird nicht bei wirtschaftlichen Themen bleiben."

In der "10 nach 8"-Serie von Zeit Online erzählt eine anonyme Afghanin vom Druck, Kinder bekommen zu müssen. Afghanische Frauen bekommen im Schnitt vier bis fünf Kinder, bleiben sie kinderlos, erleben sie Demütigungen: "Afghanistan gehört zu den Ländern mit der höchsten Mütter- und Säuglingssterblichkeitsrate weltweit, UN-Statistiken zufolge stirbt in Afghanistan alle zwei Stunden eine Frau während der Schwangerschaft oder bei der Geburt. Für die Behandlung von komplizierten Fällen sowie Risikoschwangerschaften und -geburten fehlt es in den meisten Städten an der notwendigen Fachkompetenz und Ausstattung. In den Dörfern der meisten Provinzen des Landes finden Geburten zu Hause, ohne Zugang zu medizinischen Einrichtungen und mithilfe älterer Frauen statt, die entweder aus demselben Haushalt oder aus der Nachbarschaft stammen. All das erhöht das Risiko von Infektionen, Blutungen und sogar des Todes von Säugling und Mutter. Und trotzdem bleibt es dabei: Der Wert einer Frau bestimmt sich nach wie vor über die Anzahl ihrer Kinder. Der Druck auf die afghanischen Frauen bestand auch vor der Taliban-Herrschaft schon, unter ihr hat er sich jedoch enorm verstärkt. … Verhütung gilt den Taliban als westliche Verschwörung, um die Anzahl der Muslime auf der Welt zu kontrollieren."
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Gesellschaft

Güner Yasemin Balci, Integrationsbeauftragte in Neukölln und selbst dort aufgewachsen, kennt den muslimischen Antisemitismus seit ihrer Kindheit, nach dem 7. Oktober aber sei es so schlimm geworden, dass sie Juden empfiehlt, bestimmte Orte zu meiden, schreibt sie in einem gestern von uns übersehenen SZ-Artikel. "Der migrantische Judenhass konnte in Deutschland jahrelang ungehindert wachsen", ärgert sie sich: "Israelhasser, BDS-Sympathisanten und islamistische Akteure werden ... bis heute aus staatlichen Töpfen gefördert. Etliche Migrationsexperten tragen dazu bei, dass jede Kritik an der antisemitischen und demokratiefeindlichen Weltanschauung unter vielen Einwanderern als 'Rassismus' und 'islamophob' geächtet wird. Nur so konnte der Begriff des 'antimuslimischen Rassismus' fest im Integrationsdiskurs verankert und die Muslime zu den 'neuen Juden' erklärt werden. Die international anerkannte und von der Bundesregierung empfohlene Definition für Antisemitismus der IHRA (...) wird von diesen 'Experten' und ihren Unterstützern für unzumutbar gehalten. Die Bundesregierung schweigt nicht immer, aber oft, wer möchte sich schon von den vielen Deutschen mit Migrationshintergrund als Rassist beschimpfen lassen."
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Europa

Viktor Orban ist längst zum "Vasall Putins" geworden, aber sein Nationalismus verfängt bei den Ungarn nach wie vor, schreibt der schwedische Schriftsteller Richard Swartz in der NZZ: "Wie keine andere Nation in Europa ist die ungarische traumatisiert davon, unterzugehen und zu verschwinden: Spät kam sie in Europa an, spät wurde sie christianisiert, isoliert aufgrund ihrer für uns andere unbegreiflichen Sprache, umzingelt von Deutschen und Slawen, die oft als tödliche Bedrohung der eigenen Existenz wahrgenommen wurden. Zudem ist die Nation ihrem Selbstbild nach besonders exponiert. Ihre Mütter gebären immer weniger Kinder, während gut zwei Millionen Ungarn außerhalb der Staatsgrenzen gelandet sind; keine andere Nation in Europa zählt so viele Landsleute, die als Minderheiten in anderen Staaten leben, alle vor nicht allzu langer Zeit vereint in einem Großungarn. Aus ungarischer Sicht war der Friedensvertrag von Trianon 1920 eine Katastrophe, im modernen Europa nur damit zu vergleichen, was Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg widerfuhr. Seit damals ist die Nation nicht mehr 'ganz', sondern verstümmelt - an Phantomschmerzen und an blutenden Wunden leidend."

