Bücherbrief

Dem Leben unmittelbar abgeschaut

04.09.2022. Giulia Caminito erzählt mit glasklarer Kälte von Klasse und Aufstieg in Rom, Hernan Diaz lehrt uns mit List, nicht nur der Finanzwelt zu misstrauen, Werner Herzog fabuliert hochgradig herzogianisch über ein Leben im Extrem, und Rüdiger von Fritsch zeichnet die bittere Vorgeschichte des russischen Angriffs nach. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats September.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Werner Herzog
Jeder für sich und Gott gegen alle
Erinnerungen
Carl Hanser Verlag. 352 Seiten. 28 Euro

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Am 5. September wird Werner Herzog 80 Jahre alt, über sein Privatleben verriet der bayerische Kinotitan bisher wenig. Nun liegen seine Erinnerungen vor - um ödes Nacherzählen der schönsten Schwänke seiner Jugend geht es Herzog freilich nicht: "Meine Bücher werden meine Filme überdauern", ist er überzeugt und fabuliert hochgradig herzogianisch wie in seinen Filmen - knorrig wie eine alte bayerische Eiche, assoziativ und stets darum bemüht, die Welt aus den Angeln zu heben, freut sich Perlentaucher Thomas Groh, der eine schöne Eichendorff21-Liste mit Titeln von und über Herzog zusammengestellt hat: Der Weg von einer Kuhzitze in Sachrang, dem bayerischen Grenzdörfchen, in dem Herzog in der Nachkriegszeit seine Kindheit verlebte, bis zu einer Lagebesprechung im Hauptquartier der NASA ist daher nicht weit, meint er. Und auch die anderen Kritiker sind hin und weg: In der NZZ scheint Andreas Scheiner Herzog ein wenig dessen Fähigkeit zu staunen zu neiden. Nur wer so staunen kann, kann auch ein solches Buch schreiben, ahnt Scheiner, für den das Buch Abenteuer-, Lebens- und Schaffensgeschichte in einem ist. Ob Herzog von Kinskis Gebrüll im Urwald berichtet, von blutigen Dreharbeiten, von Unfällen mit Schauspielern und Erweckungserlebnissen unter den Sternen - das Drama und das Unglaubliche sind hier dramaturgisch so raffiniert gefasst, dass es unbedingt einnehmend ist, versichert er. Zeit-Kritiker Alexander Cammann versteht das Pathos in Herzogs Filmen besser nach der Lektüre: Was Herzog über seine katholische, wenngleich rohe Jugend, über religiöse Inbrunst im Leben und bei der Arbeit berichtet, vermittelt ihm den Ernst hinter dem Werk. Das Buch aber bietet laut Cammann keine Werkexegese, sondern in 36 kurzen Abschnitten Szenen und Bilder aus einem vollkommen erstaunlichen Leben, versehen mit knappen Reflexionen des Autors. Auch als Lektüre fesselt dieses Leben im Extrem, findet er.

Daniela Dröscher
Lügen über meine Mutter
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 448 Seiten. 24 Euro

