Bücher der Saison

Frühjahr 2008

Die umstrittensten, am besten und am häufigsten besprochenen Bücher der Saison
22.04.2008. Okay, da sind die "Feuchtgebiete", da sind Jonathan Littells SS-Fantasien, da sind ein paar wackere deutsche Romane. Aber es gibt nur zwei Bücher, die auf einhelliges Echo der Kritiker stießen. Eins ist gut, das andere ist böse. Außerdem lasen die Kritiker herausragende Comics. Kroatien interessierte nicht alle, aber einige um so mehr. Ein Blick auf die Bücher des Frühjahrs 2008.
Es gab in dieser Saison genau zwei Bücher, auf die sich die Kritiker reich-ranicki-mäßig einigen konnten: Martin Walsers Goethe-Roman "Ein liebender Mann" ist ein gutes Buch, "Unser Kampf", Götz Alys Buch über 68, ist ein böses Buch. Viele Bücher mussten sich in diesem Jahr mit einer Kritik begnügen. Ausgenommen Jonathan Littell. Und ausgenommen der deutsche Roman. Letzterer wurde allerdings gerade in drei Essays kritisch beäugt: Richard Kämmerlings wünschte sich in der FAZ leise flehend ein kleines bisschen mehr Lebenswirklichkeit von deutschen Autoren. In der Weltwoche fragte Peer Teuwsen: "Wer riskiert eigentlich noch etwas in der deutschen Literatur?" (außer Michael Kumpfmüller). Wer riskiert eigentlich noch was in der deutschen Literaturkritik, fragte sich dagegen im Perlentaucher Sieglinde Geisel, die den Jubel für Clemens Meyer ziemlich bequem fand. Unter den Sachbüchern stach Tilman Nagels Mohammed-Biografie und Thomas W. Laqueurs "Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung" hervor. Der Perlentaucher stürzt sich in den Ozean der Saison.


Kroatische Literatur, Frühlinge / Romane / Comics, Erzählungen, Lyrik, Hörbuch / Reportagen / Sachbücher


Kroatische Literatur

Dirk Knipphals beklagte kürzlich in der taz eine gewisse Provinzialität der deutschen Literaturkritik, und wenn man sich die Frühjahrsbeilagen ansah, musste man ihm Recht geben: es wurden hauptsächlich deutsche Romane besprochen. Literatur aus Kroatien, dem Gastland der Leipziger Buchmesse (mit eigener Website), kam in den Literaturbeilagen kaum vor. Also fangen wir damit an.

In den jetzt auf Deutsch erschienenen Romanen spielt der Krieg eine wichtige Rolle - sei es der letzte, vorletzte oder vorvorletzte. In Ivana Sajkos Roman "Rio Bar" sitzt eine junge Frau in einer Bar, trinkt und erinnert sich an ihre Hochzeit, die mit dem Kriegsbeginn zusammenfiel. Igor Stiks' Roman "Die Archive der Nacht" erzählt entlang der Geschichte eines vaterlosen Jungen vom Holocaust, dem Kommunismus und dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens in den Neunzigern. Miljenko Jergovics Familienroman "Das Walnusshaus" erzählt - witzig, mitreißend und lebensprall, fand die taz - die Geschichte des Westbalkan von der Ablösung der osmanischen Herrschaft bis zur Bombardierung Dubrovniks Anfang der Neunziger. Edo Popovics Roman "Kalda" erzählt vom Aufwachsen im Sozialismus mit zu viel Drogen und zu wenig Sex, vom Überleben als Fotograf im Krieg und im darauf folgenden Turbokapitalismus. Außerdem neu erschienen: Olja Savicevics Erzählungen "Augustschnee" und Roman Simics Erzählungen "In was wir uns verlieben".

In diesem Frühjahr veröffentlicht der Wieser Verlag 19 Bücher kroatischer Autoren (hier das Programm, leider nur als pdf). Der Daedalus Verlag hat sechs Gedichtbände kroatischer Autoren - Anka Zagar, Jaksa Fiamengo, Vlado Gotovac, Andriana Skunca, Luko Paljetak und Nikica Petrak - veröffentlicht.

Einen guten Eindruck vom literarischen Klima in Kroatien - und besonders von dem Dichter Delimir Resicki (sein Gedichtband "Arrhythmie" gerade in der Edition Korrespondenzen erschienen ist) und dem Erzähler Miljenko Jergovic ("Das Walnusshaus") - bekommt man bei Gregor Dotzauer im Tagesspiegel.

Mirko Schwanitz stellte in der Deutschen Welle die Autorin Olja Savicevic und den Autor Dalibor Simpraga vor, der als Blogger "Andrej Puplin" in Kroatien berühmt wurde: "Andrej Puplin war ein Name, den ich in einer meiner Geschichten erfunden hatte. Diese Geschichten waren im Zagreber Slang geschrieben und setzten sich mit den Problemen meiner Generation in den neunziger Jahren auseinander. Aber ich habe auch sehr ernsthafte Interviews mit diesem Andrej Puplin gemacht. Tatsächlich meldeten sich daraufhin zahlreiche Zeitungen bei Simpraga, ob er ihnen behilflich sein könne, ebenfalls ein Interview mit diesem Andrej Puplin zu bekommen", erfuhr man im Bayerischen Rundfunk. Auf Deutsch gibt es noch nichts von Simpraga.

