In einem Postskriptum zu seinem online abrufbaren Text über eine aktuelle Gedächtnisstudie behauptet Frank Schirrmacher, meine pointierte Zusammenfassung dieser Studie in der Feuilletonrundschau von gestern sei ein Beispiel für die im Netz übliche "talmudische" Lektüre, vulgo: schlicht falsch. In einem hat er, das gebe ich auf der Stelle zu, recht: Ich habe die Studie nicht gelesen, was daran liegt, dass sie nicht frei zugänglich ist. Ein Abo von Science (da ist sie erschienen) besitze ich nicht und kann ich mir auch nicht leisten und lege ich mir darum nicht einmal für den sicher edlen Zweck zu, Behauptungen in Schirrmacher-Texten zu verifizieren.

Was ich allerdings sehr wohl gelesen hatte, war neben diversen Zusammenfassungen der Studie (zum Beispiel in der New York Times, in der einzig von "trivia questions" die Rede ist) ein Text, den Schirrmacher in seinem Artikel selbst ausdrücklich erwähnt - und lobt: Giesbert Damaschkes Kommentar zu den dubiosen, reißerischen, falschen Pointierungen der Ergebnisse in deutschen Medien. Ich frage mich, ob Schirrmacher diesen Eintrag gründlich gelesen hat, denn Damaschke begreift die Ergebnisse der Studie in ganz derselben Weise wie ich, genauer gesagt: Das, was Damaschke schrieb, schien mir nach Lage der mir zugänglichen Fakten mehr als plausibel, eben deshalb habe ich in dem Sinn pointiert. (Das hat nichts damit zu tun, dass ich einfach irgendwas, das ich im Netz lese, glaube. Sondern damit, dass mir Damaschke seit mehr als zehn Jahren als Stimme der Vernunft aus verschiedenen Kontexten, von Internet- bis Arno-Schmidt-Fragen, sehr vertraut ist.)

Aber etwas genauer zur Sache, zur durchaus entscheidenden Frage danach, wie "banal" (beziehungsweise "unwichtig") oder "entscheidend" wohl die Dinge sind, auf deren Übernahme ins eigene Gedächtnis man dank Google verzichtet. Daran hängt das tendenziell apokalyptische Szenario, das Frank Schirrmacher entwirft und das darauf hinausläuft, dass wir letztlich wesentliche Teile "unserer Identität" in die Hände von Suchmaschinen legen. Was für ein Begriff von "unser" und "Identität" dahintersteckt, wäre gesondert zu hinterfragen, dafür ist hier aber nicht der Ort und der Platz.

Zur Frage der Bedeutsamkeit oder Banalität kann man immerhin Betsy Sparrow, Leiterin der Studie, im Originalton hören, nämlich in diesem bei YouTube zugänglichen Interview, das sie dem Sender PBS gab:



Auf die Frage, welche Sorte von Wissen wir an Google vergessen, antwortet sie, ich übersetze wörtlich: "Die Dinge, die wir im täglichen Leben nicht brauchen, Dinge, für die wir keine Experten sind, die Dinge also, bei denen wir selbst nicht die Quellen des transaktiven Wissens sind." Sicherlich kann man lange über die Bedeutung von Wörtern wie "banal" oder "wichtig" philosophieren; es versteht sich auch von selbst, dass in den unendlich ausdifferenzierten Leben, die wir führen, die Banalität des einen das Wesentliche des anderen ist - eines lässt sich aber ganz sicher sagen: Das Wissen, das wir Tag für Tag brauchen, das Wissen, das unser Spezialwissen ist, das Wissen, für das wir - beruflich, privat - Expertise besitzen, das lagern wir keineswegs aus. Es scheint mir nicht unvernünftig, genau dies als das für uns "wichtige" und also keineswegs "banale" Wissen zu betrachten.

Ohnehin lernen und wissen wir ja nie einfach "Fakten", sondern wir lernen und erinnern in einem unendlich eng verwobenen Netz von Zusammenhängen, die wir im Lauf unseres Lebens erfahren, gelernt, erinnert und das heißt: immer schon (bewusst oder unbewusst) bewertet und eingeordnet haben. Anders gesagt: Unser Gehirn ist kein Speicher, kein Regalsystem und nicht einfach nur ein Archiv. Ein einzelnes Faktum kann nur dann interessant sein, wenn es ins System unseres vorvernetzten und vorbewerteten Weltwissens passt - und dieses zusätzlich bestätigt, oder verändert. (Alles andere wäre schier redundant, informationstheoretisch gesprochen: keine Information.)

Man lernt und erinnert also immer in Situationen und aus jenem je persönlichen Zusammenhang des Erlernten und Vernetzten und Bewerteten heraus, den man mit Fug und Recht Identität nennen kann. Die Bewertung, was man sich notwendig selbst merken muss, und was man vergessen darf, solange man nur weiß, wo man es schnell wieder findet, gehört da selbstverständlich dazu. Es scheint mir nicht falsch und auch nicht "talmudisch", diese Bewertungsvorgänge als solche zu begreifen, die - für einen je selbst und persönlich - zwischen "banal" und "relevant" oder "wichtig" und "unwichtig" scheiden. Zu den "transaktiv" abrufbaren Speichern (Lexika, Mitmensch) tritt verstärkt nun das per Suchmaschine abrufbare WWW hinzu. Und daran soll schon wieder die europäische Identität untergehen?

Ein weiteres kommt hinzu. Wenn Lernen und Erinnern immer situativ ist, wenn wir also nie bloße oder nackte "Fakten" lernen nach Art eines Lexikons, sondern wenn wir jedes "Faktum" notwendig auf der Stelle nach den Kriterien "interessant" (für mich) oder nicht, brauche ich oder nicht justament bewerten, dann wird es grundsätzlich fraglich, wie sehr eine Studie nach dem Muster der hier verhandelten überhaupt unser Erinnern, Lernen, Vergessen abbilden kann. Eine solche Testsituation ist von vorneherein (und kaum vermeidbar) künstlich. Lernen ist nicht Büffeln von Fakten, oder anders gesagt: Auch beim Büffeln lernt man nur wirklich, wenn man die Fakten in die eigenen existierenden, plastischen Weltwissensnetze sinnvoll einordnen kann. Fakten, die keine puzzleartigen Passstellen für uns haben, stoßen wir als Fremdkörper ab.

In einer Situation, wie sie der von Sparrow geschaffene Test schafft, sind alle "trivia"-Fakten, die man aufnehmen soll, tendenziell solche Fremdkörper. Nur das wenigste, was man so liest und erfährt, ist für einen selbst wichtig und interessant. Kein Wunder, dass man überaus dankbar ist, diese Fakten anderswo als im eigenen begrenzten Gedächtnis aufbewahren zu können. Oder andersherum: Was einem "wichtig" erscheint, das behält man. Das erscheint mir so evident, dass mir die Ergebnisse dieser Studie selbst in großer Nähe zur Banalität zu siedeln scheinen. Wenn Frank Schirrmacher daraus aber außerordentlich weit reichende Schlüsse ziehen zu müssen glaubt, dann scheint mir das vor allem durch seine Vorurteile und Interessen erklärlich. Es stehen für meine Begriffe genuin konservative Untergangsängste, beziehungsweise eine ebenso genuin konservative Angst vor einer stets unsicheren offenen, so chancen- wie risikoreichen Zukunft, dahinter. All dies geht als Bewertungswissen in die scheinbar so leichtfertige Zusammenfassung eines Artikels als Hintergrundwissen ein.

Ekkehard Knörer