Die Maßnahmen, die Polens neue Regierung ergreift, um Polen wieder zum Rechtsstaat umzubauen, mögen nicht immer elegant sein, verfassungswidrig sind sie nicht, konstatiert die Verfassungsrechtlerin Ewa Letowska im taz-Gespräch, in dem sie auch einem drohenden Rechtschaos entspannt entgegenblickt: "Seit Beginn der populistischen PiS-Regierung 2015 haben wir hier Chaos. Gerade für Westeuropäer gilt es aber zu bedenken, dass es in Polen nie einen Rechtskult gab wie in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Das hat mit der Geschichte zu tun. Im 19. Jahrhundert teilten Russen, Preußen und Österreicher Polen unter sich auf und etablierten in den Teilungsgebieten ihr eigenes Recht. Den Polen war dieses Recht fremd, und sie haben es bei jeder Gelegenheit sabotiert. Dieser Zustand dauerte 123 Jahre an, bis zum Versailler Vertrag. Polen war dann gerade mal 20 Jahre unabhängig, bis es 1939 erneut aufgeteilt wurde, dieses Mal von Hitler und Stalin. Das Besatzungsrecht war wieder fremd. Auch das kommunistische Nachkriegsrecht empfanden die meisten Polen als 'nicht polnisch'. Der Weg Polens hin zur Wertschätzung des Rechts, der Rechtsstaatlichkeit und der Prinzipien des Rechtsstaats war steinig."

Igor Salikow
, einst Wagner-Ausbilder und Oberst der russischen Militäraufklärung, stellte in den Niederlanden Antrag auf politisches Asyl und versprach, vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu Kriegsverbrechen Russlands im Ukraine-Krieg auszusagen. Bald erscheint sein Buch "Nein zum Krieg" - für die Welt warf Artur Weigandt bereits einen Blick ins Manuskript: "In seiner Vorbemerkung äußert sich Salikow einigermaßen sarkastisch über die Darstellung der Kriegsmotive durch die russische Propaganda. ... Der Kreml kümmert sich nicht um die Russen. Die Russen in Russland leben miserabel. Sie haben keine ruhmreiche und positive Geschichte nationalen Kampfes - im Gegensatz zu vielen europäischen Völkern, die für die Prinzipien und Ideale des Individuums statt des Kaisers kämpfen. Die Russen sind immer gegen etwas, jedoch stets für 'Zar und Vaterland'. Doch niemand hat ihnen je erklärt, was dieses 'Vaterland' wirklich bedeutet, wem es gehört und wer der Zar ist, der über sie herrscht. Immerhin haben die Ukrainer den Willen, für etwas und nicht bloß gegen etwas zu kämpfen."

Beim Eröffnungspodium der Konferenz "Constitutional Challenges - Judging under Pressure" an der Berliner Humboldt-Universität, bei der auch die israelische Verfassungsrichterin Daphne Barak-Erez sprechen sollte, haben palästinensische Aktivisten den vorläufigen Abbruch der Veranstaltung erzwungen, berichtet Alexandra Kemmerer in der FAZ: "Unmittelbar nach Beginn der Veranstaltung ergriff eine palästinensische Aktivistin das Wort und kritisierte die Politik des Staates Israel und die Anwesenheit von Daphne Erez-Barak, die sich in Israel seit Monaten couragiert der Netanjahu-Regierung entgegenstellt und sich dafür von Rechtsextremen anfeinden lassen muss. Die Veranstalter und die Referenten auf dem Podium setzten auf Deeskalation, mehrfach wurde die Störerin ruhig aufgefordert, ihre aggressive Intervention zu beenden. Als diese fast fünfzehn Minuten lang unbeirrt weiterschwadronierte, sekundiert von lautstarken Aktivisten, machte Universitätspräsidentin Julia von Blumenthal vom Hausrecht Gebrauch und verwies die Störer des Saales. Dies zeigte keine Wirkung, es folgte weiteres Geschrei."
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Medien

Die gute Nachricht vorweg: Die seit Donnerstagmorgen vermisste SZ-Vize-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid wurde lebend gefunden, meldet unter anderem der Standard: "Konkrete Informationen zu ihrem Gesundheitszustand liegen vorerst nicht vor, nach ersten Aussagen befindet sich die im Jänner 53 Jahre alt gewordene Föderl-Schmid aber nicht in Lebensgefahr."