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Über die "Bedingtheit durch die soziale Herkunft" schreiben - das kann Daniela Dröscher, versichert Dlf-Kultur-Kritikerin Wiebke Porombka, die sich davon nicht erst seit Dröschers Memoir "Zeige deine Klasse" (Bestellen) überzeugen konnte. Nun folgt die Fiktionalisierung - und Porombka scheut den Vergleich mit Annie Ernaux nicht. Die Autorin erzählt uns hier erneut von ihrer Mutter, die in der rheinlandpfälzischen Provinz der Achtziger von ihrem Mann immer wieder wegen ihres Übergewichts drangsaliert wird: Samstags wird das Gewicht kontrolliert, zur Überwachung durch den Vater kommt bald auch dessen Vorwurf, ihr Gewicht verhindere seine Karriere. Für Porombka ist der Roman eine "unerhörte" Familientragödie und ein Stück wenig bekannte weibliche Sozialgeschichte zugleich, FAZ-Kritikerin Anna Flörchinger ist es eine Tortur, lesen zu müssen, wie Frauen noch vor 30 Jahren dem Patriarchat unterlagen. In der SZ bewundert Johanna Adorjan vor allem die Form des Romans: Die Entscheidung, das Geschehen aus der Perspektive der Sechsjährigen zu schildern und mit Reflexionen der erwachsenen Tochter zu durchbrechen, gibt dem Roman einen besonderen Rhythmus, meint sie. Im Interview mit der taz spricht Dröscher über Klasse, Patriarchat, Emanzipation und ihren Roman. Zu gemischten Urteilen kamen die KritikerInnen nach der Lektüre von Christian Barons zweitem Roman "Schön ist die Nacht" (Bestellen), der die unterschiedlichen Freunde Willy und Horst bei ihren Aufstiegsversuchen im Kaiserslautern der Siebziger begleitet: Zeitlos, aberwitzig und reich an Einblicken in die Arbeiterschicht erschien den Kritikern in Welt und taz der Roman, das kann Baron besser, befanden NZZ und FAZ.


Giulia Caminito
Das Wasser des Sees ist niemals süß
Roman
Klaus Wagenbach Verlag. 320 Seiten. 25 Euro

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Auch in Giulias Caminitos zweitem Roman geht es um Klasse und Aufstieg, aber der Roman ist keine Autofiktion a la Ernaux oder Eribon, sondern schlicht Literatur, und brillante noch dazu, jubiliert Marc Reichwein, der das Buch für die Welt schon zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin besprochen hat. Erzählt wird die Geschichte von Gaia, die in einer sechsköpfigen Familie in einer Sozialwohnung in einem der besseren Viertel Roms aufwächst, der Vater ist querschnittsgelähmt, die Mutter schickt sie aufs Gymnasium. Gaia schafft es bis zur Doktorandin, aber der Weg ist steinig. Exzellent recherchiert - und übersetzt - zeugt der Roman von einer ungeheuren Kraft, besticht durch die "garstige Lebensenergie" seiner nicht zwingend sympathischen Heldin und durch eine Sogkraft, der man sich nicht entziehen kann, fährt der Reichwein fort: "Besser als Ferrante", meint er. Auch FAS-Kritikerin Karen Krüger ist hingerissen: Auch wenn der Roman ihr einiges an Härte zumutet, spürt sie, dass die Schilderungen dem Leben unmittelbar abgeschaut sind. Groß und kraftvoll erscheint ihr der Text auch deswegen, weil Caminito ihre Erzählerin mit einer glasklaren Kälte auf die Verhältnisse blicken lässt. Nach der Lektüre hat sie das Gefühl, den Figuren jederzeit auf der Straße begegnen zu können.

Hernan Diaz
Treue. Roman
Hanser Berlin. 416 Seiten. 26 Euro

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Achtung, der neue Roman von Hernan Diaz ist äußerst raffiniert, warnen fast alle KritikerInnen vor. Die englischsprachige Presse besprach ihn noch begeisterter als die deutsche, aber auch hierzulande gab es viel Lob: Diaz erzählt die Geschichte eines in den 1920er in New York lebenden Finanzkapitalisten und seiner geheimnisvollen, psychisch kranken Frau in vier stilistisch verschiedenen Teilen, aus vier unterschiedlichen, einander teils widersprechenden, teils überschneidenden Perspektiven, schreibt FR-Kritikerin Cornelia Geissler, begeistert, dass der Autor über die Börse schreiben kann ohne zu langweilen. Im Gegenteil: Wie die verschiedenen Sichtweisen die Spannung für die Leserin nach und nach steigern, weil sie auf Bekanntes zu treffen meint, dann auf Widersprüche, bis sie schließlich ahnt, dass Misstrauen geboten ist, findet Geißler stark. Diaz' Sprache ist perfekt, lobt auch Mara Delius in der Welt, findet jedoch vor allem die Form beeindruckend: Immer wieder stelle Diaz die Frage, was vertrauenswürdiger ist, Fakt oder Fiktion, staunt die Kritikerin, die das Buch als "Meta-Kommentar" zur Konstitution von Wirklichkeit liest. Auch für den SZ-Kritiker Felix Stephan ist der Roman ein technisches Meisterwerk, allerdings hätte er sich ein wenig mehr Herzenswärme und Dilettantismus gewünscht. Dlf Kultur-Kritiker Fabian Wolff fehlt es gelegentlich an Authentizität. Einen Roman voller List und Überraschungen, erinnernd an Edith Wharton, Henry James und Thomas Mann, schreibt Michael Gorra in der New York Times. Spiegel-Kritiker Xaver von Cranach freut sich nicht nur auf die Verfilmung, sondern ruft dem ein oder anderen Kritiker zu: Was ist falsch daran, ein Meisterwerk vollbringen zu wollen?

