9punkt - Die Debattenrundschau

Die lautstark schreienden Extremen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.02.2024. Die Zeit rät Deutschland, langsam darüber nachzudenken, ob man sich in puncto atomare Abschreckung mehr auf Frankreich als auf die USA verlassen sollte. Ebenfalls in der Zeit erklärt Philip Manow, warum Populismus die "demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus" ist. Im Tagesspiegel erhebt der ehemalige Vize-Generalstabschef des israelischen Militärs, Jair Golan, große Vorwürfe gegen Netanjahu. Die FR erinnert an das Ende des Afghanistan-Krieges vor 35 Jahren, der eine Millionen Afghanen das Leben kostete. Die FAZ informiert mit einer neuen Studie über den neuesten Trend auf TikTok: Antisemitismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.02.2024 finden Sie hier

Politik

Lange wollte niemand in Deutschland glauben, dass es nötig sein wird, aber "die Gedankenspiele über eine europäische atomare Abschreckung" haben begonnen, schreiben Matthias Krupa und Jörg Lau in der Zeit. Bisher hat sich Deutschland auf die USA und ihre Atomwaffen verlassen - diese Sicherheit gerät durch einen möglichen Wahlsieg Donald Trumps ins Wanken, der mehrfach klar machte, dass er im Fall einer russischen Aggression nicht auf der Seite der Nato stehen würde: "Putins atomare Erpressungsversuche und Trumps angekündigter Verrat laufen also auf dieselbe Frage hinaus: Was tun, wenn der nukleare Schutzschirm der USA eingeklappt wird? Gäbe es eine europäische Alternative? Zum Beispiel in Gestalt der französischen Nuklearwaffen?" Bisher reagierte die deutsche Politik abweisend auf Emmanuel Macrons Versuche, einen Dialog über französische Atomwaffen anzustoßen, so die Autoren. Bald wird dieser aber nötig werden: "Zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden größten Ländern der EU, verschieben sich dieser Tage also die Gewichte. (...) Sollte Donald Trump die Gelegenheit bekommen, die Nato zu zerstören, würde sich für Frankreichs Abschreckung wenig ändern. Deutschland allerdings stünde dann ungeschützt da."

Im Zeit-Interview verteidigt UN-Generalsekretär Antonio Guterres seine Aussagen nach dem 7. Oktober (unsere Resümees). Diese seien verkürzt wiedergegeben worden:"Ich habe drei Dinge gesagt: Es geschah nicht in einem Vakuum - nichts auf der Welt geschieht in einem Vakuum. Ich sagte, das palästinensische Volk habe viel Leid erfahren. Und meine dritte Aussage war: Keine dieser Klagen kann die barbarische Attacke der Hamas rechtfertigen. Aber als meine Aussagen zitiert wurden, vor allem in der israelischen Presse, erschienen nur die ersten beiden Teile, und der dritte wurde vergessen." Auch UNRWA-Chef Philippe Lazzarini nimmt er gegen Kritik in Schutz und hält es auf Nachfrage auch für glaubhaft, dass Lazzarini von Tunneln unter dem Hauptgebäude der UNRWA nichts gewusst haben will: "Wir wussten vom Verdacht, dass unter manchen Gebäuden Tunnel sein könnten. Und jetzt wissen wir es sicher, weil enthüllt wurde, dass es ein Netzwerk von Tunneln gibt, die sich unter ganz Gaza erstrecken. Also kann man nirgendwo in Gaza sicher sein, dass es keinen Tunnel gibt."

Im Tagesspiegel-Gespräch mit Tessa Szyszkowitz kritisiert der ehemalige Vize-Generalstabschef des israelischen Militärs, Jair Golan, Netanjahu scharf: "Ich glaube, dass Benjamin Netanjahu seit vielen Jahren denkt, dass der russische Präsident Putin ein großartiger Führer ist. Sie regieren auf sehr ähnliche Weise. In der Ukraine herrscht Krieg. Und ich denke, dass es aus der Perspektive von Netanjahu nicht so schlecht ist, einen Krieg im Gazastreifen oder entlang der Nordgrenze zu führen. Der menschliche Preis ist für ihn zu vernachlässigen." Trotzdem brauche Israel eine neue gesamtgesellschaftliche Vision: "Es ist klar, dass wir heute in Israel einen völlig neuen Ansatz brauchen. Wir müssen wehrhaft bleiben, und zwar sehr. Aber gleichzeitig brauchen wir eine solidarische Gesellschaft. Und es stellt sich die Frage, wie das erreicht werden kann. Was für eine Art von Gesellschaft wollen wir aufbauen? Eine sehr religiöse Gesellschaft? Oder eine sehr fortschrittliche Gesellschaft? (...) Wir müssen auf eine Erziehung zu besserer Demokratie setzen, auf liberales Denken. Es ist also absolut notwendig, die nationale Sicherheit aus einem sehr weiten Blickwinkel zu betrachten."
Archiv: Politik

