9punkt - Die Debattenrundschau

18.000 Soldaten und 11.000 Pferde

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2024. "Schuldig in allen Anklagepunkten" - in New York wurde ein historisches Urteil gegen Donald Trump gefällt, aber die New York Times macht keine Hoffnung, dass er auf eine Kandidatur verzichtet. Endlich kursiert ein prominent unterzeichneter und internationaler Aufruf gegen BDS an Universitäten, wir zitieren. In der NZZ zeichnet Michi Strausfeld ein trauriges Bild von der Lage in Argentinien. Und die SZ beleuchtet Mexiko, wo zwei Frauen für die Präsidentschaftswahlen kandidieren. Die taz fordert einen Gedenkort für den Völkermord an den Herero und Nama in Hamburg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2024 finden Sie hier

Politik

Die New York Times bringt auf ihrer Homepage eine angemessen große Betitelung: Donald Trump ist in seinem New Yorker Prozess um die Vertuschung von Schweigegeldern für eine Porno-Darstellerin als Geschäftsausgaben und anderen Fällen durchweg "schuldig" gesprochen worden:



Maggie Astor stellt in einem ersten Kommentar für die Times die Frage aller Fragen, deren Antwort wir alle aber längst schon kennen: "Kann er noch kandidieren?" Aber klar: "Die Verfassung stellt nur sehr wenige Anforderungen an die Wählbarkeit von Präsidenten. Sie müssen mindestens 35 Jahre alt sein, von Geburt an über die US-amerikanische Staatsbürgerschaft verfügen und seit mindestens 14 Jahren in den Vereinigten Staaten leben. Es gibt keine Einschränkungen aufgrund des Charakters oder des Strafregisters. Einige Bundesstaaten verbieten Straftätern die Kandidatur für staatliche und kommunale Ämter, aber diese Gesetze gelten nicht für Bundesämter."

"Wir müssen den Krieg sofort beenden und erklären, dass wir uns vollständig aus dem Gazastreifen zurückziehen", fordert Israel Ex-Premier Ehud Olmert im ZeitOnline-Gespräch, in dem er Netanjahu zwar deutlich anklagt, aber dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof nicht befürwortet. Olmert plädiert nach wie vor für eine Zweistaatenlösung: "Es gibt praktische Lösungen, die es ermöglichen, einen palästinensischen Staat auf der Grundlage der 1967er-Grenzen zu errichten. Natürlich, die Realität hat sich verändert, sehr viel mehr Israelis leben heute im besetzten Westjordanland. Es wird also Gebietstausche geben müssen zwischen Israel und den Palästinensern, es wird Umsiedlungen von Israelis geben müssen, aber das ist machbar. Genauso wie eine Verbindung von Westbank und Gazastreifen über eine Autobahn, die vollständig von den Palästinensern kontrolliert wird. Das ist alles nicht einfach - aber es kann umgesetzt werden."

In der FR erinnert Michael Hesse an die Gründung der PLO vor sechzig Jahren, die heute beim Wiederaufbau des Gazastreifens keine Rolle mehr spielen dürfte: "Nach Arafats Tod 2004 setzte sich der Machtverlust der PLO unter Mahmud Abbas fort. Die PLO bleibt die international anerkannte Vertreterin der Palästinenser, doch der Vertrauensverlust in der Bevölkerung ist wegen Korruption und interner Konflikte unter Abbas immens. Die Trennung zwischen dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und der PA im Westjordanland schwächt die PLO zusätzlich. Sie hatte maßgeblich zum Wachstum des nationalen Bewusstseins und Solidaritätsgefühls unter Palästinensern beigetragen, um nun bis zur Unkenntlichkeit zu verblassen."

In der NZZ zeichnet die Literaturvermittlerin Michi Strausfeld ein Elendsbild Argentiniens, das unter Javier Mileis drastischen Kürzungen ächzt. Subventionen von Kulturinstitutionen wurden teils völlig gestrichen, das Institut gegen Diskriminierung und Xenophobie ebenso aufgelöst wie das Kulturministerium - und Bücher sind so teuer geworden, dass die Buchhandlungen eine Rückgang von 30 bis 40 Prozent beklagen, schreibt Strausfeld: "Manche von Buenos Aires' Einwohnern glauben bereits, in einer Stadt des Schreckens zu leben, in der die Polizei keine Verbrechen verhindert, aber den Bettlern die Matratze wegzieht und ihre wenige Habe konfisziert. Gerade findet man sie überall, das Elend ist unübersehbar. Argentinien, jahrzehntelang die Kornkammer der Welt', kann seine Bevölkerung nicht mehr ernähren. Vor den Suppenküchen, deren Mittel ebenfalls gekürzt wurden, während die Bedürftigkeit rasant zunimmt, stehen lange Schlangen, ganze Familien bitten verzweifelt um Hilfe. Auf der stolzen Prachtstraße Florida werden alle fünf Meter Dollar zum Tausch angeboten, Billigläden haben die noblen Geschäfte ersetzt. Überall die Schilder: Ratenkauf möglich. In vier Monaten gab es zwei Warnstreiks. Als Milei jedoch die Mittel für die Universitäten kürzte und ihnen in der Folge das Licht buchstäblich ausging, rebellierte ganz Argentinien."

