Bücherbrief

So schmetterlingshaft schön

10.10.2022. Behzad Karim Khani jagt uns von der Iranischen Revolution ins koksverseuchte Neukölln der Neunziger, Juri Andruchowytsch lässt einen Radiomoderator und Ex-Revolutionär durch die Karpaten fliehen, der am Anschlag auf den "Vorletzten Diktator"  beteiligt gewesen sein soll. Sabine Adler beschreibt das deutsche Versagen in der Russlandpolitik und Giles Milton das Inferno von Smyrna. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Behzad Karim Khani
Hund Wolf Schakal
Roman
Hanser Berlin. 288 Seiten. 24 Euro

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Von dem Vergleich seines Debütromans mit der Serie "4 Blocks" hält der im Teheran geborene und seit 1986 in Berlin lebende Bar-Betreiber und Autor Behzad Karim Khani überhaupt nichts, wie er bei seinem Treffen mit Ronald Düker (Zeit) bekennt: "So stellt sich der Matthias den Abudi vor", winkt er ab. Nein, Khanis Roman ist anders, versichert auch Düker: "fulminant pathetisch, brutal und in seiner Fragilität zugleich so schmetterlingshaft schön". Erzählt wird die Geschichte der Brüder Saam und Nima, die mit ihrem Vater nach der Hinrichtung der Mutter während der Iranischen Revolution nach Berlin fliehen und im Neukölln der Neunziger aufwachsen: Der Vater fährt Taxi, Saam gerät in brutale Straßengangs und beschützt den jüngeren Nima. Wenn Khani hier von Krieg, Gewalt und Männlichkeit erzählt, wird FR-Kritiker Arno Widmann sofort gefangen genommen: Das liegt für ihn vor allem an der schönen musikalischen Strukur des Textes. In der SZ hört Miryam Schellbach deutlich den Gangsta-Rap zwischen den Zeilen. Und wenn Khani sie mit schnellen Cuts, schnellen Autos und scharfen Waffen durchs koksverseuchte Neukölln jagt, radikal und differenziert, verschlägt es ihr den Atem.

Juri Andruchowytsch
Radio Nacht
Roman
Suhrkamp Verlag. 472 Seiten. 26 Euro

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Viel Action verspricht auch der neue Roman des ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch, der seine Leser an der Seite des Pianisten, Radiomoderators und Ex-Revolutionärs Josip Rotsky durch die Karpaten hetzt. Dort ist Rotsky - sein Name spielt an auf Joseph Brodsky, Joseph Roth und Leo Trotzki, wie uns Christian Thomas in der FR verrät - nämlich auf der Flucht, nachdem er der Mithilfe am Anschlag auf den "Vorletzten Diktator" beschuldigt wurde. Thomas fühlt sich wie im "Karneval", wenn der Autor im Verlauf des Romans immer weiter aufdreht, in einer absurden Mischung aus Parodien auf "pseudointellektuelle" Sprüchen, aus Binnen-Theaterstücken, Referenzen auf Edgar Allen Poe, sexuellen Eskapaden und Trash. Eine "gewaltige Persiflage", die nicht zuletzt die Sprache selbst aufs Korn nimmt, meint er. Welt-Kritiker Richard Kämmerlings entdeckt unter der Schicht aus Action, Schelmenroman und Märchen einen dunklen Kern in Juri Andruchowytschs Roman von 2021: In der bewegten Geschichte des gefolterten Helden schimmert immer das Historische durch, die blutigen Revolten in der Ukraine und ihre Folgen, die Andruchowytsch ins Exemplarische wendet, wie der Kritiker bemerkt. Großartig, wie Andruchowytsch Obszönes, Absurdes und Abschweifendes ohne große Beachtung der erzählerischen Logik, dafür zur Freude des Lesers unterhaltsam kombiniert.