Anna Kim
Geschichte eines Kindes
Roman
Suhrkamp Verlag

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Hymnisch feierten die KritikerInnen Anna Kims bereits vor fünf Jahren erschienenen Roman "Die große Heimkehr" über die Geschichte des Kalten Krieges in Europa. Ihr fünfter Roman hat es nun auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Die in Südkorea geborene und in Deutschland und Österreich aufgewachsene Autorin erzählt uns in zwei Strängen die auf einem wahren Fall beruhende Geschichte über eine Adoption im Amerika der Fünfziger: Die zwanzigjährige Telefonistin Carol Truttmann gibt ihr Kind zur Adoption frei, für die Behörden ein Skandal, denn das Kind ist nicht "weiß". Dieser Teil ist gehalten in Form von sprachlich rassistischen Aktenberichten, im zweiten Teil erzählt Kim von einer österreichischen Autorin mit koreanischen Wurzeln namens Franziska, die zur Untermiete bei der Ehefrau des mittlerweile älteren, im Krankenhaus liegenden Daniel lebt, dem Kind aus den Aktenberichten. FR-Kritiker Martin Oehlen empfiehlt das Buch als komplexen Roman über Identität und Rassismus in der amerikanischen Provinz, zudem lobt er den ruhigen Ton und Kims Vermögen, die Erzählstränge und  Originaldokumente zu verknüpfen. Ein metaphernreicher Roman, der Privates und Politisches miteinander verknüpft, schreibt Anke Dörsam in der taz. Und im Dlf Kultur scheint Carsten Hueck der Roman zwar scharfsinnig und berührend, er bemängelt allerdings ein paar Lücken in den Biografien und die Schwächen in der Konstruktion. Im SWR2 unterhalten sich Katharina Borchardt und Isabella Arcucci über den Roman.


Sachbuch

Daniel Strassberg
Spektakuläre Maschinen
Eine Affektgeschichte der Technik
Matthes und Seitz Berlin. 300 Seiten. 28 Euro

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Daniel Strasser ist Schweizer Psychoanalytiker und Philosoph, und beide Perspektiven vereint er, wenn er in diesem Buch eine Kulturgeschichte der besonderen Art erzählt: Jene der Beziehung zwischen Mensch und Maschine. Und so folgen wir Strasser hier zu mittelalterlichen Kussmaschinen, mechanischen Singvögeln und herabschwebenden Gottheiten auf der Bühne über die Entwicklung der mechanischen Uhr bis in die Gegenwart. taz-Kritiker Matthieu Praun lernt in dem "spannenden" Buch, dass es bei Maschinen nie nur um mechanische Zwecke ging, er erkennt auch, welche Ängste und Hoffnungen im Verhältnis Mensch-Maschine steck(t)en. Die psychologisch-historische Perspektive des Buches hält er für eine seltene Annäherung an das Thema, auch wenn der Autor sich "bewusst" in einer Linie mit französischen Technikphilosophen wie Bruno Latour verortet, wie Praun erkennt. Im Dlf Kultur hält Vera Linß das Buch für äußerst zeitgemäß: Sie denkt an KI und unser Verhältnis dazu, wenn der Autor einen Abriss der Technikgeschichte gibt, Funktionen der Technik Revue passieren lässt, vom bloßen Spektakel über die Nützlichkeit bis zur Zertrümmerung von Weltbildern, und schließlich untersucht, welche Emotionen wir mit der Technik verbinden. Lehrreich und erhellend findet Linß Strassbergs Vorschlag, die Maschine als Spiegel des Menschen zu betrachten.