Für Arte bloggten während der Buchmesse vier kroatische Autoren: Edo Popovic, Ivana Sajko, Alida Bremer und Delimir Resicki. Von letzterem stammt diese schöne Passage: "Was ich heute lese? Das, was mir noch irgendetwas über irgendetwas außerhalb des Kreises reinen Totschlagens schwerer kleinbürgerlicher Langeweile sagt. Tag für Tag lese ich mit besonderer Freude zum Beispiel Bela Hamvas, das ungarische Genie, das behauptete, der Verstand könne beim Anhäufen von Wissen auf ebenso fatale Weise 'einschlafen' wie bei Unwissenheit. Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb Nietzsche einmal etwas Ähnliches. Ich paraphrasiere: man sollte im Leben eigentlich nicht mehr als fünf bis sechs Bücher lesen, dafür aber wirklich wichtige." (Bela Hamvas' Hauptwerk "Karneval" wird übrigens von Gabor Altorjay und Carsten Dene ins Deutsche übersetzt, die für ihre Arbeit weitere Sponsoren suchen! Mehr hier.)

Lesern, die nicht gleich zu einem Roman greifen möchten, sei zur ersten Orientierung die von Nenad Popovic herausgegebene Anthologie "Kein Gott in Susedgrad" empfohlen. Das Buch sammelt Geschichten von Stanko Andric, Tomica Bajsic, Vlado Bulic, Boris Dezulovic, Zoran Feric (Bild, mehr), Tatjana Gromaca, Simo Mraovic, Robert Perisic, Roman Simic, Dalibor Simpraga und Igor Stiks. Mehr zu dieser Anthologie beim Deutschlandradio Kultur. In einem Interview mit dem Blog Autorenschrittmacher stellt Nenad Popovic das Programm seines Verlags Durieux vor.

Schließlich hat die Zeitschrift Die Horen ihren neuesten Band der kroatischen Literatur der letzten 25 Jahre gewidmet.


Frühlinge


Kann man ein postmoderner Dreißigjähriger sein und trotzdem ein interessantes Leben führen? Thomas Pletzinger beschreibt in seinem Erstlingsroman "Bestattung eines Hundes" () einen Versuch. Der als Journalist arbeitende Ethnologe Daniel Mandelkern lässt sich in einen Roman ziehen, der New York, Brasilien, eine leidenschaftliche Dreiecks-Beziehung und literarische Anspielungen von Uwe Johnson bis Clifford Geertz vereint. Für Richard Kämmerlings, der gerade in der FAZ mehr Realitätsbezug in der Literatur gefordert hatte, reine "Geistesgegenwartsliteratur". Der NZZ rauchte der Kopf. Die Mittvierziger hatten's da einfacher, die zogen einfach von einem badischen Spargelacker ins ummauerte Westberlin, und schon war was los. Christiane Rösinger, Frontfrau der Band Britta, erzählt in "Das schöne Leben" wie es war und wie es jetzt ist: "Anstatt einen angesagten Club zu betreten, empfiehlt sie, sich vor ihm aufzuhalten", notiert die SZ, die sich mit dieser Haltung anfreunden kann.

Mit solchem Kleinkram hält sich Charlotte Roche in "Feuchtgebiete" () nicht auf. Ihre Vorstellung von Aufregung besteht darin, mit 220 Seiten drastisch formulierter Fantasien einer 18-Jährigen über "untenrum" einen Amazon-Nr.1-Weltbestseller zu verfassen und den ollen Jonathan Littell mit seinen 1388 Seiten drastisch formulierter SS-Phantasien zur Seite zu schubsen. Der Economist staunte: Sex verkauft sich sogar in Deutschland! Die Kritiker schlossen den obersten Hemdenknopf und fragten: Ist dieser Roman Grundlage für ein weibliches Selbstbild, in das die Differenz zwischen intimer Wirklichkeit und öffentlicher Inszenierung ganz selbstverständlich eingespeist ist (Ingeborg Harms in der FAS)? Mastdarmfixierte Stellenprosa (Susanne Mayer in der Zeit)? Begrüßenswertes Pamphlet für Masturbation (Jenni Zylka in der taz)? So voller Gegenwart? (Roger Willemsen auf der Buchbauchbinde) Autohagiografie (Patrick Bahners in der FAZ)? Protest gegen die Heidi-Klum-Welt (Lothar Müller in der SZ)? Gesprungen als Tiger, gelandet als Bettvorleger (Rainer Moritz in der Welt)? Bräsig zufriedener Tabubruch (Stephan Maus im Stern)? Radikales Kunstwerk (Eckhard Fuhr in der Welt)? Überkandidelter Comedy-Auftritt (Nochmal Müller)? Kluger Roman (Nochmal Bahners)? Seichter Roman (Nochmal Zylka)? Genauso differenziert sehen das auch 402 Amazon-Leser oder die Leserinnen des Blogs Mädchenmannschaft.

Gut, wenn auch nur je einmal besprochen: Die Engländerin Bethan Roberts erzählt in "Stille Wasser" mit einer verschachtelten Konstruktion vom Selbstmord eines schwulen 16-Jährigen im England der achtziger Jahre. Jonathan Barnes liefert mit "Das Albtraumreich des Edward Moon" () einen von Coleridge inspirierten phantastischen Kriminalroman, mit einem Magier als Hauptperson, der sich von körperlich deformierten Huren angezogen fühlt. Der polnische Autor Jacek Dehnel setzt mit "Lala" seiner Großmutter ein Denkmal, einer couragierten Dame des Landadels, die noch die deutschen Besatzer bezirzte. Und die in Amerika lebende Russin Olga Grushin erzählt in "Suchanow verkauft seine Seele" von einem Künstler, der im politischen Wandel der achtziger Jahren seine Seele verliert.


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