9punkt - Die Debattenrundschau

Ambivalenzen gab es trotzdem

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2024. Die UNRWA ist der institutionalisierte Antizionismus - und schadet letztlich den Palästinensern, meint Sascha Lobo auf Spon. Der Krieg in Gaza zeigt vor allem, wie wenig Zutrauen wir in die Wehrhaftigkeit Europas haben können, glauben Herfried Münkler und Carlo Masala in der SZ. In der FAZ halten Claus Leggewie und Horst Meier den Verfassungsschutz für ebenso nutzlos wie ein AfD-Verbot. Vorausschauend hat Selenskyj Mechanismen initiiert, die der Ukraine eine Fortsetzung des Kampfes erlauben, ohne von den USA abhängig zu sein, erzählt dessen Biograf Simon Shuster im Tagesspiegel
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.02.2024 finden Sie hier

Politik

Nachdem UN-Generalsekretär Antonio Guterres gestern in der Zeit seine "Kontextualisierungen" rechtfertigen durfte und den Ahnungslosen markierte, was die Hamas-Tunnel unter den eigenen Hauptquartieren angeht (unser Resümee), wirft Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne einen schonungslosen Blick auf die UNRWA, die seiner Meinung schon aus Eigeninteresse dazu da ist, den Flüchtlingstatus der Palästinenser zu perpetuieren. Für Lobo besteht geradezu ein Bündnis zwischen UNRWA und Hamas: "Die UNRWA ist der institutionalisierte Antizionismus - und hat damit sowohl räumlich wie auch in ihrer Zielsetzung eine Überschneidung mit der Hamas. Deshalb sind die Verbindungen zwischen beiden Organisationen kein Wunder." Und dieses Bündnis schadet laut Lobo in erster Linie den Palästinensern selbst: "Viele palästinensische Familien investieren privat viel, um ihren Kindern gute Ausbildungen zu ermöglichen. Es nützt jedoch innerhalb der Flüchtlingszirkel nur wenig, denn auch die arabischen Bevölkerungen grenzen die ewigen Flüchtlinge aus, und zusammen mit dem Arbeitsverbot lindert sich die Not der Menschen kaum. Das muss man 75 Jahre nach der Staatsgründung Israels als Absicht betrachten. Das wiederum spielt der UNRWA in die Hände - denn auf diese Weise hat sich das Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge unentbehrlich gemacht." Für Lobo gibt es zur Auflösung der UNRWA keine Alternative.

Beide Parteien im Gaza-Krieg hätten die Möglichkeit den Krieg sofort zu beenden, erinnert Ronen Steinke in der SZ. Während der Druck der internationalen Gemeinschaft auf Israel angesichts der Angriffspläne auf Rafah immer größer wird, höre man seltener, dass ja auch die Hamas es in der Hand hätte, das Sterben in Gaza zu beenden: "Die Hamas könnte, nein sie müsste schon längst auch einem grundlegenden Appell des Völkerrechts nachkommen, der rechtlich kein bisschen weniger dringend und zwingend ist als der Appell an Israel, für die Zivilisten in Rafah Evakuierungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Hamas müsste Rafah verlassen, unverzüglich. Die vier Bataillone der Hamas, die sich - nach israelischen Angaben - in Rafah verschanzt halten, inmitten von Kindern, Alten, Geflüchteten."

Seit dem Beginn des Krieges in Gaza hat Ägypten die Grenze zum Gaza-Streifen noch einmal massiv aus Angst vor einer Massenflucht verstärkt. Anna-Theresa Bachmann blickt auf Zeit Online auf den prekären israelisch-ägyptischen Frieden, der durch die Kämpfe schwer belastet wird: "Immerhin zählte der 1979 unterzeichnete Friedensvertrag lange zu den wenigen verlässlichen Sicherheitsgarantien in der Region. Darüber hinaus galten die Beziehungen Israels zum ägyptischen Regime unter Abdel Fattah al-Sissi als gut: Noch Mitte 2022 hatte die EU ein Abkommen mit beiden Ländern eingefädelt, um israelisches Gas über Ägypten nach Europa zu liefern… Ambivalenzen gab es trotzdem. Das zeigte sich laut dem Ägypten-Experten Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin etwa im Sommer 2023, als ein ägyptischer Polizist das Feuer auf israelische Grenzsoldaten eröffnete. Der Angreifer und drei israelische Soldaten wurden damals getötet. Netanjahu bezeichnete den Vorfall als Terroranschlag, auf ägyptischer Seite hieß es hingegen, die Schießerei hätte im Zusammenhang mit der Eindämmung von Drogenschmuggel gestanden. 'Das war ein Moment, in dem sehr deutlich wurde, dass der Frieden beider Länder ein kalter Frieden ist', sagt Roll."