Anna Yeliz Schentke
Kangal
Roman
S. Fischer Verlag. 208 Seiten. 21 Euro

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Kürzlich ärgerte sich die Schriftstellerin Anna Yeliz Schentke auf ZeitOnline über die "GoTürkiye"-Plakate in Deutschland, auf denen das türkische Ministerium für Kultur und Tourismus für "unvergessliche Sommer" und "neue Welten" wirbt: "Man muss es vielleicht noch mal in aller Deutlichkeit sagen: Urlaub in einem autoritären Staat generiert Geld für den autoritären Staat." (Unser Resümee) Auch Dilek, die Heldin ihres Debütromans, kritisiert Erdogan im Internet unter dem Decknamen "Kangal" scharf und verlässt nach einer Reihe zerschlagener Demos Istanbul fluchtartig in Richtung Deutschland, wo sie auf besonders Erdogan-treue Anhänger stößt. Zudem ist da ihr Freund Tekin, den sie nicht in ihren Fluchtplan eingeweiht hat, und ihre in Frankfurt lebende Cousine Ayla, die zum Missfallen ihrer Eltern ihren prügelnden Ehemann verlassen hat. Im Dlf Kultur staunt Judith von Sternburg, wie kunstvoll Schentke die Handlungsfäden verwebt - und ganz ohne erhobenen Zeigefinger auf Klischees und Stereotypen hinweist. In der FAZ lobt Fridtjof Küchemann den unaufgeregten, aber dennoch eindringlichen Ton und die plastische Zeichnung der Figuren, die ihm Empfindlichkeiten, Differenzen und Widersprüchliches innerhalb und zwischen den Generationen sichtbar machen. Politisch "brisant" und "auf der Höhe der Zeit" nennt taz-Kritikerin Anke Dörsam das Buch, das sie auch sprachlich überzeugt. Schentke "hat keinen identitätspolitischen Thesenroman, sondern eine in Sprache und Form reflektierte Identitätserkundung geschrieben", urteilt Christoph Schröder auf ZeitOnline über diesen "verblüffend realistischen" Roman.

Abdulrazak Gurnah
Nachleben
Roman
Penguin Verlag. 384 Seiten. 26 Euro

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Erwartbar hymnisch wird der nun auf Deutsch vorliegende, im englischen Original bereits 2020 erschienene Roman des britisch-sansibarischen Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah besprochen. Gern attestieren die KritikerInnen Gurnah immer wieder, er beleuchte die deutsche Kolonialvergangenheit in Ostafrika "aus afrikanischer Perspektive". So auch Adam Soboczynski in der Zeit, der in diesem Roman auch die Frage einer Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus verhandelt sieht. FR-Kritikerin Sylvia Staude erfährt bei der Lektüre ganz ohne "Seelenschau und Poesie", dafür mit angemessener historischer Distanz von Hunger, Tod und Armut, von der Sehnsucht nach Flucht, dem Kampf ums Überleben und von Hass, aber auch Bewunderung für die Kolonialisten. Mit welcher "Nüchternheit" und Schnörkellosigkeit Gurnah die wenig chronologisch erzählten Schicksale von Ilyas, Afiya, Khalifa und Hamza entfaltet und dabei einen eindringlichen Blick in eine wenig aufgearbeitete Vergangenheit ermöglicht, findet Staude bewundernswert. Für Dlf-Kultur-Kritikerin Sigrid Löffler ist Gurnah ein "Meister der Zwischentöne": Wie der Autor mit seiner "verstörend uneindeutigen" Geschichte der Erfahrung von Kolonialismus und Migration eine leise, aber unbeirrbare Stimme gibt, beeindruckt Löffler.

Gayl Jones
Corregidora
Roman
Kanon Verlag. 224 Seiten. 23 Euro

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"Die brutalste, ehrlichste und schmerzhafteste Offenbarung dessen, was in den Seelen schwarzer Männer und Frauen passiert ist und passiert", urteilte James Baldwin über diesen Debütroman der 1949 in Kentucky geborenen Autorin Gayle Jones, der im Jahr 1975 von Toni Morrison entdeckt und veröffentlicht wurde. Nun liegt der Roman in Pieke Biermanns Übersetzung auf Deutsch vor und die KritikerInnen sind dem Kanon-Verlag dankbar. Jones erzählt in ihrem Roman von der Blues-Sängerin Ursa und ihren Traumata, ausgelöst durch einen brasilianischen, sklavenhaltenden Urgroßvater, der durch familiäre Vergewaltigung auch ihr Großvater ist. Für Dlf-Kultur-Kritikerin Lara Sielmann ist das Buch ein bedrohliches, intimes Kammerspiel aus Dialogen, Traumsequenzen und erzählenden Passagen, in dem in jeder Szene nie mehr als zwei Figuren auftreten. Darüber hinaus bewundert sie die so direkte wie unsentimentale Sprache der Autorin. Als "hochpoetischen", schmerzhaften Text empfiehlt Katharina Döbler im RBB-Kultur den Roman. Auch Cornelia Geissler (Berliner Zeitung) verfällt schnell dem Rhythmus des Buchs, das sie nicht nur "bestechend gut geschrieben", sondern auch "brandaktuell" findet. Für The Atlantic hat Calvin Baker die Autorin porträtiert.


