Efeu - Die Kulturrundschau

Aus der untersten Grabkammer

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2017. Zwei Ausstellungen würdigen zwei große Schweizer Fotografen: Robert Frank und Jakob Tuggener. Das Weltmuseum Wien hat eröffnet, der Tagesspiegel war dabei. taz und Welt verstehen den Salafismus auch im neuen ZDF-Mehrteiler "Bruder - Schwarze Macht" nicht. Dürfen "weiße" Autoren überhaupt über Muslime schreiben, fragt die Welt. Die neue musikzeitung versinkt beim Luther-Oratorium in Halle in einer weichen Decke von Klängen. Die SZ feiert Grace Jones. Alle trauern um Silvia Bovenschen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.10.2017 finden Sie hier

Kunst


Mexiko, Azteken, frühes 16. Jahrhundert, Federn von Quetzal, Kotinga, Weltmuseum Wien

Mittwoch abend eröffnete das neue Weltmuseum in Wien. Im Tagesspiegel ist Rüdiger Schaper beeindruckt - und ermuntert die von den Debatten ums Humboldt Forum ermüdeten Berliner, nicht aufzugeben: " Es wäre falsch, Wiens Weltmuseum als kleines Humboldt Forum zu betrachten. Aber einige Linien zeichnen sich ab: eine gediegene Präsentation der Objekte, die die Tradition der Kunstkammer nicht verleugnet, der Einsatz digitaler, interaktiver Elemente und die Einrichtung von 'diskursiven Räumen'. Diese sind in Weiß gehalten und drehen sich um Migration und Raubkunst und, speziell hier, um Rassismus in der Wiener Ethnologie. Museumsgeburten sind schwer. Museen sind sehr alte Eltern, mit einer Vergangenheit, der sie sich, zumal in Deutschland, spät stellen. Wenn der Berliner Kompetenzwirrwarr sich sortiert, wenn die Museumsbürokratie es zulässt, wenn, wie man bei Applebaum im Fall von Wien sagt, ein 'starker Klient' am Werk ist, dann kann es auch mit dem Humboldt Forum etwas werden."

"Ein Haus zum touristischen Schnelldurchlauf ist das Weltmuseum nicht geworden. Gut so", lobt in der Berliner Zeitung auch Nikolaus Bernau, der sich höchstens noch spiegelungsfreie Glasvitrinen gewünscht hätte. Kathrin Heinrich berichtet im Standard von der Eröffnungsfeier, die Andre Heller inszeniert hatte.


Robert Frank, 14th Street White Tower - New York City 1948. Robert Frank, © Sammlung Fotostiftung Schweiz

Anne Katrin Feßler hat für den Standard in der Wiener Albertina die Robert-Frank-Ausstellung besucht, die - anders als kürzlich in Salzburg - Original-Prints zeigt: "Die Ausstellung in Wien führt nicht nur bis in Jetzt, sondern setzt auch lange vor 'The Americans' an, zeigt - in Kontaktabzügen - bereits Fotos aus den Anfängen des 1924 in Zürich Geborenen. Schon in diesen Bildern von Land und Leuten wird Franks Handschrift ersichtlich: das extreme Anschneiden der Szenen, die die Dynamik der Narration steigern, aber auch der tiefe Aufnahmewinkel. Franks charakteristischer Hüftschuss - also Fotografieren ohne großes Fokussieren - entwickelte sich aber erst nach der Emigration in die USA 1947: Alexey Brodovitch, der ihm als Artdirector von Harper's Bazaar mit Fotoaufträgen das Überleben sicherte, empfahl Frank eine 35-mm-Leica. Erst mit der Kleinbildkamera wurden die spontanen, oft unbemerkten Aufnahmen möglich. So gelang es, den ungeschönten, unverstellten Blick der Leute einzufangen."