Am Sonntag wird in Mexiko gewählt, mit der Physikerin Claudia Sheinbaum und der Unternehmerin Xóchitl Gálvez werden zwei Frauen die größten Chancen für die Präsidentschaft zugerechnet. Dabei ist die Gewalt gegen Frauen in Mexiko in den letzten dreißig Jahren vollkommen außer Kontrolle geraten, berichtet Christoph Gurk auf Seite 3 der SZ : "Jeden Tag werden im Schnitt fast zehn Mexikanerinnen ermordet, weil sie Frauen sind. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen". Die Ursachen liegen unter anderem im Männlichkeitswahn der mexikanischen Gesellschaft: "Man sieht ihn in den telenovelas, in denen meist hilflose Frauen auf einen Retter warten. Man hört ihn in den traditionellen rancheras, gesungen von Musikern wie Vicente Fernández... Es ist nicht so, als gebe es keinen gesellschaftlichen Fortschritt in Mexiko. Der Oberste Gerichtshof hat 2023 Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert. Die Regierung hat sogar versprochen, eine dezidiert feministische Außenpolitik betreiben zu wollen. Und schon seit den Neunzigern gibt es in einigen Bundesstaaten und auch im Parlament eine Quotenregelung."
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Ideen

Konnte sich der Philosoph Leander Scholz Ende der Achtziger noch mit den Idealen der Linken identifizieren, fehlt ihm heute, wo die postkoloniale Linke auch Antisemitismus in Kauf nimmt, jedes Verständnis. Mit dem 11. September ist aus dem ehemals antiimperialistischen ein antiwestlicher Kampf geworden, schreibt er in der Welt. Und er weist auf lange Kontinuitäten in der intellektuellen Linken hin. "Schon die Kommunisten des 19. Jahrhunderts hatten ein erhebliches Problem damit, die Juden im Klassenkampf richtig unterzubringen und entschieden sich in der Regel dazu, sie der Kapitalseite zuzuschlagen. Das gleiche Problem haben heute die Postkolonialisten, und sie tun es genauso, indem sie aus den Juden in Israel einfach Kolonialherren machen. Der daraus resultierende Antisemitismus ist kein Nebeneffekt, sondern der gezielte Versuch, die einen Opfer aufzuwerten, indem die anderen abgewertet werden."
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Gesellschaft

Seit einigen Tagen kursiert in den sozialen Medien ein internationaler und breiter Aufruf von Professoren, vielen prominenten darunter, der sich endlich mal deutlich gegen BDS-Aktivitäten ausspricht: "Unabhängig davon, wie jeder von uns derzeit die Situation vor Ort analysiert und die Aktionen der israelischen Regierung und Armee bewertet, möchten wir klarstellen, dass wir gegen jede Form von Boykott gegen israelische Wissenschaftler und israelische akademische Einrichtungen sind. Wir treten entschieden für die Zusammenarbeit und die Fortsetzung der Arbeit mit ihnen ein. Wir sind auch davon überzeugt, dass die schrittweise, oft subtile Ausgrenzung israelischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Grundprinzipien des professionellen Verhaltens und der akademischen Freiheit widerspricht. Darüber hinaus ist ein akademischer Boykott gegen Israel kontraproduktiv für die innerisraelischen Debatten und den israelisch-palästinensischen Dialog." Lanciert wurde der Aufruf von der Philosophin Anne Rethmann und den Historikern Daniel Siemens und Helmut Walser Smith. Zu den Unterzeichnern gehören unter anderen Seyla Benhabib, Steven Pinker, Detlev Claussen,Friedrich Wilhelm Graf, Eva Illouz, Armin Nassehi, Christoph Möllers, Hans Joas und Rahel Jaeggi.