Rüdiger von Fritsch
Zeitenwende
Putins Krieg und die Folgen
Aufbau Verlag. 176 Seiten. 18 Euro

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Leider ein wichtiges Buch, resümiert SZ-Kritikerin Viola Schlenz nach der Lektüre. Warum? Weil ihr Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Russland, aus eigener Anschauung bittere Wahrheiten über Russland und Putin vermittelt: Klug und klar stelle Fritsch dar, dass Putins Biografie als KGB-Mann prägend für den Kreml-Chef ist, dass russische Regierungen schon immer die Lüge kultivierten und dass der Westen schon immer durch Ignoranz, Unkenntnis und Opportunismus in Bezug auf Russland glänzte. Kenntnisreich und analytisch klar scheint auch FAZ-Rezensent Markus Wehner, wie der Autor die Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine nachzeichnet. Sehr genau beschreibe er, wie sich Wladimir Putins autoritäres Regime innenpolitisch verhärtete und außenpolitisch verschanzte. Dabei zeigt Fritsch, dass der Westen mitnichten Russland gedemütigt hat und etwa auch vor dem Kosovo-Krieg über die UN oder die OSZE Lösungen suchte, die Russland verweigerte, wie Wehner betont. Nicht einverstanden ist der Kritiker allerdings mit Fritschts Schlussfolgerung, dass die Regeln eines diplomatischen und freundlichen Schachspiels nicht dadurch obsolet würden, dass ein Spieler das Brett einfach umwerfe. Im Dlf-Gespräch mit Stephan Detjen erläutert der Autor seinen Ansatz einer "dauerhaft entschlossenen Reaktion des Westens auf Wladimir Putins Aggression, verbunden mit dem Blick auf die Gestaltung einer künftigen Ordnung".

Klaus Bittermann
Der Intellektuelle als Unruhestifter
Wolfgang Pohrt. Eine Biografie
Edition Tiamat. 696 Seiten. 36 Euro

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Wer diese hingebungsvolle Biografie liest - das Buch eines Verehrers, aber bestens dokumentiert und recherchiert -, unternimmt einen Ausflug in tief versunkene Zeiten: Westdeutschland in den späten siebziger und achtziger Jahren. Damals erwarb sich Wolfgang Pohrt einen Ruf als der schärfste Polemiker der Linken, allenfalls sein enger Freund Eike Geisel und sein anderer Freund Henryk Broder konnten ihm das Wasser reichen. Pohrt wurde innerhalb der Zirkel der Linken berühmt für seine Kritik an der Friedensbewegung, in der sich oft allzu unwillkürlich die Positionierungen der Eltern wieder abbildeten. Für Claudius Seidl in der FAS leistet diese Buch aber gerade durch seine Versenkung in den Exotismus der Zeitgeschichte eine Art Archäologie der Gegenwart. Denn der Streit um Israel tobte damals schon unter nur leicht differierenden Etiketten. Die Figur Pohrts sollte die deutsche Öffentlichkeit aber auch zu einer kritischen Selbstbefragung veranlassen, findet Seidl: Wie kann es kommen, dass ein so brillanter Polemiker seinerzeit alles andere als in die Systeme und Apparate integriert war und eine marginale Existenz fristen musste?