Bild links: Jakob Tuggener, Arbeit im Kessel, 1935. © Jakob Tuggener-Stiftung. Bild rechts: Jakob Tuggener, Werkzeugmaschinenfabrik Tornos, Moutier, 1942. © Jakob Tuggener-Stiftung

Der Schweizer Fotograf Jakob Tuggener (1904-1988) liebte in den zwanziger Jahren seine Leica und das neue Maschinenzeitalter. Im Zweiten Weltkrieg kühlte sich seine Begeisterung dann ab, "doch wer Robert Frank sagt und eine ähnliche Künstlerseele vor der Zeit meint, muss auch Tuggener denken. Franks Amerika-Bild und Tuggeners spätes Maschinen-Bild sind skeptische Zeitzeugenschaft ethischer und moralischer Dimension", schreibt in der NZZ Daniele Muscionico anlässlich der Ausstellung "Maschinenzeit" in der Fotostiftung Schweiz, in der offenbar erstmals auch bisher unbekannte Bilder aus dem Nachlass gezeigt werden.

Weiteres: Maria Becker schickt für den Tagesspiegel eine Vorschau auf die Ausstellung des Kunst-Legats Cornelius Gurlitt in Bern. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Hinter der Maske. Künstler in der DDR" im Potsamer Museum Barberini (Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und ein Band über die Fotografin Yolla Niclas (taz).
Archiv: Kunst

Film


Sibel (Sibel Kekilli) und ihr Bruder Melih (Yasin Boynuince). Foto: ZDF/Sandra Hoever

Im ZDFneo-Mehrteiler "Bruder - Schwarze Macht" spielt Sibel Kekili eine Polizistin mit türkischem Familienhintergrund, deren Bruder sich in den Fängen von Salafisten zu radikalisieren beginnt. Solide produzierte Hausmannskost, bescheinigt Sven Sakowitz der Produktion in der taz, doch "als Diskussionsangebot zum Thema Salafismus eignet sich die Produktion weniger." Die wichtigen Fragen bleiben unterbeleuchtet, meint er: "Wie geht die Indoktrinierung vonstatten? Welches Sinn- und Regelsystem verinnerlichen die Jugendlichen? Wie verändert sich bei diesem Prozess ihre Persönlichkeit?"

Auch Welt-Kritikerin Barbara Möller freut sich an der guten Inszenierung, findet es schlussendlich aber "ziemlich ärgerlich", wie die Mini-Serie den sich radikalisierenden Bruder charakterisiert: "Wir sollen diesen Melih verstehen, der anders aussieht als die meisten anderen in Hamburg-Wilhelmsburg, der sich als 'Kanake' fühlt, obwohl er mit seinen zwei Pässen und einem Zugang zur Universität durchaus privilegiert ist. Dem es aber in seinem Selbstmitleid völlig an Selbstkritik fehlt."

Besprochen werden Michael Glawoggers postum fertiggestellter Essayfilm "Untitled" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Sonja Maria Kröners im deutschen Sommer 1976 angesiedeltes Garten-Kammerstück "Sommerhäuser" (Welt, Tagesspiegel), die HBO-Serie "The Deuce" über die Anfänge der Pornoindustrie im New York der 70er (NZZ), das Biopic "Maudie" über die Künstlerin Maud Lewis mit Sally Hawinks und Ethan Hawke (Tagesspiegel) und das Biopic "Django" über Django Reinhardt (SZ, Tagesspiegel, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Literatur

Roman Bucheli (NZZ) und Rose-Maria Gropp (FAZ) schreiben zum Tod von Silvia Bovenschen. Gropp erinnert sich: "'Über-Empfindlichkeit - Spielformen der Idiosynkrasie' heißt der umwerfende Essayband von ihr aus dem Jahr 2000. Mit Selbstironie, dem Ernst der seit Jahrzehnten praktizierenden Hypersensiblen und ihrer feinen Melancholie spürt sie darin diversen Angewohnheiten und auch Lastern nach. 'Zigaretten holen - Ein Exkurs über Idiosynkrasie und Flucht' heißt einer der Texte. Zum Rauchen hat sie sich stets bekannt." Im Deutschlandfunk spricht Thomas Meinecke über die Schriftstellerin und Essayistin, die sich im letzten Jahr auch an unserem Dossier zum 70. Geburtstag von Arno Widmann mit einem Geburtstagsgruß beteiligt hatte.