Sachbuch

Sabine Adler
Die Ukraine und wir
Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft
Ch. Links Verlag. 248 Seiten. 20 Euro

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Zwei aktuelle Bücher empfiehlt uns - bisher erst - Viola Schenz in der SZ zum Krieg gegen die Ukraine. Zum einen Sabine Adlers Abrechnung mit der deutschen Russland-Politik, die sich Schenz zwar früher gewünscht hätte, aber immerhin helfe Adlers Intervention immer noch gut gegen die sich wieder breit machende "Mitleidsmüdigkeit", meint sie. Wenn die Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks "klug und messerscharf" das "Appeasement" der Sozialdemokraten auseinandernimmt, zudem eine Erinnerungspolitik, die eigentlich nur Russland kenne, aber nicht die anderen Opfer nationalsozialistischer Eroberungs- und Vernichtungspolitik, rechnet die Kritikerin Adler hoch an, wie sie historische Wissenslücken auffüllt und auch an die Verbrechen russischer Politik aus der jüngeren Zeit erinnert. Wichtig erscheint Schenz auch das Buch "Der Killer im Kreml" (bestellen) des britischen Autors John Sweeney, den sie als unerschrockenen und hartnäckigen Journalisten kennt. In seinem aktuellen Buch über Wladimir Putin zeichnet Sweeney den Aufstieg des Geheimdienstlers zum Kremlherrscher nach. Er erinnert die Rezensentin an die Ermordung von Kritikern wie Anna Politkowksja oder Boris Nemzow, an die Anschläge auf die Moskauer Wohnblock, für die Sweeney Putin verantwortlich macht, aber auch an den Abschuss der Boeing MH117 oder die blutig beendete Geiselnahme von Beslan. Sweeney zeichnet ein Bild von Putin in einer Mischung aus "Perfidie und Grausamkeit", schließt sie.

Giles Milton
Das Inferno von Smyrna
Wie der Traum einer Vielvölkerstadt in Flammen aufging
WBG Theiss. 464 Seiten. 38 Euro

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Derzeit kann man lesen, wie die Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland sich in den letzten Wochen verstärkten. Man wirft sich gegenseitig Militarisierung und Verletzung des Luftraums vor: "Die Zwischenfälle ereigneten sich während der türkischen Feiern, die an die entscheidende Schlacht Atatürks im Unabhängigkeitskrieg gegen Griechenland vor hundert Jahren erinnerten", berichtete zum Beispiel die FAZ. Giles Miltons Buch "Das Inferno von Smyrna" hat das Verdienst eines der Urverbrechen des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen, das heute kaum mehr präsent ist. Die Stadt Smyrna war einmal der Traum der Levante: Türken, Griechen, Juden und Armenier lebten hier einträchtig oder auch nicht so einträchtig zusammen und trieben unter dem Schutz der osmanischen Regierung einen blühenden Handel. Aber nach dem Ersten Weltkrieg brannte in dieser Region der Furor der ethnischen Reinigung los, der im Völkermord an den Armeniern, aber auch der Auslöschung der Stadt Smyrna gipfelte. Die Griechen waren in diesem Spiel keine Waisenknaben, schreibt Rezensent Peter Mathews im Perlentaucher, auch nicht die "Schutzmächte" Großbritannien und USA, aber letztlich führte die türkische Rache zu über hunderttausend Toten und zur Auslöschung eines unvergleichlichen kulturellen Reichtums. Bis heute haben die Türken diese "Befreiung Izmirs" nicht aufgearbeitet, die auch einen riesigen Bevölkerungstausch auslöste: 500.000 Muslime wurden aus Griechenland in die Türkei ausgewiesen. 1,3 Millionen Griechen mussten das Gebiet der neuen Türkischen Republik verlassen. Auch FAZ-Redakteur Rainer Hermann bespricht das Buch - dessen Autor übrigens neue Belege dafür findet, dass der Völkermord an den Armeniern von den Jungtürken geplant war - sehr positiv.