Thomas Piketty
Eine kurze Geschichte der Gleichheit
C.H. Beck Verlag. 264 Seiten. 25 Euro

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Der Klappentext verspricht, dass Thomas Piketty die Thesen seiner beiden Wälzer "Das Kapital im 21. Jahrhundert" und "Kapital und Ideologie" in diesem schmalen Band kurzfasst. Und das ist dem französischen Wirtschaftswissenschaftler in seiner Weltgeschichte der sozialen Konflikte in jedem Fall gelungen, versichern die Kritiker. Als Einführung in Pikettys Theorien empfiehlt denn auch Dlf-Kultur-Kritiker Jens Balzer das Buch - und nicht nur das: Das Buch liefere die Munition für den Kampf um Gleichheit, meint er. Pikettys zentrale Frage ist, wie das formal juristische Gleichheitsversprechen in Demokratien auch zu einem sozialen werden kann. Immerhin: Wir sind auf dem Weg dahin, lernt Balzer aus den vielen Statistiken, die Piketty aufbietet. Unsere Welt heute sei sozial gerechter als die um 1950 oder gar um 1900, und das, obwohl der Kapitalismus Reichtum immer neu und selten gerecht umverteilt. Zwei zentrale Wege führen für Piketty zu einer Annäherung an Gleichheit, resümiert der Rezensent: Bildung und die Steuersysteme, die progressiv sein müssten. Weitere Lösungsvorschläge entnimmt im Dlf Martin Huber dem Buch: Reparationszahlungen an von der Kolonisierung geschädigte Länder oder die einmalige Zahlung des Durchschnittsvermögens an alle Bürger*innen. Gegenstimmen zu Pikettys Denken vermisst Hubert im Buch allerdings. taz-Kritiker Stefan Reinecke macht noch zwei andere Leerstellen aus: Ihm fehlt eine analytische Auseinandersetzung mit den Machtverhältnissen; zudem fragt er sich, wie die lange Liste von Pikettys Forderungen eigentlich umsetzbar sein soll. Im WDR5 stellt Günter Kaindlstorfer das Buch vor.

Joachim Hentschel
Dann sind wir Helden
Wie mit Popmusik über die Mauer hinweg deutsche Politik gemacht wurde
Rowohlt Verlag. 416 Seiten. 26 Euro

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Gleich zwei Bände über die Geschichte der Popmusik gibt es zu annoncieren: Der Journalist Joachim Hentschel erzählt uns von der politischen Dimension des Pop im geteilten Deutschland. Welche Rolle IM-Spitzel bei der Produktion des ersten Punk-Albums spielten, welche politischen Ereignisse sich in den Schlagern von Katja Ebstein und Aurora Lacasa niederschlugen und inwiefern die DDR eben kein popkulturellen Mangelland war, zeigt der Autor laut FAZ-Kritiker Philipp Krohn in seiner "quellenstarken" Popgeschichtsschreibung mit zunehmendem "historiografischem Sog" und erstaunlicher Stringenz. Durchgeknallte Fans, Labelbosse, Strippenzieher, Politiker und Rocker aus Ost und West: über all das schreibt Hentschel und erweist sich dabei als raffinierter Erzähler, schreibt, lobt seine SZ-Kollegin Susanne Romanowski. Und auch die Verflechtungen zwischen Profit, Kultur und Politik macht er sichtbar, meint sie, wenn er von Lizenzen, Tantiemen, abgesagten Tourneen von BAP und Udo Lindenberg berichtet, von Karat, Biermann und Katja Ebstein. Auf das Verhältnis von Pop und deutscher Sprache von den 1950er Jahren bis heute blickt indes der Journalist Jens Balzer in seinem Band "Schmalz und Rebellion" (Bestellen). Für einen Genealogen des deutschen Pop hält FR-Kritiker Jens Buchholz den Autor, von dem er lernt: Pop ist spielerische Identitätssuche zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Wie Balzer das anhand von Schlagern von Valente und Ramsey und mittels Bands wie The Lords oder Can, aber auch der Rapperin Nashi44 erläutert, findet Buchholz aufschlussreich. Auch Philipp Krohn lobt in der FAZ, wie Themen des deutschen Schlagers und Popsongs von Caterina Valente und Freddy Quinn bis Kraftwerk und DAF diskursanalytisch, mit Blick auf die gesellschaftlichen Zustände zergliedert. So entsteht laut Krohn eine kommentierte Diskursgeschichte des deutschen Pops, die auch türkische Interpreten und Songs als eigenständige Linie des deutschen Pops ausweist.