Bücherbrief

Voll an fremder Welt

07.07.2019. Rachel Kushner erzählt mit immenser Strahlkraft von der Brutalität in kalifornischen Frauengefängnissen, Carys Davies schickt einen Maultierzüchter und einen Indianer auf eine kühn-poetische Tour durch das Pennsylvania des Jahres 1815, Lawrence Osborne verbringt fiebrig-abgründige Sommertage auf der Insel Hydra, und Hans-Jürgen Heinrichs erkundet mit Leichtigkeit das Gefühl der Fremdheit. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Juli.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Carys Davies
West
Roman
Luchterhand Literaturverlag. 208 Seiten. 20 Euro

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Carys Davies hat sich vor allem mit Short Stories einen Namen gemacht - nun legt die britische Autorin einen späten Debütroman vor und die KritikerInnen sind begeistert. Davies nimmt uns mit ins Pennsylvania des Jahres 1815 auf die Spuren eines verwitweten Maultierzüchters, der vom Fund riesiger Knochen liest und sich daraufhin in Begleitung eines kundigen Indianers namens "Alte Frau aus der Fremde" auf die Suche nach den Tieren macht. Seine zehnjährige Tochter Bess bleibt in der Obhut seiner Schwester und mus sich bald den Nachstellungen des aufdringlichen Nachbarn erwehren muss. Eine bizarre Geschichte, deren virtuose Mischung aus realistischem und "verhalten mythischem Tonfall" Dlf-Kultur-Kritiker Rainer Moritz gut gefallen hat. Dlf-Kritikerin Tanya Lieske lobt die Kühnheit und Poesie dieses gegen den Strich gebürsteten Westerns mit einem Don-Quichotte-Wiedergänger. Im Guardian feiert Justine Jordan den dunklen und funkelnden Humor des Romans, Märchenhaftigkeit, Überraschungsreichtum und Unmittelbarkeit attestiert Sarah Gilmartin dem Buch in der Irish Times.

Dag Solstad
T. Singer
Roman
Dörlemann. 280 Seiten. 22 Euro

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Das Gegenteil von Karl-Ove Knausgaard und Tom Espedal, den beiden berühmtesten Vertretern norwegischer Bekenntnisliteratur, scheint der Held dieses Romans von Dag Solstads zu sein, der im Original bereits vor zwanzig Jahren erschien: Jener Singer nämlich ist ein verschämter Bibliothekar, der, streng pietistisch aufgewachsen, am liebsten unbemerkt durchs Leben gehen möchte und selbst nach dem Unfalltod seiner Frau alles daran setzt, die geplante Scheidung zu verheimlichen. Wie Solstad nur winzige Informationen über seinen Helden streut, um ihn davor zu bewahren, vom Leser durchschaut zu werden, findet Dlf-Kultur-Kritiker Michael Opitz faszinierend. Und von der verführerisch-"musikalischen" Sprache dieses Romans ist er ohnehin ganz verzaubert. In der NZZ hebt Aldo Keel vor allem Solstads gelungene Mischung aus "ironischem Abstand und existentiellem Ernst" hervor und in der FAZ kann sich auch Matthias Hannemann dem eigenartigen Sog der "lähmenden Gedankenschleifen" dieses Mannes am Rande des Zusammenbruchs nicht entziehen.

