Bücher der Saison

Politische Bücher Frühjahr 2020

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
06.04.2020. Über das Kapital, das Haus des Islam, das Schweigen der Mitte. Politische Bücher von Thomas Piketty, Ruud Koopmans u.a.
Literatur / Sachbücher / politische Bücher

Politische Bücher

Die Debatte über den Islam ist angesichts anderer Themen - Klimawandel, Rechtsextremismus, von Corona ganz zu schweigen - etwas in den Hintergrund geraten. Aber gerade in dieser Saison sind einige interessante Bücher erschienen, die noch nicht alle besprochen wurden. Breites Echo fand allerdings Ruud Koopmans' "Das verfallene Haus des Islam" (bestellen). Der in der FAZ rezensierende Islamwissenschaftler Lutz Berger findet darin einigen Stoff für die Suche nach den Gründen für das Demokratiedefizit in muslimischen Staaten. Laut Koopmans kann nur eine innerislamische Reformbewegung dieses Defizit ausbalancieren - im Deutschlandfunk resümierte Matthias Bertsch eine Buchvorstellung und Diskussion mit Koopmans und legt dar, wie wichtig das Schlüsseljahr 1979 für Koopmans' Argumentation sei. Zwei Bücher seien flankierend empfohlen: Necla Kelek analysiert den Islam. den Koopmans gewissemaßen von außen betrachtet, von innen: durch einen Blick auf "Die unheilige Familie" (bestellen), die sie als als die Grundeinheit einer zugleich religiösen wie politische Doktrin begreift. Sie macht macht glasklar, dass der Islam sich nur dann modernisieren kann, wenn in muslimischen Ländern die Rolle der Frau radikal reformiert wird. Und die algerische Feministin Wassyla Tamzali prangert in ihrem Buch "Eine zornige Frau" (bestellen) den Kulturrelativismus der westlichen Linken an, der die Kritik am Islam mit Rassismus verwechsele.

Necla Keleks fulminantes, aber auch recht unbequemes Buch wurde bisher in keiner der führenden Zeitungen, die der Perlentaucher auswertet, besprochen! Ganz andere Akzente setzt dagegen Kübra Gümüsays Buch mit dem  hochtrabenden Titel "Sprache und Sein" (bestellen), eines der meist besprochen politischen Bücher der Saison. Da die Autorin ein ziemlich radikales Kopftuch trägt, das außer dem Gesicht den ganzen Kopf unsichtbar macht, und zugleich beklagt, dass "Menschen als Individuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden", bringt sie die Rezensenten in eine Art Double bind: Leugnet man die betonte Differenz, so ist man "rassistisch", feiert man sie, dann nimmt man sie nicht als Gleiche wahr - es ist der double bind, in den der postkoloniale Diskurs die Mehrheitsgesellschaft stürzt. Die Rezensenten haben sich sehr differenziert daran abgearbeitet - keine Kritik ist ganz positiv, was zeigt, wie hakelig eine Auseinandersetzung um Gleichheit bleibt, wenn zugleich der Anspruch erhoben wird, sich als "anders" abzuheben. Den Anspruch der Autorin, frei von Stigmatisierungen und in kultureller Vielfalt leben zu wollen, unterstützen wohl alle Rezensenten. Aber nicht mal der taz-Rezensent, will eine Spiritualität anerkennen, die sich nicht darum schert, was andere darüber denken.

Die klügsten Sätze über die postkolonialen Diskurse, in denen sich gesellschaftliche Gruppen vor allem als Opfer definieren und aus diesem Status Forderungen ableiten, hat die Rabbinerin Delphine Horvilleur im Februar in der Welt gesagt (unser Resümee): "Wir leben heutzutage in Zeiten absoluter Opferkonkurrenz. Viele Lebensentwürfe funktionieren nur noch als Opfergeschichten. Als ob die Tatsache, dass man etwas erlitten hat, einem besondere Rechte verleihen würde. In diesem psychologischen Kontext wirken die Juden seit der Schoah wie die unweigerlichen Helden des Leids. Weil niemand die Figur des Opfers besser verkörpert als sie, nimmt man ihnen übel, einem auch diese Rolle geraubt zu haben." Horvilleurs "Überlegungen zur Frage des Antisemitismus" (bestellen) wurden breit besprochen. Alle loben die Eleganz und Präzision von Horvilleurs Argumentation.

