Bücherbrief

Von Shakespeare'scher Art

10.01.2022. Dalmon Galgut erzählt mit satirischem Humor vom Ende der Apartheid in Südafrika, Ulf Erdmann Ziegler liefert Einsichten von "Luhmann'scher Dimension" über die SPD, Michel Houellebecq schreibt sich mit "Vernichten" in die Herzen deutscher Literaturkritiker, Joshua Yaffa porträtiert in "bester Reportagekunst" russische Überlebenskünstler und Helmut Böttiger stürzt sich in die wilde Literatur der Siebziger. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Dalmon Galgut
Das Versprechen
Roman
Luchterhand Literaturverlag. 386 Seiten. 24 Euro

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Die KritikerInnen erliegen geschlossen dem Bann dieses Romans, für den der südafrikanische Autor Dalmon Galgut den Booker-Prize erhielt. Das liegt zum einen an der Story: Vor dem Hintergrund der Geschichte Südafrikas erzählt uns der Autor vom Schicksal der weißen Familie Swart, die sich regelmäßig zu Beerdigungen trifft, während im Hintergrund die Apartheid endet und die Präsidenten von Pieter Willem Botha über Nelson Mandela bis zu Jacob Zuma wechseln. Die als erste sterbende Swart-Mutter hatte verfügt, dass die schwarze Haushaltshilfe Salome ein kleines Häuschen auf dem Grundstück der Familie erbt, was sowohl der zurückbleibende Gatte als auch drei der vier Kinder ignorieren. FAZ-Kritikerin Verena Lueken bewundert nicht nur Galguts "satirischen" Humor, sondern auch dessen Vermögen, die Gefühlslagen der Figuren auszuleuchten und selbst Landschaften, Tieren und dem Wetter eine Stimme zu verleihen. Lueken scheut den Vergleich mit J. M. Coetzee nicht. Zeit-Kritiker Adam Soboczynski erkennt eher die erzähltechnische Nähe zu Virginia Woolf oder James Joyce, wenn er in den Strom verschiedener Perspektiven, Gedanken und Gefühle hineingezogen wird. Vor allem aber bewundert er den Mut des Autors, die Geschichte aus Sicht der Unterdrücker, die sich als Opfer verstehen, zu erzählen. Dieser Roman spiegelt das "moralische Dilemma des gesamten Westens" wider, meint er. Und wie Galgut fast nebenbei, dadurch aber umso eindrucksvoller von Entführungen, Gewalt, Rassismus, oder der Bigotterie der Kirche erzählt, findet Dirk Fuhrig im Dlf großartig.

Michel Houellebecq
Vernichten
Roman
DuMont Verlag, 624 Seiten, 28 Euro

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Man staunt ja nicht schlecht über die Kritiken zu Michel Houellebecqs neuem Roman: Vorbei die Zeiten, als ein Großteil der deutschen Kritiker ihn als alten weißen Sack abwatschte, dessen Frauen- und Muslimfeindlichkeit eindeutig und Stil altbacken sei. Diesmal schnurren alle wie die Katze vor der Milch. Das Buch kommt verblüffend gut an. Worum gehts? Um die französischen Präsidentschaftswahlen, mysteriöse Hacker, Superreiche, Welthandel und Zombierechner, mit denen das Jahr 2027 auf den Weltuntergang zuzusteuern scheint. Und mittendrin eine kleine feine Geschichte über eine unglückliche Familie in der Provinz. Dystopisch ist es aber nicht. Nils Minkmar versichert jedenfalls in der SZ, beschwingt und hoffnungsvoll aus der Lektüre aufgetaucht zu sein. In der Welt ist Jan Küveler ganz hingerissen, wie zart Houellebecq Genres und Stile mischt: "Matrix" mit Musset, Spannung mit Empfindsamkeit, Panorama und Detail. Auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg hat sich keine Sekunde gelangweilt, sie verspricht sogar "große" Sex-Szenen. Und in der FAS schwärmt Julia Encke vom so wunderbar wegzulesenden Houellebecqschen Nicht-Stil.