Rachel Kushner
Ich bin ein Schicksal
Roman
Rowohlt. 400 Seiten. 24 Euro

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Die KritikerInnen sprechen derzeit lieber mit Rachel Kushner als über ihren neuen Roman "Ich bin ein Schicksal" - natürlich alle, um zu erfahren, wie es so ist, im amerikanischen Frauengefängis. "Ich habe niemanden erschlagen und sitze auch nicht im Gefängnis", hält Kushner denn auch im Gespräch mit der Berliner Zeitung vorbeugend fest. Aber ihr inzwischen dritter Roman handelt genau davon: Kushner nimmt uns mit auf die Spuren von Romy Hall, einer zu zweimal lebenslänglich verurteilten jungen Frau, die ihren Stalker erschlug und nun, getrennt von ihrem kleinen Sohn, die ganze Brutalität eines kalifornischen Frauengefängnisses kennenlernt. Während Kushner im Spiegel-Interview betont, dass nichts in ihrem Roman erfunden sei, erklärt sie im FAZ-Gespräch den Reiz, ihren neuen Roman im Gefängnis anzusiedeln: "In meinen Augen ist es ein Mikrokosmos der Bourgeoisie und unserer heutigen Welt. Die Brutalität unserer nahen Zukunft lässt sich hier bereits erahnen." NZZ-Kritiker Thomas David offenbart sich in dem Buch denn  auch die ganze Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz, Thoreau und Dostojewski kommen ihm während der Lektüre in den Sinn. Vor allem aber bewundert er, wie Kushner die Gesichter von Menschen hinter Mauern bei allem Leid leuchten lässt.

Jose Eduardo Agualusa
Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer
Roman
C. H. Beck Verlag. 304 Seiten. 22 Euro

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Nur die Radiokritiker haben diesen Roman bisher besprochen, dabei klingt die Geschichte, die uns der angolanische Schriftsteller Jose Eduardo Agualusa erzählt, erfrischend anders: Agualusas Held, ein frisch geschiedener Journalist, besitzt die Fähigkeit, von Menschen zu träumen, die ihm später begegnen, so auch seine große Liebe, eine Künstlerin, die ihrerseits Träume zu Kunst verarbeitet. Aber das ist natürlich längst nicht alles: Im Dlf-Kultur staunt eine hingerissene Sieglinde Geisel darüber, wie der Autor "Politik und Poesie", Realität und Fantasie mixt, von den Bürgerkriegen nach der Unabhängigkeit Angolas erzählt und dabei die funkelnde Oberfläche der Träume seiner Helden immer wieder aufreißt. Virtuos erscheint ihr auch, wie Agualusa mittels Briefen, Tagebüchern und Gesprächen weitere Stimmen zu Wort kommen lässt, die politische Gegenwart Angolas einflicht und mit Spannung und Ironie erzählt. Auch Dlf-Kritikerin Birgit Koß hebt die meisterhafte Verbindung aus Traum und Wirklichkeit hervor und staunt, wie Agualusa trotz der grauenhaften Kriegsepisoden eine Geschichte von "traumhafter Leichtigkeit" erzählt. In der SWR-Mediathek steht ein Beitrag zum Buch online.

Lawrence Osborne
Welch schöne Tiere wir sind
Roman
Piper Verlag. 336 Seiten. 22 Euro

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Lawrence Osborne wurde vor allem durch seine Reise-Reportagen für den New Yorker bekannt. Sein inzwischen zweiter Roman führt uns mit zwei Millionenerbinnen auf die griechische Insel Hydra - klingt also nach perfekter Urlaubslektüre! "Was für eine grandiose Bühne für ein Drama über die Schattenseiten der menschlichen Seele inmitten der endlosen Sommertage!", jubelt denn auch Philipp Haibach in der Welt und erkennt sofort den Hintergrund der Geschichte um die beiden Touristinnen, die einen syrischen Flüchtling aufgrund von Macht, Sex, Geld und Sommerträgheit zu einem Verbrechen anstiften. Es handelt sich natürlich um die Nausikaa-Episode aus Homers "Odyssee", weiß Haibach - und findet: Die Übertragung des Stoffes in die Gegenwart funktioniert. Und wie Osborne in diesem Mix aus Thriller und Roadnovel eine "fiebrige Atmosphäre" schafft und das Urteilsvermögen des Lesers immer wieder herausfordert, findet Haibach "fulminant". In SZ staunt auch Nicolas Freund, wie herrlich langsam Osborne den Ennui der westlichen Eliten in ihren endlosen Sommerferien schildert und dabei fast nebenbei über das hermetische Innen der westlichen Welt philosophiert. Und im Dlf-Kultur bewundert Peter Henning vor allem, wie gnadenlos und mitreißend Osborne die Themen Amoral und Schuld in seinem existenzialistischen Krimi verhandelt.