Ebenfalls im Standard skizziert ein Autorenteam die "Chronologie einer Hetzjagd", die einsetzte, nachdem Nius, das Online-Portal des geschassten Ex-Bild-Chrefredakteurs Julian Reichelt, ein Plagiatsgutachten bei Stefan Weber beauftragte, dies auf dem Portal ausschlachtete, orchestriert von einem "Internetmob", wie der Standard schreibt: "Auf X, vormals Twitter, teilte Reichelt genüsslich seine Nius-Storys. Er hat 277.000 Follower und nennt sich selbst 'die Stimme der Mehrheit'. Föderl-Schmid habe ihre 'Karriere auf Abschreiben' aufgebaut, schrieb er unter anderem. Seinen Followern gefiel das. 'Yes Baby, sehr geil', stand da zwischen vielen Emojis, genauso wie 'Bäng!!!'. Die Leute begannen auch, Föderl-Schmid zu taggen. 'Falle tief!', wünschte ihr der anonyme Account @zmmkz77h. Im Netz waren alle Hemmungen gefallen. Föderl-Schmid sei eine 'linke Sudeljournalistin', war zu lesen, eine 'schäbige Betrüger:IN', 'fanatische Tastaturaktivistin'. Die 'professionelle linke Hetzerin und Rufmörderin' sei endlich von ihrem 'hohen moralischen Ross geholt' worden und müsse jetzt die Konsequenzen tragen. In den sozialen Medien kann eine Dynamik entstehen, die auch dann nicht abbricht, wenn ein Mensch strauchelt."

In der NZZ kommentiert Thomas Ribi: "Die Art und Weise, wie Weber seine Enthüllungen publik macht, ist nur auf eines kalkuliert: bestmögliche Wirkung. Denen, deren Texte er untersucht, gibt er keine Gelegenheit, sich zu erklären. (…) Dass auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Anspruch auf Fairness haben, ist Weber anscheinend egal. Plagiat ist ein unschönes Vergehen, aber kein Kapitalverbrechen."

Ebenfalls in der NZZ greift Lucien Scherrer den vom deutschen Innenministerium herausgegebenen Bericht "Muslimfeindlichkeit - eine deutsche Bilanz" auf, der deutschen Medien eine Mitverantwortlichkeit für Muslimfeindlichkeit attestiert. Henryk Broder, namentlich im Bericht genannt, hatte geklagt und in zweiter Instanz vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg nun recht bekommen. Tatsächlich sei der im letzten Juni präsentierte Bericht in vielerlei Hinsicht problematisch, kommentiert Scherrer: "Die 'Experten', die ihn verfasst haben, stellen Muslime in Deutschland mehr oder weniger kollektiv als Opfer und Unterdrückte dar. Die Gefahr, die von islamistischem Gedankengut ausgeht, spielen sie dagegen herunter. Für ihre alarmistischen Befunde in Sachen 'Muslimfeindlichkeit' stützen sich die Verfasser unter anderem auf islamistische und proislamistische Vereine wie Ditib und Claim. Oder sie berufen sich auf postkoloniale Ideologen, die in ihren Werken nur in Anführungszeichen von islamischem Antisemitismus schreiben, als gäbe es das gar nicht."

Was kann die Zivilgesellschaft, was können die Medien gegen die Verbreitung von Fake-News durch Populisten tun, wenn reine Faktenchecks nicht mehr weiterhelfen, fragt Volksverpetzer Thomas Laschyk in der taz: "Wir dürfen nicht mehr den Fake News hinterherlaufen, sie nicht mehr wiederholen, selbst wenn wir ihnen widersprechen wollen, wir dürfen nicht mehr die Faschisten in die Talkshows einladen, nur um danach verwundert zu sein, warum die ganze Aufklärung so wenig bringt. (…) Jeder von uns ist gefragt, seine Stimme zu erheben, auf die Straße zu gehen, Faktenchecks zu teilen, seinen Abgeordneten zu schreiben. Wir müssen der trägen Politik und den trägen Medien mehr Druck machen."

