Bücherbrief

Staatstreue Feingeister

02.10.2008. Der große Schmöker zur DDR-Vergangenheit, eine Dreiecksgeschichte in der Türkei, ein subtiler Comic über den Nahostkonflikt, Lenin revolutioniert die Schweiz, eine Kulturgeschichte des alten Chinas und ein Band über arabische Typografie - die alles und mehr in den Büchern des Oktobers.
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Noch mehr Anregungen gibt es natürlich weiterhin
- im vergangenen Bücherbrief
- in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag"
- in den "Büchern der Saison" vom Frühjahr 2008
- und in der Shortlist des Deutschen Buchpreises mit Links zu allen Kritiken


Literatur

Uwe Tellkamp
Der Turm
Roman
Suhrkamp Verlag Frankfurt 2008, 24,80 Euro



Was "Das Leben der anderen" fürs Kino war, scheint Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" für die deutsche Literatur zu sein. Endlich ist er also da, der große Schmöker zur DDR-Vergangenheit. Tellkamp schildert eine Enklave in der Enklave, eine bürgerliche Minderheit im Dresden der DDR-Zeit. Die FAZ nennt es eine DDR-"Menagerie staatstreuer Feingeister" a la Hacks und Hermlin. Die Kritiker schnappen nach Luft vor Begeisterung. Sabine Franke in der FR lobt zum Beispiel den Detailreichtum des Romans, in dem die DDR eine schauerliche Präsenz zurückerhalte. Und das alles in einem "behaglichen, zurückgezogenen, deutschen bürgerlichen" Erzählton, wie Helmut Böttiger in der Zeit notiert, als wäre es ihm nicht ganz geheuer. Jens Bisky bemüht in seiner SZ-Kritik die einfachste Vokabel: "ein Meisterwerk".


Christian Kracht
Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2008, 16,95 Euro



Christian Kracht lässt in seinem neuen Roman mit dem umständlichen Titel, die Weltgeschichte mal eben ganz anders abschnurren. Lenin kehrt nicht nach Russland zurück, sondern verbreitet sein Unheil in der lauschigen Schweiz. Die Kritiker reagierten auffallend schnell - Kracht ist eine Szenefigur -, aber auch zwiespältig. Eva Behrendt äußert sich in der FR nicht gerade fasziniert. Sie liest den Roman als prätenziöses Kuddelmuddel mit ungenierten Anspielungen auf Joseph Conrads totvariiertes "Herz der Finsternis". Laut Wiebke Porombka in der taz holt Kracht gewaltig aus, um nix zu erzählen, jedenfalls nichts von Belang. Für Gustav Seibt in der SZ hat immerhin Krachts Sprache magische Wirkung. Sie müsste nur außerdem etwas sagen. "Kann man Lenin nicht vielleicht jetzt noch schnell in den Zug setzen, um all den Wahnsinn ungeschehen zu machen?", fragt dagegen Volker Weidermann in der FAS. Er findet das Buch wahnsinnig, aber eben auch interessanter als "die Welt, wie sie ist, mit langweiligen Realismus-Romanen".


Orhan Pamuk
Das Museum der Unschuld
Roman
Carl Hanser Verlag, München 2008, 24,90 Euro



Die Kritiker hatten im September schon richtig zu tun. Auch beim neuen Roman von Orhan Pamuk waren sie alle rechtzeitig da. Eine Dreiecksgeschichte, die ganz nebenbei archaische Züge aus der modernen Türkei hervorholt, scheint "Das Museum der Unschuld" zu sein. Der Erzähler widmet seiner schönen, aber leider bei einem Unfall verstorbenen Geliebten eine Art Sammelkult. Und Sammeln ist eine melancholische Tätigkeit, wie Andreas Kilb in seiner sehr angeregten FAZ-Kritik anmerkt. Wie Kilb fügt sich auch für Angela Schader (NZZ) in den so zusammengetragenen Dingen aus dem Leben der schönen Füsun ein Porträt der Türkei in den siebziger und achtziger Jahren zusammen. Jörg Plath gibt in der FR unumwunden zu, dass er sich gelangweilt hat.