Sachbuch

Michail Ryklin
Leben, ins Feuer geworfen
Die Generation des Großen Oktobers
Suhrkamp Verlag. 336 Seiten. 25 Euro

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Mit großem Interesse hat FAZ-Rezensentin Kerstin Holm diesen essayistischen Text des russischen Philosophen Michail Ryklin gelesen, der die Stalinzeit mittels zweier Zeitzeugen heranzoomt. Die Kritikerin folgt dem Großvater und Großonkel des Autors, Nikolai und Sergej Tschaplin, zwei "bolschewistischen Fanatikern", die bald von den Tschekisten verhaftet und durch Folter zu falschen Geständnissen gezwungen wurden. Am Ende wurden beide erschossen. NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein nimmt Ryklins Buch zum Anlass für einen breiteren Essay über die mangelnde russische Vergangenheitsbewältigung, gegen die Ryklin aus radikal persönlicher Sicht einen wichtigen Akzent setze. Die Aufarbeitung ist komplizierter als bei den Nazis, so Breitenstein, weil es im Stalinismus eben nicht nur Opfer und Täter gab, sondern sehr oft Menschen, die beides waren. SZ-Kritiker Stephan Wackwitz nimmt aus der Lektüre vor allem mit, dass gerade auch in Putins Russland die Gefahr solcher "Höllenfahrten", wie sie Ryklins Verwandte durchleben mussten, nicht vorüber ist.

Peter Frankopan
Die neuen Seidenstraßen
Gegenwart und Zukunft unserer Welt
Rowohlt. 352 Seiten. 22 Euro.

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In der SZ hat sich Herfried Münkler höchstselbst zu einer essayistischen Besprechung bitten lassen, und er hat dieses Buch, das seinen geopolitischen Neigungen sicher entgegenkommt, mit großen Gewinn gelesen. Die Seidenstraße sei nicht nur eine Handelsroute, sondern ein gigantisches politisches Projekt, so Münkler. Ob eine solche Kontrolle über den Handel - die sich im übrigen nicht auf die Seestraßen bezieht - ausreichen wird, um die Welt politisch zu dominieren, lässt Frankopan laut Münkler offen. Sein Verdienst bestehe darin, die richtigen Fragen zu stellen. "Vor noch nicht allzu langer Zeit bedeutete Globalisierung vor allem, dass westliche Unternehmen in Asien investieren. Heute fließt Geld oft in die andere Richtung", schreibt Alexander Wulfers auf den Wirtschaftsseiten der FAZ. Und zeigt mit einem traurigen Beispiel, wie sich Kalkül und Irrationalität bei den Chinesen verbinden: "Weil in China die Haut von Eseln als alternatives Heilmittel gilt, ist die Nachfrage nach den Tieren stark gestiegen auch andernorts. In Tadschikistan vervierfachte sich der Eselpreis, auch in Afrika stieg er stark an." Wulfers notiert auch, dass der in Oxford lehrende Frankopan die politische Kehrseite dieses Prozesse zwar thematisiert - aber offenbar in britischer Gelassenheit, wenn nicht Indifferenz. Den Europäern rät er, so Wulfers, zu mehr Investition in Forschung. Klingt schon fast, als sei der Zug abgefahren.