Wie sich die Ausgrenzung verbreitet, zeigt ein Zufallsfund auf Twitter, ein Thread der amerikanischen Journalistin Gabby Deutch, der BDS-Aktivitäten bei amerikanischen Psychotherapeuten aufzeigt: "In mindestens einem großen Online-Forum ist Israel buchstäblich zu einem Lackmustest geworden - und zu einem Zugangshindernis. Eine Facebook-Gruppe für Therapeuten mit einer privaten Praxis mit 25.000 Mitgliedern verlangt seit dem 7. Oktober von allen Mitgliedern, dass sie sich verpflichten, 'gegen Unterdrückung' und 'für Palästina' zu sein." In anderen Gruppen sprechen sich Mitglieder ab, Therapeuten mit "zionistischen Verbindungen" keine Patienten zuzuweisen. Mehr hier.

Die Likes der TU-Präsidentin Geraldine Rauch für israelfeindliche Tweets sind trotz ihrer Entschuldigung nicht ganz ausgestanden. Sie habe sich ohnehin erst entschuldigt, "nachdem die Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra sie dazu gedrängt hatte", setzt Thomas Thiel heute in der FAZ nach. Hinzu kommt, dass ihre Likes jetzt von dem von ihr selbst frisch ernannten Antisemtismusbeauftragten Uffa Jensen als "nicht per se" antisemitisch eingestuft worden waren. Aber Jensen ist selber umstritten, denn das der TU angegliederte Zentrum für Antisemitismusforschung, aus dem er kommt, nimmt allenfalls Antisemitismus von rechts wahr, so Thiel: "Die Jüdische Studierendenunion hält Jensen gerade angesichts des grassierenden muslimischen und israelbezogenen Antisemitismus für eine Fehlbesetzung. Das TU-Präsidium hielt dem seine umfangreiche Expertise im Themenbereich Antisemitismus entgegen. Leider erstreckt sie sich nicht auf jene Formen, mit denen jüdische Studenten an den Universitäten konfrontiert sind."

"Wir sind das Volk" rufen jene, die heute Politiker attackieren und manchmal verletzen. Claudius Seidl versucht in der FAZ zu ergründen, auf welche Traditionen sich diese Gewalttäter eigentlich berufen: "Das scheint eine Form des Tocqueville-Paradoxons zu sein (wonach man Rechte erst einmal haben muss, um noch mehr Rechte zu fordern); und zugleich sieht es aus wie eine Karikatur von Rousseaus volonté générale, die ja, gerade weil sie aufs Ganze zielt, den Willen der Mehrheit ignorieren darf. Damals lief das auf Robespierre hinaus; heute sind es Bauern, wütende Kleinstädter oder Schläger, die Rousseau noch nicht einmal zu kennen brauchen."
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Medien

Das ausländerfeindliche Sylter Gegröle hat zu seltsamen medialen Konstellationen geführt, die Michael Hanfeld in der FAZ aufspießt. Besonders eifrig dabei, die Namen der Gröler aufzudecken, waren Jan Böhmermann und die Bild (seltsamer Weise erklärt Hanfeld dann aber doch lieber die sozialen Medien zu den eigentlichen Orten des Bösen). Einige haben ihren Job verloren. Dabei gilt: "Vom Tatbestand der 'Volksverhetzung' könne man so einfach nicht ausgehen, die identifizierende Berichterstattung sei rechtswidrig, sagte der Medienanwalt Felix Damm im Gespräch mit der FAZ... Doch was schert das Böhmermann und die Bild? Die Moralwächter sind sich ihrer Sache sicher. 'Bild berichtet darüber und nennt die Schande beim Namen', teilte das Boulevardblatt dem Fachdienst Kress mit."
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Geschichte

Die Stadt Hamburg war tief in den Völkermord an den Herero und Nama verstrickt. Gedenkorte gibt es nicht. Nun werden in der Hafencity spektakuläre Neubauten geplant - genau an der Stelle, "wo einst die Truppen nach 'Deutsch-Südwest' verschifft wurden", schreibt Jonas Kähler (taz) und bezieht sich auf eine Historiker-Initiative für eine Gedenkstätte: "Mehr als 90 Prozent der am Völkermord beteiligten deutschen Truppen reisten über den Ort, an dem jetzt die neuen Gebäude entstehen sollen, in das Kolonialgebiet. Mehr als 18.000 Soldaten und 11.000 Pferde wurden über den Petersenkai im Hamburger Baakenhafen verschifft. Die Bevölkerung zelebrierte die An- und Abfahrten der Truppen, teilweise kamen Tausende Zuschauer*innen in den Hafen. Regierungsvertreter reisten an, die Soldaten bekamen 'Liebesgaben' mit auf die Reise: Das waren meist Postkarten oder Zigarettentäschchen, die der Senat extra anfertigen ließ."
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