In einem Gespräch, das das philomag wiederveröffentlicht, spricht sie sehr schön über den Kult der Empfindsamkeit um 1800, der auch ein Kult der Freundschaft war: "Das ist ein Kuriosum der Kulturgeschichte. Die haben geschrieben, wie sie schluchzend zu Boden gesunken sind, wenn sie verlassen wurden, und den Freund als Geliebten angeredet. Wenn man die Briefe liest, könnte man meinen, die seien alle epidemisch schwul geworden. Sie haben die gleichen Formulierungen wie in ihren Liebesbriefen verwendet. Für eine kurze Phase haben sich Liebe und Freundschaft eine Sprache geteilt. Das wurde aber bald denunziert und lächerlich gemacht."

Iris Alanyali berichtet in der Welt von jüngsten Wallungen in der amerikanischen Literaturszene: Laura Moriartys in einer dystopischen USA der Zukunft angesiedelter Roman "American Heart", in dem sich ein weißes Mädchen dazu entschließt, einem muslimischen Mädchen zur Seite zu stehen, zog dort heftige Kritik in den sozialen Medien auf sich. Deren Wortführer sehen darin "eine Weiterschreibe der verhassten 'white saviour'-Erzählung". Ein Branchenblatt, das das Buch positiv besprochen hat, wehrt sich nun gegen den Shitstorm mit dem Verweis darauf, Bücher mit sensiblen Themen in der Regel von Leuten mit diesbezüglich eigenen Erfahrungswerten rezensieren zu lassen. Alanyalis Fazit dazu: "Die vor allem in akademischen Kreisen um sich greifende Hypersensibilität gegenüber Mikroaggressoren sorgt für das Gegenteil dessen, was diese eigentlich verteidigen sollten: Kreativität, Gedanken- und Redefreiheit. Und dafür, dass ein Literaturmagazin Büchern Rezensenten zuordnet wie eine Partnervermittlungsagentur."

Weiteres: Im Bayerischen Rundfunk spricht Christine Grimm mit Schriftsteller Frank Witzel über dessen neues, hier online gestelltes Hörspiel "Die apokalyptische Glühbirne".

Besprochen werden die Benjamin/Brecht-Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin (Berliner Zeitung) sowie unter anderem Yael Inokais "Mahlstrom" (NZZ), Frank Witzels "Direkt danach und kurz davor" (SZ), Norbert Horsts Krimi "Kaltes Land" (Welt) und Jean-Marie Blas de Roblès "Der Mitternachtsberg" (FR).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Bühne

"Es gibt viel Nachdenken über Martin L. im Musiktheater", schreibt Roland H. Dippel in der neuen musikzeitung anlässlich der Uraufführung des "Luther"-Oratoriums von Christoph Hein (Text) und Oscar Strasnoy (Musik) in Halle. Eigentlich ein schönes Stück, meint er, aber etwas mehr Probenzeit wäre gut gewesen: "Opernkapellmeister Michael Wendeberg hatte die ehrenvolle und dabei schwierige Aufgabe dieser Uraufführung. Er tut das einzig Richtige und setzt auf die außerordentliche Qualität von Oscar Strasnoys Instrumentation: Jeder Perspektivenwechsel, auch innerhalb der Szenen, hat im Fluss ein anderes Flair. Keine Klanggruppe dominiert über längere Einheiten. Solistisch Instrumente gehen immer wieder neuartig glasierende, weiche Bindungen ein, mit denen Strasnoy sein Opernoratorium letztlich doch vor der Monumentalität schützen kann. Ein weiche Decke von Klängen gegen den kantigen Repräsentationsanlass. Die Staatskapelle Halle will ihm dabei nur bedingt folgen, aber das täuscht vielleicht."