Eran Rolnik ist Psychoanalytiker und seit Jahren vehementer Kritiker der Regierung in Israel. Damit das Trauma der israelischen Gesellschaft heilen kann, braucht es eine stabile Gesellschaft, sagt er im Zeit Online-Interview mit Moritz Hackl. Dies sei aber nicht möglich, solange die Regierung Netanjahus die Demokratie gefährde und den aktuellen Konflikt mit reiner Gewalt lösen wolle. Allein werde Israel diese Aufgabe nicht bewältigen können: "Die deutsche Geschichte lehrt, dass nationalistische Tendenzen geheilt werden können, dass Niederlagen durchaus ein Ausgangspunkt zur Heilung sein können und dass Zwangsbehandlung seinen Platz hat, nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in der internationalen Politik. Für Deutschland mag es schwierig sein, Israel moralisch unter Druck zu setzen. Aber das wäre nötig. Europa und die USA müssen sich einmischen. Nicht militärisch, sondern beratend. Die israelische Gesellschaft radikalisiert sich zunehmend, die Demokratie ist in Gefahr. Israel bräuchte eine Intervention, wie man sie bei einem Alkoholiker machen würde."

Die Politikwissenschaftler Carlo Masala und Herfried Münkler denken im großen SZ-Interview über Russland und die Ukraine, den Rechtsruck in Deutschland und die bröckelnde Vormachtstellung des Westens nach, die sich laut Masala und Münkler auch im Gaza-Krieg beobachten lässt. Münkler meint: "Die Bedeutung des Gaza-Kriegs ist weltpolitisch kaum zu unterschätzen, weil eine Situation entstanden ist, bei der die USA und Europa auf längere Sicht nur verlieren können. Er zwingt zur Beantwortung einer der zentralen Fragen der internationalen Politik: Wer ist eigentlich der Hüter einer Ordnung? Im Moment operieren vor allem die USA und Großbritannien dort in dieser Funktion. Für die ungleich entscheidenderen USA wird es innenpolitisch aber zur Zerreißprobe, weil die Republikaner ihre Anhänger mit der Frage mobilisieren, warum Amerikaner im Mittleren Westen für Sicherheitspolitik im Mittleren Osten bezahlen sollen. Wenn die USA nichts tun, wird ihr Image als Weltmacht weiter beschädigt, und wenn sie reagieren, leidet die Zustimmung zu Biden und den Demokraten." Masala: Dem würde ich nur hinzufügen wollen, dass die Lage im Roten Meer gerade gut zeigt, wie wenig Zutrauen wir in die Wehrhaftigkeit Europas haben können. Die Handelsroute betrifft uns wesentlich mehr als die Amerikaner, trotzdem ist unsere Militärmission dort rein defensiv. Die offensiven Sachen müssen die Amerikaner machen, auch, weil wir dazu technisch vielfach gar nicht in der Lage sind."
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Religion

Der Rapper Ghali hatte auf dem Popfestival von Sanremo den "Völkermord" in Gaza beklagt, Roberto Sergio, Chef des öffentlich-rechtlichen Senders RAI, hatte daraufhin seine Solidarität mit Israel erklärt, erhielt Todesdrohungen und steht nun unter Polizeischutz, berichtet Matthias Rüb, der in der FAZ nicht nur auf die Verwerfungen in Italien, sondern auch auf das Verhältnis des Vatikans zu Israel blickt. Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin hatte "das Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen als unverhältnismäßig kritisiert und angesichts von 30.000 Toten sein 'Entsetzen über dieses Gemetzel' geäußert hat. Es gebe 'eine allgemeine Einschätzung, dass es so nicht weitergehen kann und dass andere Wege gefunden werden müssen', sagte Parolin, der seine scharfe Kritik am Vorgehen Israels im Gazastreifen gewiss nicht ohne die Zustimmung von Papst Franziskus geäußert hätte. (…) Papst Franziskus hat sich in den rund elf Jahren seines Pontifikats deutlich mehr um den Dialog mit dem Islam bemüht als um eine weitere Annäherung an das jüdische 'Brudervolk', und dieser Umstand widerspiegelt sich in der Haltung zum Konflikt zwischen dem jüdischen Staat und den muslimischen Palästinensern."