Auch die Hongkonger Unruhen sind durch die Corona-Krise in den Hintergrund geraten - und stehen doch damit in Zusammenhang. In Hongkong hat schon die Sars-Krise 2002 gewütet, und sie spielt in diesem Buch Joshua Wongs, der als Gesicht der Hongkonger Demokratiebewegung gilt, bereits eine Rolle. Überzeugt haben Marko Martin in Wongs Buch "Unfree Speech" (bestellen) die empathischen Porträts von Mitstreitern im Buch und Wongs umfassender Blick auch auf soziale und Umweltprobleme in seiner Stadt, während ihm Sven Hansen in der taz eine Idealisierung Amerikas vorwirft. Die beste Kritik zu dem Buch erschien im Guardian. Julia Lovell macht klar, um was für einen verzweifelten Kampf es sich handelt. Wong sieht sich dabei in der Frontlinie eines kalten Krieges, in dem ein mächtiges Regime im Kampf gegen die Demokratie immer mehr triumphiert.

Thomas Piketty hat mit "Das Kapital im 21. Jahrhundert" (broschierte Ausgabe bestellen) 2013 ein Standardwerk vorgelegt, das für immer zu definieren trachtete, worin Ungleichheit begründet sei und wie man ihrer Herr wird. Nun legt er mit "Kapital und Ideologie" (bestellen) einen eher ideologiegeschichtlichen Rundumschlag nach, dessen 1.300 Seiten die zahlreichen Rezensenten doch eher schwer im Magen zu liegen scheinen. Arno Widmann lobt in der FR den Schwung des Werks, vermisst aber die Frauenfrage, die in Piketty ökonomischen Erwägungen komplett zu fehlen scheint. Ulrike Herrmann hat in der taz eine etwas arrogant klingende Kritik geschrieben, in der sie behauptet, dass Pikettys Daten sowieso alle im Netz stehen, so dass man den "Brei", den er da anrühre, gar nicht brauche. Aber für Waltraud Schelkle von den London School of Economics, die in der FAZ schreibt, ist Piketty der Marx des 21. Jahrhunderts. Und auch SZ-Rezensent Andreas Zielcke lernt hier einiges über einen möglichen neuen Ansatz zur Sozialdemokratie. Es werden sich wohl noch einige Studierende mit dem Brocken abmühen müssen.

Wenn die Corona-Krise vorbei ist und die AfD nicht vollends erledigt hat, was wohl eher ein Wunschtraum ist, stellt sich wieder die Frage, ob man "mit Rechten reden" soll. Klar, meint die Freiheitsforscherin Ulrike Ackermann in ihrem jüngsten Buch "Das Schweigen der Mitte" (bestellen), nur so kann man Kante zeigen. Sie schlägt eine Schneise durch die Tabuverletzungen der Rechten und die Tabusetzungen der modischen Linken und porträtiert en passant einige zur Zeit interessante Intellektuelle. Den Antitotalitarismus sieht sie nicht als obsolet an, zur Freude von Marko Martin in Dlf Kultur. Im Inforadio kann man ein ausführliches Gespräch mit Ackermann hören. Auch "Die Kunst des Miteinander-Redens" (bestellen) von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun befasst sich mit den Dilemmata der heutigen hysterisierten Öffentlichkeit. Und in Umberto Ecos nachgelassenen Vorträgen zum "Ewigen Faschismus" (bestellen) kann man nachlesen, dass die Probleme, die wir haben, zumindest alte Wurzeln haben. Die Kritiker fanden's anregend. Nur Thomas Steinfeld von der SZ, der mit "Italien - Porträt eines fremden Landes" (bestellen)  gerade ein Buch über Italien heute vorlegt, ist skeptisch.

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