Im "digitalen Bunker" von Tiktok sorgen die AfD und ihre Influencer durch "zielgruppenspezifische Kommunikation" für Radikalisierung und Entsolidarisierung, schreibt der Politologe und Soziologe Özgür Özvatan, der in der SZ fragt: "Wieso haben demokratische Institutionen wie Ministerien, Sicherheitsbehörden, Stiftungen und Parteien bisher keine digitalen Strategien für die Verteidigung der Demokratie? Wo waren bisher die Strategien gegen die Vormachtstellung einer rechtsradikal bis rechtsextremen AfD und ihrer Peripherie auf Tiktok? Wie kann es sein, dass Demokratie- und Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Islamismus und Antisemitismus vor unseren Augen in Minutenschnelle wachsen können? Für einen effektiven Kampf gegen Gewalt auf Videoplattformen bedarf es eines ganz anderen Tempos. Automatisierte Erkennung, Gegenrede in Echtzeit und wissenschaftliche Sofortanalysen sind unerlässlich. Wer wird das Instrumentarium der wehrhaften Demokratie gegen die Bedrohung durch Tiktok finanzieren wollen?"
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Kulturpolitik

Für den Abriss jedes Atomkraftwerks entstehen Kosten von etwa einer Milliarde Euro, da sollten sie doch besser als Denkmäler erhalten werden, fordern der Architekt Philipp Oswalt und Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung in der FAS: "Egal, wie man zur Atomenergie persönlich steht: Unstrittig ist, dass sie einen enormen Einfluss auf die Nachkriegsgeschichte in Deutschland und anderen Industrieländern hatte. Während man andernorts exemplarische Anlagen unter Denkmalschutz stellte und über die Geschichte dieser Technologie informiert, ist dies in Deutschland ein Tabu. Atomenergie gilt als heikles Thema, bei dem politisch nichts mehr zu gewinnen ist. Die der Politik unterstellten Denkmalschutzbehörden trauen sich nicht zu widersprechen, auch wenn sie eigentlich den gesetzlichen Auftrag haben, historisch bedeutende Bauwerke zu bewahren. Fachlich ist kaum zu bestreiten, dass Atomkraftwerke Denkmalschutzkriterien in mehrfacher Hinsicht erfüllen, aber bis heute steht keine der kommerziellen Atomanlagen in Deutschland unter Denkmalschutz."
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

Die FAZ bringt noch einmal Bernd Guggenheimers Essay "Wessen Held ist Sokrates" aus dem Jahr 1984, kommentiert wird er von dem China-Historiker Heiner Roetz, der auf den "Bilder und Zeiten"-Seiten der FAZ über die Vereinnahmung von Konfuzius durch den chinesischen Autoritarismus nachdenkt: China "überzieht die Welt mit Instituten, die seinen Namen tragen und zwar nicht offene Propaganda, aber doch eine kulturelle Sympathiewerbung betreiben, bei der für das politische System etwas abfallen soll. Und sie appelliert zu ihrer Legitimation längst nicht mehr nur an den historischen Materialismus, sondern an die Eigentümlichkeit der chinesischen Kultur. China verfügt demnach über einen traditionsgeheiligten, namentlich vom Konfuzianismus geprägten Wertekanon, der sich von dem des liberalen Westens signifikant unterscheidet. Menschenrechte etwa sollen dann nicht primär die Freiheitsrechte des Individuums sein, sondern die des Kollektivs, das durch ökonomische Entwicklung die Subsistenz seiner Mitglieder sicherzustellen hat. Und da die Entwicklung einen Organisator benötigt, erklärt sich der Staat selbst zum obersten Rechtssubjekt - womit die Menschenrechte bei ebender Macht landen, vor der sie doch schützen sollen."
Archiv: Ideen