Ruhrbaron Thomas Wessel kommt indes auf den Weltgebetstag der Frauen (WGT) zurück (Unser Resümee), eine internationale Frauen-NGO, die den Terror gegen Juden gern beschweigt. Nach dem 7. Oktober hat zumindest das deutsche Komitee seine Liturgie angepasst, allerdings mit "fatalem" Ende, so Wessel: "'Wir beten für Jüdinnen und Juden, die sich hier in Deutschland nicht sicher fühlen …' Die Fürbitte am Ende des Gottesdienstes ist neu, umso beschämender, dass sich im epischen Vorwort  -  das sich selber in einen liturgischen Rang aufschwingt  -  kein einziges Wort findet, das Mitgefühl ausdrücken würde für die, die Hamas in Israel hingeschlachtet hat und zu Tausenden verletzt. Die 'Terrorakte' werden eingangs 'unfassbar und grausam' genannt und 'scharf verurteilt', nirgends aber ein Moment der Erschütterung, kein Gedanke an Angehörige, keine Bitte für die, die in Angst vergehen um ihre Liebsten, von Hamas als Geisel genommen. Ebensowenig ein mitfühlendes Wort für palästinensische Familien, die Hamas in die Schusslinie zwingt, dazu verurteilt, todesgeilen 'Märtyrern' als Schutzschild zu dienen. Stattdessen liest man beim WGT von 'jüngsten Ereignissen', die vor 'besondere Herausforderungen' stellten, ein 'Bedeutungsrahmen' habe sich 'verschoben', das Beten müsse 'kontextualisiert' werden, es benötige 'Einordnung' … Derart kalt ist dieses liturgische Vorwort, dass es die 'Sehnsucht' blamiert, die es beschwört. Reine Selbst-Rechtfertigung."
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Medien

Ghazaleh Zaren, Nichte des in Deutschland lebenden Journalisten Farhad Payar, Redaktionsleiter des deutschen Exilmediums Iran Journal und ehemaliger Mitarbeiter der Deutschen Welle, wurde im Iran zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt, unter anderem wegen Zusammenarbeit mit "antirevolutionären Ausländern", berichtet Sieba Abdi in der FAZ: "Neben der dreijährigen Haftstrafe muss sie sechs Monate lang Teile des Buchs 'Die Zukunft der Islamischen Revolution' von Morteza Motahhari, einem der Begründer des Islamischen Republik, studieren und anschließend eine Prüfung ablegen. Gegen das Urteil hat sie Widerspruch eingelegt. Der Fall landet im Februar vor dem Revisionsgericht, bis dahin kann die Justiz Zarea allerdings jederzeit verhaften. 'Das Revisionsgericht handelt natürlich auch im Sinne des Staates und in der Regel sind die konsequent', lautet Payars Einschätzung auf die Frage, wie wahrscheinlich es sei, dass in zweiter Instanz zugunsten seiner Nichte entschieden werde. (...) 'Dadurch werden sie mir zeigen: 'Wir lassen das nicht unbestraft, was du gemacht hast.' Allein, dass ich mit Ihnen darüber spreche, ist in deren Augen völlig unakzeptabel, eine Straftat. Man darf öffentlich über ihre repressiven Maßnahmen nicht sprechen', sagt er."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Weshalb die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus nicht schon früher eingesetzt haben, kann sich der Protestforscher Dieter Rucht im FAZ-Gespräch auch nicht genau erklären. Immerhin war die Gesinnung der AfD schon vor den Correctiv-Recherchen bekannt: "Die Leute waren offenbar in einer Warteposition und wussten nicht, wann sie etwas tun sollten und was genau sie tun sollten. Durch die ersten Demonstrationen gab es dann auf einmal ein Handlungsmuster, das andere übernommen haben. Dann folgte ein Effekt der wechselseitigen Verstärkung. Das funktioniert wie ein grippaler Infekt." Der Höhepunkt der Demonstrationswelle sei wohl schon wieder vorbei, meint er: "Viele wollten vielleicht einmal ein Signal setzen. Das haben sie mittlerweile getan. Außerdem ist der gemeinsame Nenner des Gemeinsam-gegen-Rechtsextremismus zu unscharf. Bisher war noch gar keine Zeit, auf den Demonstrationen oder andernorts darüber zu sprechen, was das für konkrete politische Maßnahmen bedeutet, etwa in der Migrationspolitik. Wenn es konkreter wird, geht es politisch auch wieder auseinander."