Giulia Corsalini
Die Tschechow-Leserin
Roman
Nonsolo Verlag
. 184 Seiten. 19,90 Euro

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Es sind oft die kleinen Verlage, die die großen Entdeckungen machen. Eine solche könnte Giulia Corsalinis "Die Tschechow-Leserin" sein, wenn wir der Dlf-Kultur-Kritikerin Maike Albath glauben: Denn der Debütroman der italienischen Autorin haut sie in jeder Hinsicht um. Erzählt wird die Geschichte der ukrainischen Literaturwissenschaftlerin Nina, die als Altenpflegerin nach Italien kommt, um ihre Familie finanziell zu unterstützen, bald als Dozentin für Slawistik arbeitet und über Tschechow schreibt und acht Jahre später noch einmal nach Italien zurückkehrt, resümiert die Kritikerin. Den Bezug zu Tschechow erkennt Albath nicht nur inhaltlich: Wie eine Figur aus dessen Erzählungen erscheint ihr Nina, die ihr Leben im Rückblick zu fassen versucht, in "intimistischem Realismus", wie die Rezensentin schreibt. Und doch bleibe alles in einer "Atmosphäre des Ungefähren", ergänzt sie. Nicht zuletzt ist das Buch für sie auch ein eindringliches und unpathetisches Dokument über Migration und die Demütigungen, denen osteuropäische Pflegekräfte nicht nur in der italienischen Klassengesellschaft ausgesetzt sind.




Ulf Erdmann Ziegler
Eine andere Epoche
Roman
Suhrkamp Verlag. 256 Seiten. 24 Euro

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Erst nach und nach, dafür aber umso hymnischer haben die Kritiker den neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler besprochen, der uns zurückführt in die Jahre 2011 bis 2013. Der Rücktritt des damaligen Bundespräsidenten, das Scheitern von Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat oder die Aufdeckung der NSU-Morde spielen im Hintergrund eine Rolle, während Ziegler einer Gruppe SPD-Abgeordneter folgt: Im Mittelpunkt steht Wegman Frost, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Abgeordneten Andi Nair, der das politische Geschehen so genau beobachtet und kommentiert wie die eigenen Befindlichkeiten und die seiner Mitstreiter im Berliner Betrieb. Keine Moralisierung, dafür Einsichten von "Luhmannscher Dimension", verdankt SZ-Kritiker Christoph Bartmann dem Roman. Für den FAZ-Rezensenten Nils Kahlefendt hat es Ziegler mit dem Roman gar nahezu zur Perfektion gebracht: Wie er aus der Perspektive eines "kleinen Rädchens" die Mechanismen und Seilschaften in der Berliner Politik freilegt, Bonner und Berliner Republik "stilistisch brillant" kurzschließt und gleichzeitig souverän abgründige Figuren schafft, findet der Kritiker grandios. Für den NZZ-Rezensenten Paul Jandl gehört der Roman, der in das Räderwerk der Politik aus Kalkül und Psychologie einführt, wie Koeppens "Treibhaus" zu den "wichtigen literarischen Analysen deutscher Machtstrukturen". Großes Lob auch von Ekkehard Knörer in der taz und Jörg Magenau im Dlf.

Andreas Moster
Kleine Paläste
Roman
Arche Verlag. 304 Seiten. 22 Euro

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 Nach der Lektüre dieses Romans möchte der taz-Kritiker Frank Keil dem Alkohol erstmal fern bleiben. Denn wenn ihm Andreas Moster erzählt, wie bei einer nachbarschaftlichen Feier im Jahre 1986 die Dinge aus dem Ruder laufen, schaudert der Rezensent. Nach dem Tod der Mutter kehrt ein Mann zurück in das Dorf, in dem er geboren wurde, um sich um seinen pflegebedürftigen Vater zu kümmern. Das gegenseitige Sich-Beäugen und -Beurteilen in einer so kleinen Gemeinschaft kennt der Autor gut aus seiner Kindheit, wie Keil bei einem Gespräch mit dem Autor erfährt; die Pflege der Eltern sei nicht autofiktional, aber ein drängendes Thema für Moster. Ein "wunderbar erdiger, wohl komponierter" Roman, meint der Kritiker. Und wie der Autor hier die Geister der Toten an den Lebenden herumzerren lässt, scheint Keil gar von Shakespeare'scher Art. In der FAZ kann sich Jan Wiele diese mitunter unheimliche Geschichte über alte Träume und einen Neuanfang auch in England oder anderswo vorstellen. Ein "wuchtiger, ein durchweg beklemmender Roman", schreibt Britta Schmeiß, die den Hamburger Autor für die Welt besucht hat.