Krimi

Deon Meyer
Weißer Schatten
Thriller
Rütten und Loening, Berlin 2008, 19,95 Euro



Deon Meyer schildert die Gegenwart Südafrikas, in Krimiform. Die Verhältnisse in einem Staat also, in dem die Gewalt sehr präsent ist. Der Roman verschweigt zwar, so die FR, nicht die Brutalität der Verbrechen, verfällt dabei aber niemals ins Spekulative. Im Zentrum der Handlung steht eine weiße Südafrikanerin, die mit einem Bodyguard auf der Suche nach ihrem verschollenen Bruder ist. Ein Nationalpark wird zum Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen Naturschützern und Wilderern. "Authentisch" urteilt die FR. Meyer erweise sich als der ehrliche "Chronist einer schuldbeladenen Gesellschaft", lobt die Zeit.


Comic

Rutu Modan
Blutspuren
Edition Moderne, Zürich 2008, 28 Euro



Dieses Buch wurde so viel besprochen wie kein anderer Comic der letzten Zeit. Gelobt wird, dass die israelische Autorin und Zeichnerin Rutu Modan darin zwar den Nahostkonflikt zwar ins Zentrum stellt, dabei aber sehr subtil behandelt. Es geht um eine junge Frau, die fürchtet, ihr Geliebter, ein deutlich älterer Mann, sei bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen. Mit dessen Sohn bewegt sie sich durch Israel und versucht, die Behörden auf Trab zu bringen. Die taz lobt, dass sich das "Lebensgefühl" der Protagonistin überzeugend überträgt, die FAZ erkennt eines der "scharfsichtigsten Porträts" der israelischen Gegenwart und die NZZ begeistert sich für den bei aller Einfachheit "tiefenscharfen" Zeichenstil.


Sachbuch

Hans-Ulrich Wehler
Deutsche Gesellschaftsgeschichte
Band 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990
C.H.Beck Verlag, München 2008, 34,90 Euro



Kein Feuilleton lässt dieses Buch unbesprochen: es ist zweifellos ein Ereignis. Zur Krönungsmesse eines bedeutenden Historikers aber geraten die Besprechungen nicht. Zwar ist in kaum einer der vielen Rezensionen der Respekt für das mit diesem Band zum Abschluss kommende Werk zu überhören. Für einen wirklich gelungenen Abschluss von Wehlers großer Gesellschaftsgeschichte hält freilich kaum ein Rezensent diese Fortschreibung bis zur Wiedervereinigung. "Imponierend" immerhin findet Wehlers Kollege Norbert Frei in der NZZ den Band - und hat dann doch am polemischen Ton wie am rein strukturalistischen Ansatz etwas auszusetzen. Die Zeit freut sich über den "Antipostmodernismus", doch scheint ihr der "Leistungsfanatismus" Wehlers befremdlich. Noch kritischer gehen schließlich taz, FR und SZ mit dem Buch ins Gericht - insbesondere des Autors die Verachtung streifendes Desinteresse an der DDR trifft auf wenig Verständnis.


Roland Barthes
Die Vorbereitung des Romans
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 18 Euro



In den letzten Vorlesungen vor seinem Unfalltod im Jahr 1980 nähert sich Roland Barthes dem Projekt eines eigenen Romans. Wenn auch auf Umwegen: mit Überlegungen zum Haiku, zu Autoren wie Tolstoi und Kafka und vor allem zu Proust. Den Roman schrieb er nie - und hätte er womöglich auch niemals geschrieben -, aber schon diese Vorlesungsmitschriften sind für die FAZ ein "literarisches Ereignis". Großartig geistreich findet die taz diesen Band, die SZ folgt Barthes' gerne dabei, wie er bei den Autoren, über die er spricht, den eigenen Weg zum subjektiven Schreiben nachvollzieht. Die FR konstatiert bei Barthes - erfreut und überrascht - eine in diesen Vorlesungen dokumentierte "Rückkehr zur Biografie".