Der Yale-Absolvent Simon M. Ingold geht in der NZZ der Frage nach, ob der Antisemitismus an amerikanischen Elite-Universitäten mit den Spenden aus arabischen Ländern zu tun hat: "Gemäss dem amerikanischen Bildungsministerium stammten im Zeitraum von 1986 bis 2022 insgesamt 44 Milliarden Dollar der Spenden an amerikanische Universitäten aus ausländischen Quellen. Rund 11 Milliarden davon entfielen auf den arabischen Raum." Aber, meint Ingold, diese Summe erscheine nur auf den ersten Blick groß. Es lasse sich nicht nachweisen, dass Katar oder Saudi Arabien einen "weltanschaulichen Einfluss" auf die Ivy League hätten. Das Problem, so Ingold, liege bei den Studierenden, derem binären "Gut und Böse"-Denken sich die Unis gebeugt hätten: Die Generation Z "hat sie dazu verleitet, ihren moralischen Kompass über Bord zu werfen, aus Angst, von ihren eigenen, selbstgerechten und verweichlichten Studenten gecancelt zu werden. Die Konsequenzen dieser Bankrotterklärung gehen weit über den Hamas-Konflikt hinaus. Wir müssen sie sehr ernst nehmen, wenn wir an die Zukunft unseres Problembewusstseins, unserer Debattierkultur und der Demokratie allgemein denken."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

So schlecht wie die Franzosen etwa mit Blick auf die geschlossenen Goethe-Institute meinen, steht es um die deutsch-französischen Beziehungen nicht, meint Lena Bopp in der FAZ. Immerhin gebe es genug Beispiele, "die umgekehrt von größerem, deutschen Interesse am Nachbarland zeugen. Allen voran in der Literaturbranche, die ihre Übersetzungen teils mithilfe staatlicher Subventionen finanziert: Nach wie vor werden weit mehr französische Gegenwartsautoren ins Deutsche übersetzt als umgekehrt; anders als Gewinner des Deutschen Buchpreises werden Bücher, denen der Prix Goncourt zuerkannt wird, immer ins Deutsche übertragen; von den vielen Neuübersetzungen französischer Klassiker in den vergangenen Jahren mal ganz abgesehen. Das Interesse ist jedenfalls wach. Und wo es fehlt, wird sein Fehlen so wortreich beklagt, dass man sich um die kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen beider Länder weit weniger sorgt als man bedauert, dass sie nicht nutzbarer gemacht werden."

Marlene Militz konstatiert auf Zeit Online eine schwere Krise der deutschen Erinnerungskultur: "Die Berechtigung, die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit bei der Umsetzung des Projekts der deutschen Erinnerungskultur anzuzweifeln, lässt sich bereits anhand der Diskussionen um ihre wohl größte Manifestation in Berlins Stadtmitte - dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas - begründen. Die Debatte um das Holocaust-Mahnmal dauerte zehn Jahre an. James E. Young, damaliges Mitglied der Findungskommission, machte in einer Rede vor dem Bundestag 1997 den polemischen Punkt, man solle doch statt eines architektonischen Symbols lieber die Debatte darum fest verankern: 'Lieber tausend Jahre Holocaust-Gedenkwettbewerbe in Deutschland als eine 'Endlösung' für Deutschlands Holocaust-Gedenkfrage.'
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Europa

In einer funktionierenden Demokratie ist der Verfassungsschutz, diese "Gesinnungsgouvernante", nutzlos, erwidern in der FAZ Claus Leggewie und Horst Meier auf Gerhart Baum, der Anfang Februar ebenda einen Widerspruch gegen die Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes eingelegt hatte. Leggewie und Meier zeichnen die Skandale der letzten Jahre nach und kommen auch auf ein AfD-Verbot zu sprechen: "Die Illegalisierung einer starken Partei würde die Demokratie, die präventiv geschützt werden soll, stark beschädigen: Der Verbotsartikel ist schlicht eine Fehlkonstruktion. Und wie würde man denn das Verbot einer Partei rechtfertigen, die bei den nächsten Landtagswahlen in Ostdeutschland rund ein Viertel der Wähler hinter sich bringt und in Thüringen eventuell noch mehr? Was kann der Verfassungsschutz da tun, außer das Offensichtliche zu statuieren? Ein Drittel der Ostdeutschen wählt eine Partei, deren rechtsradikale Ziele überdeutlich geworden sind. Tun sie das etwa, weil ihnen ein Geheimdienst das nicht rechtzeitig erklärt hat - oder nicht vielmehr in vollem Bewusstsein? Nicht im Geheimen agierende Ämter haben uns mitgeteilt, wie die AfD tickt und mit identitären Vordenkern verbandelt ist, sondern dafür viel geeignetere Instanzen: Wissenschaft, investigativer Journalismus, Bürgerinitiativen und politische Bildung."