Medien

Im FAZ-Interview teilt Eva Berendsen, Co-Autorin einer neuen Studie der Bildungsstätte Anne Frank über die Social Media Plattform TikTok, ihre Beobachtungen zur Radikalisierung von jungen Menschen. Seit dem 7. Oktober hat die Verbreitung von antisemitischer Hetze noch einmal in extremem Maße zugenommen, meint die Politikwissenschaftlerin. Oft verbinden sich scheinbar banale Inhalte mit antisemitischer Propaganda: "Es gibt zum Beispiel Creatorinnen, die eigentlich Schminktipps geben und nebenbei antisemitische Inhalte verbreiten. In unserem Bericht verweisen wir auf ein Video ('Lamia'), in dem eine marokkanische Schminkexpertin eine verschwörungstheoretisch gefärbte Geschichte des Nahostkonflikts erzählt. Währenddessen schminkt sie sich die Landkarte von Israel und Palästina auf das Gesicht und malt dann die gesamte Region in palästinensischen Farben an - den jüdischen Staat gibt es nicht mehr…So etwas wird millionenfach geklickt. Antisemitismus wird auf Tiktok zum Trend." Schlimmer noch geht es in den Kommentarspalten zu, meint Berendsen, das alles muss die Gesellschaft aufhorchen lassen: "Der gesamtgesellschaftliche Auftrag ist es, die Plattform ernst zu nehmen. Das heißt, wir brauchen viel mehr hochwertigen Inhalt, und da sind wirklich alle gefragt: Verbände, Vereine, Stiftungen, Organisationen, Medien, demokratische Politiker"
Archiv: Medien

Gesellschaft

Im Zeit-Interview mit Carlotte Wald erklärt der Populismusforscher Phillip Manow, warum der Rechtsruck in Deutschland später kam als in anderen europäischen Ländern, und was die grundlegenden Ursachen seines Erfolges sind: "Ich denke - und das sind die Worte des niederländischen Populismusforschers Cas Mudde -, der Populismus ist die illiberale demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus. ... Der Populismus ist nicht der Gegner des Liberalismus, sondern sein Gespenst. Er ist ein Produkt einer liberalen Demokratie, die sich überdehnt hat, insbesondere in den 1990er-Jahren, und sich dabei sukzessive entdemokratisiert hat. Womit wir uns heute konfrontiert sehen, sind die Verwerfungen, die aus der in den Neunzigerjahren auf die Bahn gesetzten Dekonsolidierung des Nationalstaats resultieren. Massive Delegation politischer Entscheidungen an supranationale, nicht demokratische Organisationen, extreme Stärkung von Gerichten gegenüber Parlamenten, insbesondere in Europa, Verlust politischer Handlungsmacht in zentralen Politikbereichen."

Die deutsche Erinnerungskultur steht vor großen Herausforderungen, schreibt Kulturstaatsministerin Claudia Roth in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Nicht nur werde die Zahl von Zeitzeugen, die den Holocaust erlebt haben, immer geringer, auch müssen migrantische Blickwinkel mit einbezogen werden. "Eine moderne Erinnerungskultur in unserer Einwanderungsgesellschaft bietet die Chance für ein gemeinsames historisches Verständnis und weist Wege zur Integration. Wenn verschiedene Traumata aufeinanderprallen, sind das schmerzhafte Prozesse, die Mut und Respekt erfordern. Dann können sich aus Diskussionen zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Wissenschaft und Kultur fruchtbare Ansätze für neue Formen des Erinnerns entwickeln, in denen sich die gesamte Gesellschaft wiederfindet."