Sachbuch

Joshua Yaffa
Die Überlebenskünstler



Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen
Econ Verlag. 560 Seiten. 24,99 Euro

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Der amerikanische Journalist Joshua Yaffa lebt seit zehn Jahren in Moskau und schreibt unter anderem für den New Yorker und die New York Times. In diesem nun auch auf Deutsch erschienenen Buch hat er sieben ganz normale Russen porträtiert und sie zu ihren Strategien im Umgang mit der russischen Regierung befragt. Für die SZ-Kritikerin Renate Nimtz-Köster sind die Porträts "Beispiele bester Reportagekunst": "Farbig", fesselnd und unterlegt mit politisch-historischen Hintergründen berichtet der Autor sowohl von negativer Verschlagenheit als auch von Kompromissfähigkeit im Namen der Menschlichkeit, der Kunst und Kultur, lobt die Rezensentin. Der Filmemacher Konstantin Ernst, der Putin im Staatsfernsehen ins rechte Licht rückt, oder der Priester Pawel Adelheim, der sich an der machtkonformen orthodoxen Kirche reibt, sie bleiben Nimtz-Köster nach der Lektüre lange im Gedächtnis. Als "funkelnde Analyse" lobt Oliver Bullough das Buch im Guardian: Dass Yaffa nicht verurteilt, sondern versucht den Druck der Porträtierten zu verstehen, erachtet er als "Geschenk". Ein kluges, gut recherchiertes und hervorragend geschriebenes Werk, schließt er. Tief bewegt haben die Kritiker auch Oleg Senzows unter dem Titel "Haft" (bestellen) erschienene Lageraufzeichnungen gelesen: Für den FAZ-Kritiker Ulrich Schmid liegt das auch an der kaum bearbeiteten Rauheit des Textes, der die Erfahrungswelt und die Gedanken des ukrainischen Regisseurs und Maidan-Aktivisten "ungefiltert" wiedergebe.

Cyrill Stieger
Die Macht des Ethnischen
Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan
Rotpunktverlag. 224 Seiten. 24 Euro

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Cyrill Stieger war von 1986 bis 2015 Balkankorrespondent der NZZ, für dieses Buch hat er die Orte wieder besucht, über die er während der Kriege berichtete: Er war in Kroatien, Serbien, Bosnien, Kosovo. Gerade jetzt, wo die serbische Teilrepublik der Föderation Bosnien-Herzegowina wieder sehr konkret mit Abspaltung droht, ist das Buch besonders zu empfehlen. In der NZZ lobt Andreas Reich, wie der Autor die Trennung, aber auch das irgendwie doch funktionierende Zusammenleben der Ethnien in seinem Buch anschaulich macht, etwa wenn er über ein Gymnasium schreibt, in dem kroatische und muslimische Schüler zwei eigene Eingänge, eigene Lehrer und natürlich auch eigene Curricula mit ganz eigenen nationalistischen Sichtweisen auf den noch nicht so lange zurückliegenden Krieg haben. Und doch funktioniert das Zusammenleben im Alltag recht gut, lernt der Rezensent, aber die ethnischen Gegensätze lassen sich leicht wieder mobilisieren. Und da sich die EU-Aufnahmeperspektive längst verflüchtigt hat, profitieren nun wieder die Radikalen. Das Buch kann den Europäern wieder zur Annäherung an das Thema dienen, meint der Rezensent. Der FAZ-Kritiker Michael Martens vermisst zwar tiefergehende Antworten auf die weiterhin problematischen Verhältnisse vor Ort, dennoch bietet ihm Stieger aufschlussreiche Ansichten aus Vukovar, Mitrovica und Bosnien-Herzegowina und informatives historisches Hintergrundwissen. Im Dlf-Andruck bespricht Dirk Auer das Buch.