Jürgen Habermas
Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik
Suhrkamp Verlag. 108 Seiten. 18 Euro

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Dass ein Autor sechzig Jahre nach einem Buch, mit dem er einst berühmt wurde, eine Art Fortsetzung vorlegt, kommt auch nicht alle Tage vor. Die Öffentlichkeit wandelt demnach weiterhin ihre Struktur. Sie deliberiert zwar munter weiter, aber doch nicht mehr so, wie es der Kommunikationsphilosoph gern hätte. Es handelte sich bei dem Text ursprünglich um einen Zeitschriftenessay, der nun also zu einem Buch ausgebaut wurde, und die Kritik salutierte wie ein Mann (eine Rezensentin war zumindest in den vom Perlentaucher ausgewerteten Medien nicht dabei). Habermas stellt der digitalen Öffentlichkeit die übliche Diagnose: Soziale Medien schön und gut, aber da darf jeder einfach so drauflos diskutieren, das führt nur in Hass und Chaos und ist nicht gut für die Demokratie. Als alles noch kuratiert war, war es Habermas doch lieber. Die Reaktionen sind begeistert - ja, es gehe schlimm bergab mit der Öffentlichkeit seit dem Internet - bis freundlich skeptisch wie etwa bei Arno Widmann in der FR, der bemerkt, dass die Öffentlichkeit noch nie so diskutierte, wie Habermas sie beschrieb.

Peter Demetz
Was wir wiederlesen wollen
Literarische Essays 1960-2010
Wallstein Verlag. 320 Seiten. 32 Euro

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Wer den Lesestoff aus unseren Bücherbriefen schon durch hat, dem empfehlen wir gern die 62 Essays aus den Jahren 1960 bis 2010, die der Wallstein-Verlag unter dem Titel "Was wir wiederlesen wollen" anlässlich des 100. Geburtstages von Peter Demetz zusammengestellt hat. In den literarischen Essays, die der in Prag geborene und in die USA emigrierte Literaturwissenschaftler in fünf Jahrzehnten für Zeit und FAZ verfasste, erkennt FAZ-Kritiker Kai Sina einmal mehr den Sinn des Autors fürs Schwierige sowie den Skeptizismus, mit dem Demetz dem Stil begegnet. Ob er Kafka, Rilke, Fontane oder Portugals Literatur untersucht, die deutsche Literatur oder das tolerante Arbeitsklima in den USA, stets zaubert er beim Formulieren, Denken und Argumentieren, freut sich Sina über die erhellenden und unterhaltsamen Texte. In der Wiener Zeitung empfiehlt Walter Klier den Band.

Jens Balzer
Ethik der Appropriation
Matthes und Seitz Berlin. 87 Seiten. 10 Euro

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Jede Kultur beruht auf Aneignung, derweil werde über Aneignung aber nur noch im "Modus des Verbots" gesprochen, so lautet Jens Balzers These, die er auch im lesenswerten  Gespräch mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung) erörtert. Balzer möchte unterscheiden zwischen einer richtigen - respektvollen - Aneignung und einer falschen - respektlosen - Aneignung, die immer auch das Machtgefälle mitdenkt. Die Kritiker stimmen ihm nicht in jedem Punkt zu, den schmalen Band zum Thema lesen sie dennoch mit Interesse. In der SZ weiß Klaus Walter zu schätzen, dass Balzer die Diskussion um kulturelle Aneignung von einem linken Standpunkt führen möchte. Dass er sich dabei auf einschlägige Verfechter des Hybriden beruft, auf Judith Butler, Paul Gilroy und vor allem Edouard Glissant, gefällt dem Rezensenten gut, schließlich sei beim Pop alles Aneignung, Vermischung, performative Kostümierung. Doch sieht Walter auch, dass Balzers Konzept, gute und böse Aneignung fein säuberlich zu unterscheiden, schnell an seine Grenzen gerät. NZZ-Kritiker Thomas Ribi legt die Stirn in Falten, wenn Balzer den Rechten vorwirft, eine Art Kulturkampf gegen die Linke über das Thema der kulturellen Aneignung initiieren wollen.