Eine Initative von hundert Frauen, darunter Kristina Lunz, die Gründerin des Centre for Feminist Foreign Policy, und die Aktivistin Düzen Tekkal, fordern den Bundesjustizminister Marco Buschmann dazu auf, "eine europaweite Vereinheitlichung des Sexualstrafrechts voranzutreiben", schreibt Ronen Steinke in der SZ. "Der Bundesjustizminister (...) ist bislang stur geblieben. Er hat sich von der Kampagne der hundert Frauen nicht bewegen lassen, die übrigen EU-Staaten auf das Prinzip 'Nein heißt Nein' zu verpflichten. Aus einem durchaus nachvollziehbaren Grund. Er will den konservativeren EU-Staaten keine Vorgaben machen - weil das sonst bald als Bumerang zurückkommen könnte. (...) Das ist klug. Bevor man sich mit Ungarn, Polen oder Italien demnächst unangenehme Diskussionen über - dann wahrscheinlich - einen konservativen Rollback im Sexualstrafrecht einhandelt, wendet man sich besser der Frage zu, was wir in Deutschland nun eigentlich anfangen mit dem noch immer neuen, hehren Vorsatz, dass Sex immer auf 'Konsens' beruhen müsse. Das ist nämlich noch überhaupt nicht klar."

Taz-Autorin Clara Löffler studiert an der FU und erinnert daran, dass es immer noch viele Studierende gibt, die keine extremen Positionen vertreten. Häufig herrsche Unsicherheit, viele zögen sich auch aus dem Diskurs zurück aus Angst etwas Falsches zu sagen oder verbal attackiert zu werden: "Was bleibt, sind die lautstark schreienden Extremen. Ihnen werden sowohl die Außendarstellung der Universität als auch der interne Diskursraum überlassen. Antisemitische und rassistische Äußerungen und Handlungen bleiben unwidersprochen. Nicht nur die Dozierenden, sondern auch die Studierenden waren immer stolz darauf, Teil einer progressiven Gemeinschaft zu sein, die sich für die universellen Menschenrechte und einen offenen Dialog einsetzt. Wenn wir dieses Image aufrechterhalten wollen, wenn wir wollen, dass sich jüdische und muslimische Studierende an der Universität willkommen fühlen, darf sich der Austausch nicht auf den privaten Bereich beschränken. Es müssen neue Räume geschaffen werden, an denen alle, auch die in der Mitte, teilnehmen."

Yannik Ramsel besucht für die Zeit verschiedene deutsche Hochschulen und spricht mit Lehrenden und Studierenden darüber, wie sie die Zeit nach dem 7. Oktober erfahren haben und wie ihre Uni mit dem polarisierenden Thema Nahostkonflikt umgeht. Cornelia D'Ambrosio, die Vorsitzende der Studierendenvertretung am Zentrum für Jüdische Studien in Heidelberg, hat Folgendes erlebt:  "Letztens sei sie mit einem Beutel durch Heidelberg gegangen, darauf die Aufschrift eines jüdischen Museums. "Ich wurde von einem Motorradfahrer angespuckt, mitten in der Stadt." Ein Heidelberger Studierenden-Café habe einen Davidstern mit einem Hakenkreuz darin gepostet. D'Ambrosio ist in Frankfurt geboren, jüdisch und hat sich Heidelberg auch deshalb ausgesucht, weil sie dachte, es gebe hier weniger antisemitische Vorfälle. Gilt das noch - für ihre Stadt, für die Hochschule?... In den letzten Jahren habe ihre Hochschule aber daran gearbeitet, sich der Gesellschaft zu öffnen. Studierende der Uni Heidelberg seien zu den Kursen eingeladen worden, es gab öffentliche Lesungen, Antisemitismus sei dabei fast nie ein Thema gewesen. "
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

In der NZZ erinnert Ulrich M. Schmid an die Ausbürgerung Alexander Solschenizyns 1974, die die Sowjet-Führung anordnete. Anlass bot damals die Veröffentlichung des "Archipel Gulags" und der "Brief an die sowjetische Führung". "Für seine Heimat empfahl Solschenizyn keineswegs die Demokratie, die er von manipulierten Emotionen und Ränkespielen geprägt sah. Er wünschte sich ein autoritäres System, das aber die bürgerlichen Freiheiten respektieren solle. (...) Überhaupt zog Solschenizyn bereits in diesem Brief gegen die 'katastrophale Schwäche des Westens' vom Leder. (...) Russland habe sich zwar entschlossen, zum Westen zu gehören, aber im Gegensatz zu Europa und den Vereinigten Staaten blieben dem weniger entwickelten Russland noch zwanzig Jahre bis zum Ende der Sackgasse. Diese Zeit gelte es jetzt zu nutzen. Solschenizyn bezeichnete dabei den 'nationalen Egoismus' als hohen politischen Wert. Bereits im 'Brief an die sowjetische Führung' sind also alle Elemente angelegt, die Anfang der 2000er Jahre zum historisch unwahrscheinlichen und ideologisch naheliegenden Schulterschluss zwischen dem ehemaligen Lagerhäftling Solschenizyn und dem ehemaligen Geheimdienstoffizier Putin führten."