Helmut Böttiger
Die Jahren der wahren Empfindung
Die wilden 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur
Wallstein Verlag. 473 Seiten. 32 Euro

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Was waren das für Zeiten, als Studenten für einen Raubdruck der "Dialektik der Aufklärung" Schlange standen oder in WGs leidenschaftlich über Ich und Emotionen, über Büchner, Bachmann, Braun, Brinkmann oder Born diskutiert wurde, seufzt taz-Kritiker Oliver Pfohlmann. Umso begeisterter stürzt er sich mit Helmut Böttiger noch einmal auf die Literatur der Siebziger. Ein "furioses" Epochenporträt verdankt er dem Literaturkritiker, der für seinen Band etwa Peter Handke interviewte und den Kritiker anregt, mal wieder Böll und Fichte zu lesen. Dass Böttiger auf Zuschreibungen wie "Neue Subjektivität", "Neue Innerlichkeit" oder "Neue Empfindsamkeit" nicht viel gibt, findet der Rezensent begrüßenswert. Für den FAZ-Kritiker Thomas Combrink sind die größte Stärke des Buchs Personenporträts: Sowohl Beziehungen zwischen Autoren (Sarah Kirsch und Christa Wolf, Thomas Bernhard und Siegfried Unseld) als auch die Differenz zwischen Schriftstellerpersona und echtem Menschen zeigt Böttiger anschaulich auf, lobt Combrink. Etwas mehr Beachtung hätte er sich allerdings für Autoren des subjektiven Schreibens wie Paul Nizon oder Friederike Mayröcker gewünscht - bei Böttiger sei die "wahre Empfindung" aus dem Titel eher auf die politisch-öffentliche Sphäre bezogen, meint er. Dass Böttiger Material und Diskurse der Siebziger kreuz und quer durchläuft, ist für den Zeit-Kritiker Hubert Winkels kein Problem: Böttigers genaue Lektüre imponiert ihm - und: "das Verhältnis von Anekdote und Analyse stimmt", schließt er.




Lloyd Spencer Davis
Das geheime Liebesleben der Pinguine
Ein vergessener Polarforscher, ein aufregender Fund und eine erstaunliche Erkenntnis
Deutsche Verlags-Anstalt. 384 Seiten. 24 Euro

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Dass Pinguine schon ziemlich spezielle Vögel sind, ist kein Geheimnis. Aber wer wusste schon, dass Pinguine promiskuitiv leben und Homosexualität pflegen und dass es auch Nekrophilie, Prostitution und Vergewaltigungen unter den Tieren gibt? Der englische Arzt George Murray Levick hatte all das bei seiner Expedition im Jahr 1911 gesehen - und obwohl er nach seiner Rückkehr die erste wissenschaftliche Monografie zu Pinguinen veröffentlichte, unterschlug er das Sexualleben der Pinguine aus Sorge vor den Reaktionen der prüden viktorianischen Gesellschaft. Dies und mehr erfährt Dlf-Kultur-Kritiker Günther Wessel aus dem Buch des neuseeländischen Autors, Filmemachers und Wissenschaftlers Lloyd Spencer Davis. Von den Polarexpeditionen von Scott, Amundsen und Shackleton erzählt ihm Davis ebenso wie von ihren Frauen, dann wieder von Pinguinen oder von eigenen Erlebnissen. Bei der Vielzahl der Orts- und Zeitenwechsel verliert der Kritiker manchmal den Überblick, lehrreich, spannend und unterhaltsam findet er das Buch aber allemal.

C.L.R. James
Die schwarzen Jakobiner
Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution
b-books Verlag. 364 Seiten. 20 Euro

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Es ist dem kleinen Berliner b-books-Verlag zu verdanken, dass dieser Klassiker des trinidadischen Marxisten C. L. R. James über die Revolution von Haiti und ihren großen Anführer Toussaint Louverture wieder auf Deutsch vorliegt. Zwar immer noch in der "obskuren" Übersetzung aus der DDR von 1984, wie Julian Weber in der taz anmerkt, aber sprachlich aktualisiert und um mehrere Essays ergänzt. Der Kritiker liest in dem gründlich recherchierten Werk noch einmal ausführlich von der Sklaverei, der rassistischen Struktur der Kolonialgesellschaft des damals französisch besetzten Haiti, von den Befreiungskämpfen, den Kolonialgeschäften in Frankreich und den internationalen Intrigen. James, der als Trotzkist aus Trinidad lange in den sozialistischen Ländern als Unperson galt (im Westen aber auch), schrieb gegen die Sicht an, dass es sich bei dem Aufstand in Haiti lediglich um ein blutiges Gemetzel gehandelt habe, bei dem kein echter revolutionärer "Weltgeist" wehte. Der packenden und eingängigen Schilderung des Autors verdankt Weber auch, dass er auf den zahlreichen Schauplätzen nie den Überblick verliert.