Daniel Dennett
Den Bann brechen
Religion als natürliches Phänomen
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main 2008, 28,80 Euro



Vorbehalte haben die Rezensenten schon gegen dieses Buch, vor allem aufgrund seiner Nähe zu Richard Dawkins' brachial soziobiologischem Atheismus-Pamphlet "Gotteswahn". Konsequent evolutionär argumentiert auch Dennett in seiner Beschreibung der Religion, bis hin zur Übertragung des Darwinismus auf die Kultur mithilfe des Mem-Begriffs. Selbst der insgesamt kritische NZZ-Kritiker lobt aber die ruhige Gangart der Argumentation. Und die FAZ findet Dennetts naturalistische Perspektive nicht nur bar der oft anzutreffenden Aggressivität, sondern auch inhaltlich durchweg ernstzunehmen.


Thomas O. Höllmann
Das alte China
Eine Kulturgeschichte
C.H. Beck Verlag, München 2008, 29,90 Euro



In hohen, wenn nicht höchsten Tönen lobt die Kritik diesen Band. Nicht nur außerordentlich kompetent ist der Autor, sondern vor allem im Zugriff "originell", lobt der NZZ-Rezensent. Die originelle Methdode besteht darin, dass der Sinologe Thomas O. Höllmann sich dem alten China nicht in der Totalen nähert, sondern in Großaufnahmen aufs Kleine. Sechzig Gegenstände und Verhaltensformen, Fakten und Artefakte sind es, die er untersucht, vom "Zähneputzen" zur "Kindersterblichkeit". Die SZ preist die einzigartige Verbindung von Gelehrsamkeit und Erzähltalent und findet auch die Aufmachung des Bandes überaus gelungen.


Ronald D. Gerste
Duell ums Weiße Haus
Amerikanische Präsidentschaftswahlen von George Washington bis 2008
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2008, 19,90 Euro



Gerste erzählt in seinem Buch die Geschichte der amerikansichen Präsidentschaftswahlen seit George Washington. Detlef Junker hat es in der FAZ mit Gewinn gelesen und empfiehlt es als eine äußerst lesenswerte und gut aufgebaute Einführung in die wesentlichen Elemente des viel gescholtenen US-Wahlsystems. Auch die Akteure und manche heute vergessenen Kandidaten würden porträtiert. Gert Raeithel fühlt sich in der SZ auf angenehme Art belehrt und unterhalten. Nebenbei biete das Buch eine "kompakte Geschichte der amerikanischen Innenpolitik".


Hörbuch

Gretel Adorno, Walter Benjamin
Gretel Adorno / Walter Benjamin: Briefwechsel
3 CDs
speak low, Berlin 2008, 22,90 Euro



Durchweg ist in den Rezensionen zu dieser Hörbuch-Version des Briefwechsels von Gretel Adorno und Walter Benjamin von der ganz besonderen "Intimität" die Rede, die sich beim Zuhören vermittelt. Von einem "vernehmlichen Bruch des Briefgeheimnisses" spricht gar die FAZ. Die Intimität habe mit den lebensgefährlichen Zeiten zu tun, in denen die beiden einander schrieben, aber auch mit dem Verhältnis der beiden "zwischen Liebe und Freundschaft" (SZ). Die meisten Kritiker sind der Ansicht, dass die Lesenden Johanna Wokalek und Martin Wuttke ihre Sache hier sehr gut machen, die Zeit empfindet die Lesung "wie ein Zwiegespräch in tiefen Atemzügen". Nur der taz scheint Wokaleks Ton etwas "zu mädchenhaft".


Bildband

Nicolas Bourquin, Sascha Thoma, Ben Wittner (Hrsg.)
Arabesque
Graphic Design from the Arab World and Persia
Die Gestalten Verlag, Berlin / London 2008, 44 Euro



Das Arabische ist nach wie vor in erster Linie eine Schreibschrift. Wie arabische Typografen daran arbeiten, eine überzeugende und schöne Gebrauchstypografie für den Druck zu entwickeln, das ist in diesem Band zu erfahren. Man lernt, so der sehr angetane SZ-Kritiker, außerdem etwas über die Versuche zur "Harmonisierung arabischer und lateinischer Schriften" - was nichts anderes heißt als: über die Mühen der Annäherung des westlichen und des östlichen Kulturraums auf dem Felde der Typografie.