Correctiv, die russische Menschenrechtsorganisation Memorial und Radio Sacharow, das Exilmedium des Moskauer Sacharow-Zentrums, hatten gestern in der Volksbühne zur Podiumsdiskussion "Aggressor Russland: Was macht die russische Zivilgesellschaft?" geladen. Für die taz resümiert Katja Kollmann den Abend, bei dem Alexander Cherkasov von Memorial darlegte, dass das Unheil in Russland nicht erst mit Putin angefangen habe. Der imperiale Gedanke sei in der Bevölkerung tief verankert: "Dieser Wunsch nach imperialer Größe wurde bereits auch unter Boris Jelzins Herrschaft (1991 bis 1999) bedient, wie Cherkasov darlegt. Exemplarisch im ersten Tschetschenienkrieg (der 1994 begann), dem Krieg der Moskauer Zentralmacht gegen eine kleine autonome Republik am Südrand des Herrschaftsgebiets im Kaukasus. Cherkasov konstatiert, dass von 1994 bis 1996 im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen im Nordkaukasus zweimal so viel Menschen ihr Leben verloren haben wie beim Wiederaufflammen des Konflikts drei Jahre später. Aber es war damals noch möglich, sich für Wandel einzusetzen. Diesen Handlungsspielraum gibt es beim zweiten Krieg nicht mehr!"

Laut Community Security Trust (CST), eine der beiden Organisationen, die neben der britischen Polizei für die Sicherheit jüdischer Gemeinden und Einrichtungen verantwortlich sind, hat sich die Zahl antisemitischer Vorfälle in Großbritannien mit einer Zahl von 4.103 Übergriffen auf Juden mehr als verfünffacht, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz: "Die Statistik fächert die Vorfälle auch nach Art auf. Demnach handelt es sich in 3.328 Fällen mindestens um eine Beschimpfung und Beleidigung. Zudem registriert wurden 305 Bedrohungen, 266 physische Angriffe, 182 Fälle von Beschädigung oder Entwürdigung jüdischer Orte, und 22 Vorfälle, die mit antisemitischer Literatur zu tun haben. Besonders beunruhige den CST, dass in einem Fünftel aller Fälle die Betroffenen des Antisemitismus jünger als 18 Jahr alt waren."

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Im Tagesspiegel-Interview mit Kai Müller und Anja Wehler-Schöck charakterisiert der Selenskyj-Biograf ("Vor den Augen aller Welt") Simon Shuster den ukrainischen Präsidenten. Seit dem Krieg habe er sich verändert, meint Shuster, der Humor und die Leichtigkeit, die in ausmachten, seien fast gänzlich verschwunden. Nichtsdestotrotz sieht er immer noch große Entschlossenheit und betont Seleskyjs vorausschauendes Handeln, auch im Fall eines Wahlsiegs von Trump. Der ist "diesbezüglich sehr deutlich. Er würde die amerikanische Unterstützung einstellen. Selenskyj verhält sich angesichts dieser Gefahr diplomatisch und strategisch. Längst hat er Mechanismen initiiert, die seinem Land eine Fortsetzung des Kampfes erlauben, ohne von den USA abhängig zu sein. Dazu gehört der Aufbau von Waffen- und Munitionsfabriken in der Ukraine. Er will unbedingt vermeiden, einem Druck nachgeben zu müssen, der ihn in Friedensverhandlungen mit unakzeptablen Ergebnissen zwingt."
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Geschichte

"Der Umgang der NS-Behörden mit Schwarzen war insgesamt widersprüchlich", sagt die Historikerin Susann Lewerenz im taz-Gespräch: "Klar ist aber, dass es früh rassistische Ausgrenzung sowie individuelle Verfolgung durch Polizei und politische Gruppierungen gab. Ein Einschnitt war die Ermordung des Schwarzen Kommunisten Hilarius Gilges 1933 wohl durch SS und SA in Düsseldorf. Überhaupt wurden Schwarze Linke, die sich in den 1920er-Jahren im Zuge der Antikolonialismus-Bewegung zusammengefunden hatten, gleich nach der Machtübergabe an Hitler 1933 massiv verfolgt." Aber: "1934 gab es eine Diskussion zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Reichsinnenministerium darüber, ob man Menschen aus den ehemaligen Kolonien aus der Diffamierung ausnehmen könnte. Das hatte nichts mit Menschenfreundlichkeit zu tun, sondern man glaubte die an Frankreich und Großbritannien verlorenen Kolonien auf diplomatischem Wege zurückbekommen zu können. Daher sollten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, die den Deutschen ohnehin ihre Grausamkeit in den Kolonien vorwarfen, nicht sagen können, dass Schwarze Menschen aus den Kolonien auch hierzulande diskriminiert würden."
Archiv: Geschichte