Weiteres: Die nachtkritik veröffentlicht die Hamburger Poetikvorlesung des Dramatikers Wolfram Lotz. Besprochen werden Melanie Jame Wolfs Performance "Highness" in den Berliner Sophiensälen (nachtkritik), das Musical "Karl Marx: Das Kapital" des Vereins Freies Musiktheater im Fabriktheater Zürich (NZZ), 
Archiv: Bühne

Musik

Sensationell findet SZ-Kritiker Jan Kedves Sophie Fiennes' filmisches Porträt "Bloodlight and Bami" über die Musikerin Grace Jones, das gerade in London präsentiert wurde: In dem Dokumentarfilm reist die Filmemacherin mit Jones in deren Heimat Jamaika und begegnet dort deren alten Weggefährten, aber auch ihrer "hochreligiösen Familie": Dabei lerne man eine völlig andere Jones kennen als jene "Grimassen schneidende New Wave Queen, die sich nur von Schampus, Austern und muskulösen Männern ernährt, die in Talkshows die Moderatoren verprügelt und in zackigen Issey-Miyake-Kostümen immer aussieht wie Besuch aus dem All. ... Es gab keine Produktionsfirma, kein Skript, keinen Vertrieb. Die Dreharbeiten dauerten über zehn Jahre. Das Ergebnis ist eine wunderbare Meditation über das Popstar-Leben, ohne Off-Kommentare und die üblichen Zeitzeugen." Beim Toronto Filmfestival gab es ein Q&A zum Film mit Fiennes und Jones:



Auf seinem neuen, in guter Punk-Tradition "Alle gegen Alle" betitelten Album disst das Berliner HipHop-Duo Zugezogen Maskulin so ziemlich alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist. Woran liegt's, wollte taz-ler Lars Fleischmann im Gespräch herausfinden. "Es ist wichtig, klarzustellen, dass wir nicht einfach so Chia-Samen-Esser oder Craft-Bier-Trinker attackieren", sagt dazu grim104. Ihn "stört aber die Idee von moralisch gutem Konsum. Der dient zur Abgrenzung gegenüber dem ungebildeten Plebs. Nicht der Chia-Granola-Bowl für 15 Euro ist das Problem, sondern die Bowl als Symptom einer Gesellschaft, die zwischen Menschen auf der Gewinnerseite unterscheidet und 'der anderen Seite'. Darauf hacken wir rum." Hier ein aktuelles Video:



Julian Weber spricht mit John Maus über dessen Comeback-Album "Screen Memories": "Eine Art Nouveau Gothic Synthpop kennzeichnet den Sound", erklärt der taz-Popkritiker, "gekrönt von John Maus' ultrasonorer Stimme, die aus der untersten Grabkammer nach oben nebelt, verfremdet von viel Hall. 'Ich setze Halleffekte wie Hustenlöser ein, sie lockern meine Stimmbänder, geben der Stimme mehr Hoffnung. Und sie statten meine Stimme auch mit ein bisschen mehr Gewicht aus. In den USA glauben die Fans dadurch stets trockenen teutonischen Humor zu hören.'" Daraus eine Hörprobe:



Weiteres: In der taz spricht Thomas Winkler mit Gisbert zu Knyphausen über dessen (in der Freitags-Popkolumne auf ZeitOnline besprochenen) musikalischen Neuanfang, nachdem sein musikalischer Partner Nils Koppruch vor wenigen Jahren überraschend gestorben ist.

Besprochen werden Julien Bakers "Turn out the Lights" (Pitchfork), ein Dvořák-Konzert der Tschechischen Philharmonie in Zürich (NZZ), das neue Album von Courtney Barnett und Kurt Vile (SZ), Bruce Springsteens aktuelles Broadway-Programm (Standard), der Auftakt des 48. Deutschen Jazzfestivals mit der hr-Bigband (FR), ein Konzert des Pianisten David Fray (FR) und ein Frankfurter Konzert von Thomas Hengelbrock, Klaus Maria Brandauer und Katharina Konradi mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester (FR).
Archiv: Musik