Hans-Jürgen Heinrichs
Fremdheit
Geschichten und Geschichte der großen Aufgabe unserer Gegenwart
Antje Kunstmann Verlag. 240 Seiten. 22 Euro

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Der Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs, den Marko Martin im Dlf-Kultur vor allem für seine "einschüchternd klugen Bleiwüsten-Essays in der Zeitschrift Lettre schätzt, erläutert ihm hier überraschend "frei und fluide" und im Rekurs auf Reisende wie Albert Camus, Sigmund Freud, Bruce Chatwin, Hubert Fichte oder Ilija Trojanow, weshalb Fremdheit meist negativkonnotiert ist oder wie sich unterschiedliche Gesellschaften mit diesem universalen Gefühl auseinandersetzen: So liest der Kritiker hier von afrikanische Riten, die in Maskentänzen die Fremdheitserfahrung durchspielen. Dass der Autor das alles ganz unmoralisierend vorträgt, macht den Band für Martin noch inspirierender, auch wenn er sich ein paar weitere Ausführungen zum Thema Antisemitismus und Flüchtlinge oder  Diversity gewünscht hätte. In der Zeit hebt Ronald Düker vor allem die persönlichen, "ebenso aktuellen wie aus der Zeit gefallenen" Anekdoten Heinrichs' hervor: Wenn ihm der Autor eigene Fehltritten in Teheran und Mali bei der Begegnung mit fremden Kulturen schildert, dabei von "Leichtigkeit, Freundschaft, Verführung" erzählt, wo heute immer "frostiger" gesprochen werde, packt Düker die Wehmut. Im MDR-Kultur bespricht Holger Heimann das Buch.

Heinrich Detering
Was heißt hier wir?
Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten
Reclam Verlag. 60 Seiten. 6 Euro

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Als Ergänzung zu Heinrichs empfiehlt sich vielleicht noch dieses Büchlein des Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering. Wenn er den feuchten Traum der Rechten vom "Wir" durch Nachfragen zerplatzen lässt, muss SZ-Kritiker Jens Bisky jedenfalls schmunzeln.  Der Band, der auf einen Vortrag zurückgeht, den Detering auf Einladung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken im November 2018 hielt, ist laut Bisky zudem ein "Muster an Sprachkritik": Wenn der Autor hier das provokante Gerede von AfDlern wie Gauland, Höcke und von Storch genüsslich mit bloßer Vernunft und literaturwissenschaftlichen Mitteln aufspießt, dreht und wendet, bis der ganze Unsinn ihrer Selbstermächtigungsversuche deutlich wird, kann Bisky nur heftig zustimmend nicken. In der FR schrieb Heinrich Detering dazu einen Gastbeitrag zur Rhetorik der Rechten und im Interview mit der Berliner Zeitung spricht der Autor über deutsche Kultur. Sehr gut besprochen wurde auch Klaus Bringmanns "Das Volk regiert sich selbst " (Bestellen): Verleiht der aktuellen Demokratiedebatte Tiefe, meint Michael Sommer in der FAZ.

Friederike Hausmann
Lucrezia Borgia
Glanz und Gewalt
C.H. Beck. 320 Seiten. 24,95 Euro

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Es ist nicht die einzige Biografie, die zum 500. Todestag der Lucrezia Borgia erschienen ist, aber - wenn man NZZ-Kritiker Wolfgang Hellmich glauben schenkt - offenbar die empfehlenswerteste: Friederike Hausmann ist Historikerin und Altphilologin und macht sich in ihrer Borgia-Biografie mit viel Feingefühl daran, mit den Mythen um die Herzogin von Ferrara, unehelichen Papsttochter und vermeintlichen Giftmörderin, die dreimal zwangsverheiratet wurde und im Alter von 39 Jahren bereits acht Kinder zur Welt gebracht hatte, aufzuräumen: Wer Papst Alexander VI. schaden wollte, schoss gegen seine Tochter, informiert Hausmann. Hellmich liest hier etwa, dass Giovanni Sforza, dessen Ehe mit Lucrezia wegen seiner Impotenz geschieden wurde, offenbar den Inzestvorwurf in die Welt setzte. Dass die Autorin die Herzogin dennoch nicht "reinwäscht", rechnet ihr Hellmich hoch an. Nicht zuletzt entnimmt er dieser an historischem Kontext reichen Biografie auch neue Erkenntnisse über Lucrezias sozial-, kulturpolitisches und privates Engagement. Im Dlf-Kultur spricht Hausmann über Lucrezia Borgia.