Deutschland war schon immer ein Export-Land, erklärt der Historiker Frank Bösch im Tagesspiegel-Interview mit Jan Kixmüller. Alte NS-Eliten gaben hierbei in den 1950ern den Ton an, mit wem Geschäfte gemacht werden sollten. "Die Kontinuität von NS-Eliten, etwa im Auswärtigen Amt und anderen Institutionen, förderte ein Verständnis für autoritäre Staaten. Viele Botschafter berichteten tolerant über Militärputsche und sahen diese als Garant für Sicherheit und Ordnung. Auch viele Unternehmen bewerteten die Ausschaltung von Gewerkschaften und Protesten als Stabilität. Mit Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit argumentierten viele Eliten, dass die Deutschen nicht als 'Schulmeister' für Menschenrechte und Demokratie auftreten sollten. Die Linke argumentierte seit den 1960er Jahren genau umgekehrt: Gerade wegen unserer Vergangenheit sollten die Deutschen sich einmischen und Opfern helfen."

Arno Widmann erinnert in der FR an das Ende des Afghanistan-Krieges vor 35 Jahren, an dessen Ende eine Millionen Afghanen gestorben waren. "In Afghanistan mochte die Sowjetunion davon ausgegangen sein, dass ihr die blamable Niederlage, die das britische Weltreich hier Ende des 19. Jahrhunderts erlitten hatte, erspart bleiben würde, weil es inzwischen Flugzeuge gab, die auch in entlegensten Bergtälern versteckte Stellungen bombardieren konnten. Aber es gab inzwischen auch leicht transportierbare Abwehrraketen. Und die USA statteten den afghanischen Widerstand großzügig damit aus. Angebot erzeugt Nachfrage: In Windeseile entstanden immer neue kampfbereite Gruppierungen (...). Auch die Frage der Verschleierung oder Nichtverschleierung von Frauen spielte eine Rolle. Sie alle wurden von den USA und ihren Verbündeten - zu denen damals in der Afghanistanpolitik die Volksrepublik China zählte - mal mehr, mal weniger massiv unterstützt."
Archiv: Geschichte

Ideen

Bestellen Sie bei eichendorff21!
In ihrem 2023 erschienenen Buch "Die Durchquerung des Unmöglichen" plädiert die Philosophin Corine Pelluchon für mehr Hoffnung auf eine bessere Welt in Zeiten des Klimawandels und Demokratie-Krise. Optimismus hält sie dagegen im FR-Interview mit Michael Hesse nicht für angebracht, da dieser den Ernst der Lage durch seine bloße Fortschrittsgläubigkeit nur verschleiere: "Ich will den Begriff des Fortschritts nicht über Bord werfen, aber man kann nicht sagen, alles ist perfekt. Optimismus ist also nicht nur eine Lüge, sondern auch ein Hindernis. Er ist eine Verleugnung. Es ist so schwierig, seine eigenen Illusionen zu verlieren, dass man die Neigung hat, zu vergessen und so zu tun, als ob es keine Probleme gäbe. Die Verdrängung unserer Angst, die Verleugnung unserer Todesangst hat dramatische Folgen; sie trägt dazu bei, dass wir uns wie starke Menschen sehen, weiter konsumieren und politische Führer wählen, die dem Bild der Allmacht entsprechen. Trotz der Informationen über den Klimawandel ändern die Menschen ihre Essgewohnheiten in Bezug auf Fleisch nicht. Und weil sie sich verloren fühlen, wollen sie einem Heroismus frönen, um das zu verschleiern. Wir alle haben viele Illusionen. Wir sind enttäuscht und fühlen uns angesichts der großen Gefahren hilflos. Wir leben in einer Ungewissheit, die unser Leben kennzeichnet."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Hoffnung, Klimakrise, Klimawandel